Donnerstag, 28. März 2024

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Experte: Linksbündnis könnte Nichtwähler mobilisieren

Nach Auffassung des Politikwissenschaftlers Gero Neugebauer gibt es in der Bundesrepublik links von der SPD eine Szene, die darauf wartet, sich politisch artikulieren zu können. Diese Szene gehöre bislang zu den Nichtwählern. Die Gründung eines Linksbündnisses zwischen PDS und WASG könnte zu einer Mobilisierung dieser Wählerschichten führen, so Neugebauer.

Moderation: Dirk Müller | 10.06.2005
    Dirk Müller: Der Kanzler und der Parteichef haben appelliert an die Vernunft ihrer Parteifreunde, endlich still zu halten. Weder den Bundespräsidenten noch die eigene Regierung öffentlich zu kritisieren, geradezu niederzumachen. Die SPD ist auf der Suche nach sich selbst. Das heißt, mit welchem Kurs, mit welchem Reformangebot geht sie in den Wahlkampf. Vielleicht auch die Frage, mit wem und mit wem danach. Und jetzt auch noch Oskar Lafontaine. Am Telefon in Berlin sind wir nun verbunden mit Gero Neugebauer, Politikwissenschaftler am Otto-Suhr-Institut. Herr Neugebauer, Gysi/Lafontaine - ist das der Dolchstoß für Schröder/Fischer?

    Gero Neugebauer: Wären Sie ein Westfale würde ich sagen: Das ist nicht der Bringer. Das heißt, zumindest haben sie einen Dolch in der Scheide, der steckt aber schon so lange drin, dass man nicht weiß, ob er Rost angesetzt hat. Konkret: Es dreht sich ja darum, dass sich alte Linke verbünden wollen und dass die alten Linken hoffen, von der alten Linken, nämlich SPD und Grünen, Stimmen abziehen zu können. Dazu müssen sie etwas vorweisen, was sie attraktiv macht. Als Person haben beide politisch in letzter Zeit nicht viel gebracht. Das heißt, Herr Lafontaine ist eigentlich nur über die Medien noch weiter präsent gewesen; Herr Gysi ist mit einem negativen Abtritt aus seinem politischen Amt in den Schlagzeilen gewesen. Also muss man gespannt sein, ob die Wähler, die von Politikern auch Kompetenz erwarten und mehr als nur ein persönliches politisches Profil, auf so was abfahren.

    Müller: Herr Neugebauer, steht da nicht nach rechtem Protest jetzt endlich auch mal linker Protest an?

    Neugebauer: Es gibt in der Bundesrepublik links von der SPD eine Szene, die darauf wartet, sich auch politisch artikulieren zu können. Diese Szene aber artikuliert linken Protest bisher in sehr unterschiedlicher Weise, aber meistens dadurch, dass sie zu Hause bleiben. Wenn jetzt eine Organisation gemacht werden soll aus einer vor allen Dingen in Ostdeutschland verankerten Partei, der PDS, und einem Teil der alten Linken in westdeutschen Landen, die sich nämlich jetzt als WASG neu konstituiert, dann ist da zumindest theoretisch eine Möglichkeit da, dass die diesen Protest auffangen können. Nur wir wissen nicht, wir können eben auch sagen: Ja, rechter Protest kann dadurch abgeblockt werden, rechter Protest hat weiter seine Chance, aber der linke könnte zumindest Kristallisationspunkte haben.

    Müller: Herr Neugebauer, Sie müssen jetzt bei dem Zahlenspiel mitmachen. Es ist darüber zu lesen, fünf, sechs, acht Prozent, wie auch immer, bis zu zehn Prozent, davon ist die Rede: Ist für Sie denn die Fünf-Prozent-Hürde schon genommen?

