
"Der Bevölkerungsrückgang wirkt sich auch materiell aus: Es sind weniger Leute auf der Straße, manche Häuser stehen leer. Einige allerdings sind auch wunderschön renoviert - mit dem Geld aus Rücküberweisungen."
"Es ist vor allem der emotionale Verlust und, ja, die Stimmung, die schlechte Stimmung im Land."
In groben wirtschaftlichen Zahlen dagegen verschwindet das Problem eher. Die Arbeitslosenrate etwa sinkt erst einmal, wenn alle, die keine Arbeit finden, außer Landes gehen. Vieles, das pro Kopf gezählt wird, rückt die Auswanderungsländer zunächst in ein täuschend helles Licht - die Zahl der Studienplätze zum Beispiel oder die der medizinischen Geräte. Die Probleme werden erst etwas später sichtbar, erläutert der Osteuropa-Experte Vedran Džihić:
"Das beginnt mit der Infrastruktur und banalen Fragen, wie, ob man noch in einer Kreisstadt ein Spital braucht oder nicht. Ob man noch auf den Universitäten so und so viele Ausbildungsplätze oder weniger braucht. Es hat auch handfeste Folgen für das Rentensystem. Wie finanziert man denn dieses, wenn die Arbeitskraft ganz einfach nicht da ist? Und wie kann man auch den sozialen Frieden aufrechterhalten."
"Für die meisten südosteuropäischen Staaten kann man dann auch weitergehen und sagen, dass das Bruttosozialprodukt nicht einmal das Ausgangsniveau des Jahres 1989 erreicht hat."

"Die Statistiken zeigen, dass es eine enorme Emigrationsbereitschaft gibt. Wenn man heute die Menschen in Bosnien fragt, also junge Menschen bis 35, würdet ihr das Land morgen verlassen, wenn ihr die Gelegenheit hättet?, dann sagen 60, 70 Prozent der Leute: Ja, wir würden das morgen unmittelbar und sofort tun."
Und da, wo die Zeichen eigentlich auf Aufschwung und Entwicklung stehen, werden sinkende Bevölkerungszahlen zu einem Risiko - in Rumänien etwa. Der Migrationsforscher Remus Anghel:
"Was passiert im Moment in Rumänien? Es ist eine große Ungleichheit zwischen bestimmten Städten und Gebieten und den anderen, zwischen Dörfern und Städten. Und diese Ungleichheit spielt eine wichtige Rolle in der Art und Weise, wie die Migration passiert."
"Es war eine Forschung hier an der Universität über die junge Generation auf dem Arbeitsmarkt. Die Jungen wollen nicht mehr in die Fabriken reingehen. Es gibt einen Mangel an Arbeitern, die wandern fast alle aus."
Rumänien hat mit Arbeitsemigration eine lange Geschichte. Nach 2002, als das Land zu EU-Beitrittsverhandlungen eingeladen wurde, wanderten zwei Millionen Menschen aus, meistens nach Italien und Spanien.
"Aber am Anfang diese Migration war temporär. Das heißt, die Leute haben immer das Gefühl gehabt: Okay, wir arbeiten hier, schicken das Geld nach Hause, und dann kehren wir irgendwann zurück nach Hause."

"Es gibt viele Motivationen jetzt. Es ist nicht unbedingt das Geld. Es ist auch die Erfahrung. Wenn jemand in Westeuropa arbeitet, lernt man mehr, als hier zum Beispiel. Man kann neue Leute kennenlernen und dann auch Sprachen lernen, und das ist wichtig."
Mit Internet und billigen Flugverbindungen ist Auswanderung nicht mehr das, was sie einmal war.
"Du kannst auf Facebook alles posten, du kannst die Leute mal kontaktieren. Es ist nicht mehr wie damals, dass du irgendwo anders hingehst, und du bist total verloren für das Land von dieser Perspektive her."
