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Ex-Verfassungsrichter: Weitere parlamentarische Prüfung des ESM möglich

Die Aufweichung des Stabilitätsmechanismus ESM beim jüngsten EU-Gipfel könnte eine weitere Prüfung durch den Bundestag notwendig machen, sagt der Staatsrechtler Udo di Fabio. Auch eine Vergemeinschaftung der Schulden hält er für nicht machbar - ein europäischer Haushalt für alle Mitgliedsstaaten sei eine "abenteuerliche Vorstellung".

02.07.2012
    Jürgen Liminski: Welches Europa soll es sein, das der Banken oder das der Bürger, ein freiheitliches-föderatives, oder mit Subsidiarität, oder ein zentralistisch gelenktes mit Fiskal- und Schuldenunion, ein Europa der Vielfalt, oder ein Europa der Technokraten? Solche Fragen stehen seit einigen Wochen wieder im Raum des öffentlichen Diskurses und haben durch den Schritt von Brüssel in Richtung Schuldenunion Auftrieb bekommen. Und diese Fragen liegen auch den Verfassungsbeschwerden zugrunde, die seit Freitagnacht in Karlsruhe anhängig sind, das Verfassungsgericht wird über die Einzelfragen befinden. Die allgemeineren Fragen kann man aber jetzt schon erörtern, und das wollen wir nun tun mit dem Staatsrechtler und bis vor Kurzem auch Verfassungsrichter Professor Udo di Fabio. Er war der Berichterstatter beim Lissabon-Urteil und ihn begrüße ich nun am Telefon. Guten Morgen, Herr di Fabio.

    Udo di Fabio: Guten Morgen, Herr Liminski.

    Liminski: Herr di Fabio, es liegt wohl im Interesse der Südstaaten der EU, einen Haftungsautomatismus zu entwickeln, bei dem nicht nur die deutsche Bonität auf der Waagschale liegt, sondern auch ein Teil der Souveränität. Muss immer alles im Einzelfall betrachtet werden, oder gibt es eine rote Linie, bei deren Überschreiten man sagen kann, jetzt ist die Souveränität perdu?

    di Fabio: Die europäische Entwicklung zwingt Juristen immer stärker dazu, beides in den Blick zu nehmen, also den Einzelfall genau zu betrachten und rote Linien der Verfassung insbesondere aus dem Demokratieprinzip in den Blick zu nehmen.

    Liminski: Lässt sich das denn irgendwie beziffern, ab welcher Summe etwa die Souveränität berührt ist oder welche Summe von wem verantwortbar ist?

    di Fabio: Das Bundesverfassungsgericht hat im September des vergangenen Jahres zur Griechenland-Hilfe und zum vorläufigen Stabilitätsmechanismus Kriterien benannt, und wie immer, wenn Juristen versuchen, solche Maßstäbe aus allgemeinen Grundsätzen wie dem Demokratieprinzip zu entwickeln, klingt das dann wiederum zwar etwas konkreter, aber immer noch allgemein; und diese allgemeinen Aussagen sind, es darf kein Automatismus entstehen, der den Bundestag zum Nachvollzug in haushaltspolitischen Entscheidungen zwingt. Das bedeutet, wir können nicht europäisch mit Mehrheit über Einnahmen und Ausgaben und auch nicht über Bürgschaften für die Bundesrepublik Deutschland für die Bundesebene entscheiden. Das ist das eine und das bedeutet, dass der Bundestag jeweils das, was haushaltswirksam ist, was also zu höheren Ausgaben oder zu Einnahmenverlusten führt, das muss der Bundestag konstitutiv, wie das Gericht gesagt hat, entscheiden, sonst ist das Demokratieprinzip nicht gewahrt. Und da muss man jetzt auch die Frage stellen, bis zu welcher Höhe kann denn ein Parlament überhaupt Haftungen übernehmen. Das waren damals, also im September des letzten Jahres, Beträge, die man noch für verantwortbar gehalten hat.