    Neugebauer: Nein, die Fünf-Prozent-Hürde ist noch nicht genommen, weil es jetzt darum geht, dass die PDS ihre gute Mobilisierungschance, die sie im Osten hat, auch fortsetzen kann, wenn sie mit einem Zusatz im Namen auftaucht. Das heißt, die PDS allein ist nach meiner Einschätzung durchaus aufgrund der gegenwärtigen Konstellation zwischen den Hauptkonkurrenten, Union auf der einen und SPD auf der anderen Seite, durchaus in der Lage, im Osten genügend zu mobilisieren. Da gibt es genügend, die enttäuscht sind über Arbeitsmarkt und Wirtschaftspolitik. Aber da ist jetzt die Frage, wenn jetzt die Wähler sagen: Was machen wir denn nun, was hat die denn da eigentlich für ein Programm?, dass sie sich da ein bisschen ins Fleisch schneiden können. Also prinzipiell, die PDS hätte allein ihre fünf Prozent schaffen können, wenn sie das hält und WASG dazu zählt, können sie die fünf Prozent schaffen. Aber ob da Potenziale von acht oder zehn - oh Gott, das halte ich für weit übertrieben.

    Müller: Aber ein Hartz-IV-Empfänger beispielsweise hat doch nun jetzt gar keine andere Wahl als das Kreuzchen jetzt nun dort zu machen, was sich da heute anbietet?

    Neugebauer: Oh, der hat drei Möglichkeiten. Er kann zu Hause bleiben, weil er sowieso nichts von der Politik hält, die ihn enttäuscht hat. Er kann in der Tat dieses neue Bündnis wählen, weil er sagt: Die formulieren Erwartungen an die Politik, die ich habe, aber dann müsste ich ja sicher sein, dass die ins Parlament kommen. Oder er wählt, weil er sagt: Ist mir Schiet egal, aber da ist ein Protestpotenzial und ich unterstütze dieses Protestpotenzial.

    Müller: Spekulieren wir weiter: 4,9 Prozent für das neue Linksbündnis - sind 4,9 Prozent zu viel für Rot-Grün.

    Neugebauer: Für Rot-Grün ist jedes Prozent eigentlich, das sie verlieren, zu viel und insofern ist es auch müßig, darüber nachzudenken. Denn, nach meiner Einschätzung sind jene, die in den westdeutschen Ländern das Bündnis wählen werden, ohnehin für die SPD oder die Grünen bereits verlorene Wähler. Die sind auch in den letzten Jahren nicht mehr gegangen und haben Rot-Grün gewählt. Und die mobilisierende Wirkung, die jetzt von ehemaligen Gewerkschaftern oder Gewerkschaftsfunktionären ausgeht, geht genau auf einen Kreis von Leuten, die auch bei letzten Wahlen ganz erkennbar Nichtwähler gewesen sind, das heißt, WASG holt ihre Wähler im Wesentlichen aus dem Nichtwähler-Bereich und da aus dem Sektor, den die Linken haben. Und insofern ist es eigentlich müßig für die SPD von Verlusten zu reden. Eher ist interessant: Was passiert eigentlich, wenn die reinkommen und was passiert dann mit dem Mehrheitsverhältnis? Also ob eine Partei mit 46, 47 Prozent der Zweitstimmen bereits dann die Sitzmehrheit im Bundestag hat.

    Müller: Dennoch, jetzt die Frage, ohne darüber nachzudenken, was danach passiert: Hat der Kanzler noch die Chance, die Kurve zu kriegen?

    Neugebauer: Das ist etwas schwierig, weil der Kanzler sich auf seine Reform in einem Maße festgelegt hat, dass Änderungen nicht mehr zu erwarten sind. Andererseits steht die SPD vor dem Problem, sie muss auch in der Opposition ein Profil haben und dieses Profil muss sich von dem der Union unterscheiden, weil es nicht geht, dass beispielsweise ein Finanzminister Stoiber in den Saal ruft: Jetzt machen wir die Reform, und Eichel ruft zurück: Das ist unsere Reform. Wo bleibt da die Opposition? Also, wertorientierte Veränderung in der Politik, Formulierung einiger anderer Ziele, einiger neuer Ziele und Betonung des sozialen Charakters dieser Reform - sofern er vorhanden ist oder vorzeigbar ist - dann hat die gegenwärtige Regierung noch eine Chance, ein besseres Ergebnis zu erzielen. Grundsätzlich gilt: Drei Monate vor einer Wahl kann man angesichts von Entwicklungen und Ereignissen nicht sagen, wie die Wahl schon ausgehen wird, auch wenn die Bedingungen - sowohl die Rahmenbedingungen als auch die Umfrageergebnisse - zurzeit abzeichnen, der Kanzler hat keine große Chance.