"Das ist nicht mehr wie damals. Die Leute bleiben nicht mehr unbedingt hier. Das Land muss was anbieten: Dienstleistungen, gute Entlohnung, ein gutes Ausbildungssystem, gute Verwaltungsstrukturen, Rathäuser und Institutionen. Die müssen gut laufen."
"Den finanziellen Aspekt gibt es natürlich. Aber sehen Sie, ich habe im Ausland gelebt. Dort habe ich in der Tat mehr Geld verdient - und am Ende des Monats habe ich mich dann annähernd in derselben Lage befunden."

"Wir haben auch Familien, die haben sich gut eingerichtet, haben gute Jobs, ihre Kinder gehen auf gute Schulen, und trotzdem entscheiden sie sich auszuwandern."
Die Muttersprache, die Familienbindung, selbst angemessene Bezahlung: Die Angebote der östlichen Länder reichen oft nicht aus, Landsleute zur Heimkehr zu bewegen.
"Wenn sich dort jemand zum Umzug entschließt, dann geht er gleich außer Landes."
Sagt Adriana Iftime. Sie ist Geschäftsführerin beim Verband der rumänischen Bauindustrie in Bukarest. Ihre Branche leidet besonders stark an der massenhaften Emigration. Remus Anghel wundert die Beobachtung nicht. Italien, das Hauptzielland für Rumänen, ist für einen Moldauer zwar weiter weg als das boomende Cluj, liegt aber näher - im übertragenen Sinn. Die Netzwerke enden längst nicht mehr an der Grenze.
"Wenn du nach Mailand oder Turin ziehst, über Nacht hast du zwei oder drei gute Angebote. Wenn du nach Cluj kommst, kennst du wahrscheinlich niemanden da."
"1990 waren im rumänischen Bauwesen um die 800.000 Menschen beschäftigt. 2008 dann, als die Bautätigkeit am stärksten war, in der Zeit des Immobilienbooms, waren es noch zwischen 630.000 und 640.000."
Aber das Drama sollte erst noch beginnen.
"Und jetzt, im Jahre 2018, sind es weniger als 320.000."

So Donika Emini, eine junge Staatswissenschaftlerin, die im Kosovo zu Migrationsfragen forscht und in Erfurt studiert hat.
Inzwischen reicht die EU nicht mehr aus, den deutschen Bedarf zu decken. Noch in diesem Monat soll der Bundestag ein "Fachkräfteanwerbungsgesetz" beschließen, mit dem vor allem Ärzte und Krankenpflegepersonal ins Land geholt werden sollen - unter anderem aus den Nicht- oder Noch-nicht-EU-Ländern Kosovo und Albanien. Während in Deutschland Migrationsfragen vor allem im Spannungsfeld von Toleranz und Ausländerfeindlichkeit diskutiert werden, geht es in den entsendenden Ländern um Essenzielles.
Blerim Syla ist Gynäkologe in der Universitätsklinik von Prishtina und sitzt der Gewerkschaft der Gesundheitsarbeiter vor. Landesweite Zahlen über den Exodus hat er nicht. Wohl aber klare Anhaltspunkte.
"In nur drei Monaten haben 99 oder 100 Ärzte bei der Behörde die Unterlagen angefordert, die sie für Deutschland brauchen. Können Sie sich das vorstellen? Jeden Tag verlässt ein Arzt das Kosovo!"
"Öffentliche und private Gesundheitsinstitutionen können solche Zahlen nicht absorbieren."
Sagt Naim Bardiqi, der Staatssekretär im Gesundheitsministerium. Mit anderen Worten: Nicht zu viele Krankenschwestern gibt es im Kosovo, es gibt nur zu wenig Geld, um sie auch anzustellen.
"Was Ärzte aber anbelangt, da muss ich sagen: Wir haben Mangel. Bei 0,8 pro tausend Einwohner die niedrigste Zahl in ganz Europa."
"Was ich sagen wollte, ist, dass wir nur 2,7 Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts in Gesundheit investieren. Und damit sind wir auch auf dem niedrigsten Stand."