    Liminski: Und die Beträge, die jetzt im Raum stehen?

    di Fabio: Die Beträge, die jetzt im Raum stehen, die müssten erst einmal näher beziffert werden. Nur muss man sich vor Augen halten: Es geht in der Tat darum, die Bonität der Bundesrepublik für andere Staaten in Europa, Mitglieder des Währungsraums, zu nutzen. Das ist durch die europäischen Verträge an sich untersagt und ist auch mit dem Demokratieprinzip in einer gewissen Spannungslage. Wissen Sie, Europa fußt ja darauf, eine gemeinsame Währung zu haben und gleichzeitig die haushaltspolitische Eigenverantwortung der Mitgliedsstaaten und damit auch ihr eigenes Haftungsrisiko zu erhalten. Manche sagen, das ist ein Geburtsfehler, eine Asymmetrie, aber ich glaube, das stimmt nicht, denn die Eigenverantwortung ist notwendig, damit eine gemeinsame Währung gelingen kann. Das heißt, jeder Staat muss für sich um seine Bonität kämpfen. Das heißt aber nicht, dass man im Einzelfall, wenn es zu Störungen an den Anleihemärkten kommt, nicht doch etwas tun kann und etwas tun muss, was wir dann mit Solidarität betiteln. Aber dabei müssen eben Grenzen eingehalten werden und das Gericht, das Verfassungsgericht, wird prüfen, ob diese Grenzen eingehalten sind.

    Liminski: In Karlsruhe sind nun Beschwerden gegen die Gesetze zum Fiskalpakt und zum neuen Euro-Stabilitätsmechanismus anhängig. Aber diese Gesetze sind ja schon wieder obsolet, denn die Beschlüsse von Brüssel gehen über sie hinaus. Müssen die neuen Beschlüsse nicht auch noch vom Parlament abgesegnet werden? Da geht es ja um neue Zugriffsmöglichkeiten, also potenziell um noch mehr Geld.

    di Fabio: Ja, das Problem ist, dass die Beschlüsse, die von Bundestag und Bundesrat in der vergangenen Woche gefasst worden sind, dass die durch die unmittelbar vorangehenden Gipfelbeschlüsse eine Fortentwicklung erfahren haben, die doch den Charakter möglicherweise des ESM verändern – verändern insofern, als dass auch der dauerhafte Stabilitätsmechanismus, der ESM, ja eine strikte Konditionalität voraussieht. Das heißt: Staaten, die unter den Rettungsschirm flüchten, müssen Auflagen erfüllen, sie müssen sich dem Trio der Prüfer, Internationaler Währungsfonds, Kommission und EZB, unterwerfen. Und der Schritt, der jetzt gegangen worden ist, geht wohl dahin, dass sie das nicht tun müssen, und das ist eine gravierende Veränderung. Juristisch wird man aber unterscheiden müssen, worüber entscheidet das Gericht jetzt. Es entscheidet über den ESM, so wie er im Stabilitätspakt vereinbart worden ist. Was danach kommt an konkreter Ausgestaltung, auch was Haftungsumfang angeht, und eben auch diese Frage der Konditionalität, welche Kontrolle behält man eigentlich über die Gelder, die durch den ESM zur Verfügung gestellt werden, das müsste man dann eventuell gesondert betrachten und auch im gesonderten Verfahren überprüfen.

    Liminski: Um das zusammenzufassen: Die neuen Beschlüsse von Brüssel müssen noch mal durchs Parlament?

    di Fabio: Ob sie es müssen, das hängt davon ab, wie sie umgesetzt werden, die neuen Beschlüsse. Ich würde sagen, nach dem, was im Augenblick vorliegt, hat das eine hohe Plausibilität, dass es durchs Parlament muss, und das ist ja auch politisch so angekündigt worden.