    Müller: Herr Neugebauer, hat die Union es in diesen Tagen nötig, zur Entwicklung und Weiterentwicklung ihres Wahlprogramms in Deckung zu gehen, in den Keller zu gehen?

    Neugebauer: Die Union verfährt nach einem alten Wahlkämpfer-Prinzip: Bloß nichts sagen, damit man dich nicht angreifen kann. Andererseits erwarten die Anhänger der Union schon, und vor allen Dingen die, die sie aus dem Nichtwähler-Bereich beziehungsweise aus dem Bereich der anderen Parteien mobilisieren will, dass ihnen gesagt wird, was haben wir denn zu erwarten. Und je länger das Schweigen der Union dauert, um so größer werden die Spekulationen - auch angesichts des noch unklaren Personaltableaus -, so dass die Union eigentlich einen Fehler macht, wenn sie so in der Deckung bleibt wie sie ist und nur darauf wartet, dass die Fehler der Regierung ihnen die Wähler zutreiben. Das passiert schon. Aber ob sie die entscheidenden%chen damit kriegt, das könnte auch ein Problem ihrer inhaltlichen Vermittlung werden.

    Müller: Das heißt, die Union hat jetzt schon ein Problem?

    Neugebauer: Hat jetzt schon ein Problem, nämlich deutlich zu machen, was sie außer dem Frust über die Regierung Rot-Grün dem Wähler vermitteln kann, um ihn zu veranlassen, die Union zu wählen.

    Müller: Und warum ist das nicht schon längst geklärt? Man hat doch immer wieder in Bundestagsdebatten und in Pressekonferenzen betont, auch schon im Januar, im Februar, auch im vergangenen Jahr: Wir sind bereit für den Wechsel.

    Neugebauer: Das ist eine notwendige Erklärung der Opposition. Die Opposition weiß ja eigentlich auch, dass in der Bundesrepublik eigentlich nicht eine gute Opposition gewählt wird, sondern eine schlechte Regierung abgewählt wird, das eine. Das Zweite ist, wer repräsentiert bitte schön die Kompetenzen? Herr Seehofer ist weg, im Bereich Sozialpolitik ist kein überzeugter Vertreter nachgefolgt. Herr Merz ist weg - wer ist da jetzt der, der da jetzt sagt: Das wird die Steuerpolitik, die Finanzpolitik der Union sein? Herr Stoiber ist im Wesentlichen als bayrischer Ministerpräsident präsent für den Wähler, aber nicht so sehr als ausgewiesener Fachmann im finanz- oder wirtschaftspolitischen Fragen. Also, bitte schön, das ist das zweite Problem. Der Wähler erwartet auch, dass ihm Personen vorgestellt werden, die mit bestimmten Politikfeldern in Zusammenhang stehen, weil er sagt: Ich will wissen, welche Kompetenz vorgewiesen wird, ich will wissen, wer das repräsentiert und ich will wissen, ob die Problemlösungen anbieten, die meinen Erwartungen entsprechen.

    Müller: Und womit steht die Kanzlerkandidatin in Bezug?

    Neugebauer: Die Kanzlerkandidatin steht für den Wechsel als solchen - und für mehr erst einmal nicht. Aber das ist in der momentanen Situation ihr wahrscheinlich auch genug. Man muss auch sagen, wenn die Stimmung weiter rutscht, dann kann sie da sicher sein, dass es ihr zugunsten rutschen wird.