In Deutschland und anderen großen Industrieländern sind es elf Prozent. Die Folge ist unausweichlich, meint die Politologin Pollozhani:
"Wenn du in Prishtina oder Skopje in einen Deutschkurs gehst, dann siehst du: Die sind alle voller Ärzte, angehender und fertiger, und voller Krankenschwestern."
"Wenn wir so weitermachen, wenn wir für einen Mindestlohn die Leute hier wegkaufen, wir und andere, dann bleibt in diesem Land nichts mehr. Dann bleibt nicht mehr das Potenzial. Wir kaufen ja nicht nur die Krankenschwestern weg, sondern auch die Ärzte. Und wenn wir das jetzt auch mit andersqualifizierten Leuten tun, dann machen wir die Länder alle. Dann können wir hier Golfplätze aufmachen."
"Die Generationen, die emotional eng mit dem Kosovo verbunden waren, verschwinden, und die Jüngeren, die vielleicht in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, pflegen nur sehr begrenzte Verbindungen."
"Man kommt, baut sich ein Haus im Kosovo, lässt es leer stehen, fährt zurück in die Schweiz, hin und her, und man schafft sich so einen Platz, wo man im Sommer zwei Wochen wohnen kann."
Die nächstliegende Lösung für die Entvölkerung Osteuropas wäre, das nächste Glied in der sogenannten Migrationskette anzuschließen: Ärmere EU- und arme Balkanländer, so die Logik, sollen sich ihr Personal aus noch ärmeren arabischen und asiatischen Ländern holen. Im Kosovo ist schon die Rede von Ägyptern, die wohl bald kommen würden. In Rumänien dagegen hat die Entwicklung schon begonnen, sagt Adriana Iftime vom Verband der Bauwirtschaft:
"Bis jetzt haben rumänische Baufirmen um die 5.000 Arbeiter aus Asien ins Land gebracht, die meisten aus Vietnam."
"Dann lautet das Argument: Das ist eine weiße Pest, die uns ausrotten wird. Serben/Serbinnen oder Kroaten/Kroatinnen oder Bulgarinnen/Bulgaren sollen sich mehr vermehren. Wir müssen in die traditionelle Familienpolitik Geld hineinstecken anstatt in Konzepte, wie man mit zirkulärer Migration dem Phänomen beikommen kann."
"Wir können nicht eine bestimmte Einwanderungspolitik in ein Land verpflanzen, dessen Geschichte wir nicht kennen."
Sie denkt dabei an die massenhafte Zuwanderung von Russen in kommunistischer Zeit, als Letten in ihrer Sowjetrepublik nur noch 52 Prozent ausmachten.
"Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, geh'n wir zu ihr!", riefen DDR-Bürger 1990 und drohten mit Auswanderung in die Bundesrepublik, wenn sie nicht rasch, in Gestalt der Währungsunion, an deren Reichtum teilhaben dürften. Eine Generation danach hat die Parole ganz Europa erfasst. Zwar geht es nicht um die Währung, aber die Grundforderung ist die gleiche geblieben: Solidarität statt Auswanderung. Statt dass die Arbeitskräfte nach Westen gehen, sollen mehr Investitionen in den Osten fließen, sagt Aija Lulle:
"Wir können uns Taktiken einfallen lassen, aber keine großen Strategien, es sei denn, Kapital fließt nach Lettland und es werden ernsthaft Arbeitsplätze geschaffen."
"Lieber wäre es mir, eine deutsche Firma käme her, würde eine Fabrik bauen, wo Leute arbeiten können, in ihrem eigenen Land leben, ihren Beitrag leisten. Das wäre eine Win-win-Situation."
Aber die Kugel rollt eher den Berg hinab als hinauf, wie Vedran Džihić die Wünsche kühl pariert:
"Bulgarien, nach den Statistiken der UNO, verliert bis 2050 fast 25 Prozent der Bevölkerung. Das ist auch für einen potenten Investor keine Einladung, um nach Bulgarien zu kommen und da zu investieren. Sondern es ist eher eine implizite oder explizite Ausladung."