    Liminski: Stellt sich ja ganz allgemein die Frage: Ab wann sind neue Beschlüsse des Parlaments erforderlich, in wessen Ermessen liegt das überhaupt und geben die Europaverträge da Leitlinien vor, oder ist ihnen eine rote Linie überhaupt zu entnehmen, oder hängen wir da so völlig in der Luft?

    di Fabio: Die europäischen Verträge und das Grundgesetz sind im Grunde genommen im Gleichlauf. Die Parlamente müssen über haushaltsbedeutsame Fragen entscheiden, das ist sozusagen ihre Kernkompetenz und das wird man auch europäisch nicht vergemeinschaften können, denn die Vorstellung, man würde einen europäischen Haushalt für alle Mitgliedsstaaten machen, ist, glaube ich, eine recht abenteuerliche Vorstellung. Die Übertragung von Hoheitsrechten in diesem Punkt – über Außenpolitik oder so etwas, da kann man mit Fug und Recht gut drüber nachdenken, aber wenn Sie anfangen wollen, die Haushaltspolitik zu vergemeinschaften, dann muss man daran erinnern: So ist noch nie ein Bundesstaat zustande gekommen, dass man zur Lösung von Schuldenproblemen einen Staat gegründet hat. Im Gegenteil! Staaten sind häufig zustande gekommen, weil sie nicht wollten, dass Fremdherrschaft über Einnahmen und Ausgaben entscheidet. Schauen wir uns die Vereinigten Staaten von Amerika an, wie sind sie entstanden – doch nicht, weil man die Bonität Anderer für sich haben wollte. Deshalb haben die Staaten sich doch nicht zusammengeschlossen, sondern sie wollten keine Fremdherrschaft in Haushaltssachen mehr durch die englische Krone haben. Heute in Europa läuft das ja geradezu umgekehrt. Unter solchen Bedingungen gründet man keinen Staat; man gründet einen Staat, um Freiheiten zu sichern, nicht um Schulden zu vergemeinschaften.

    Liminski: In letzter Zeit, Herr di Fabio, ist über die Frage nach einer neuen Verfassung, einem neuen Grundgesetz diskutiert worden, das noch europatauglicher wäre, und aus der Politik kam die Idee, darüber sollte dann in einer Volksabstimmung entschieden werden. Ist diese Volksabstimmung nötig?

    di Fabio: Also wenn der verfassungsändernde Gesetzgeber Plebiszite ganz allgemein einführen will, dann konnte er das schon immer tun. Das Grundgesetz spricht davon, dass das Volk in Wahlen und Abstimmungen seinen Willen artikuliert. Die Abstimmungen wären dann die Volksabstimmungen. Wenn man das ins Grundgesetz einfügt, stünden dem keine unüberwindlichen Hindernisse entgegen. Das Bundesverfassungsgericht hat von der Notwendigkeit einer Volksabstimmung nur für einen absoluten Grenzfall gesprochen, nämlich für den Grenzfall, dass Deutschland unwiderruflich seine völkerrechtliche Souveränität aufgibt und Gliedstaat in einem europäischen Bundesstaat wird. Dann würde sozusagen die verfassungsrechtliche Grundlage, die verfassungsgebende Gewalt sich verändern. Dann würde nicht mehr das deutsche Volk zur Selbstbestimmung, zur völkerrechtlichen Selbstbestimmung fähig sein, sondern ein europäisches Volk. Dieser Staatsgründungsakt, der müsste möglicherweise dann vom Volk kommen. Aber davon ist zurzeit ja keine Rede, niemand in Europa denkt daran, einen europäischen Bundesstaat zu gründen. Es geht darum, dass die Staaten an den Anleihemärkten wieder Geld bekommen und ihre Haushalte sanieren. Das ist das, worüber wir reden, und dazu brauchen wir in der Tat keinen Plebiszit.

    Liminski: Die Verfassung, die Bonität und die Souveränität – es gibt Verbindungen und rote Linien. Das war hier im Deutschlandfunk der Staats- und Verfassungsrechtler Udo di Fabio. Besten Dank für das Gespräch, Herr di Fabio.

    di Fabio: Auf Wiederhören.

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