Archiv


Experte sicher: Juschtschenko bleibt ukrainischer Präsident

Vor dem Hintergrund erneuter Demonstrationen in der ukrainische Hauptstadt Kiew hat Wilfried Jilge von der Universität Leipzig die Prognose geäußert, dass Viktor Juschtschenko auf jeden Fall für die Periode, für die er gewählt wurde, Präsident der Ukraine bleiben werde. Derzeit sei die Lage in Kiew ruhig, erklärte Jilge.

Moderation: Stefan Heinlein |
    Stefan Heinlein: Herr Jilge, Sie sind soeben zurück aus Kiew und haben dort am Wochenende die Demonstrationen selbst erlebt. Erinnern Sie diese Szenen an die Bilder vor zwei Jahren während der Orangenen Revolution?

    Wilfried Jilge: Ja, durchaus ein wenig, denn am Samstag hat es eine sehr beeindruckende Kundgebung der Opposition gegeben, die auch in ihren Ausmaßen doch an die Orangene Revolution erinnert hat. Also ich würde schätzen, dass es 100.000 waren, die für die Demokratie und die Auflösung des Parlaments demonstriert haben.

    Heinlein: Verlagert sich die politische Auseinandersetzung wie damals erneut vom Parlament auf die Straße? Stimmt dieser Eindruck?

    Jilge: Also so würde ich das nicht sagen. Also diese Kundgebung war sehr beeindruckend. Sehr beeindruckend war übrigens auch das friedliche Zusammendemonstrieren, also auf der einen Seite auf dem Europaplatz die Anhänger der Partei der Region, der Regierung, und eben auf der anderen Seite der Unabhängigkeitsplatz mit der Opposition. Aber mittlerweile hat ja Julia Timoschenko, die Oppositionsführerin, und ihre Verbündeten deutlich gemacht, dass sie den Konflikt eigentlich nicht auf der Straße austragen wollen, auch um Provokationen von Anhängern der Blauen zu vermeiden. Man will die Entscheidung des Verfassungsgerichts zunächst abwarten, und das halte ich eigentlich für positiv. Insgesamt würde ich sagen, trotz der Schwierigkeiten war die Lage in Kiew doch eher ruhig und friedlich.

    Heinlein: Herr Jilge, wird es denn friedlich bleiben, oder droht eine Eskalation möglicherweise? Die USA unter anderem haben ja beide Seiten zur Ruhe aufgefordert.

    Jilge: Also es ist natürlich jetzt eine sehr dynamische und komplexe Situation, und es ist schwer vorherzusehen, was genau passiert, und beide Seiten werden jetzt auch erst mal sehen, wie sie ihre Anhänger mobilisieren können, welche Möglichkeiten sie haben. Aber ich glaube nicht, dass die überwiegende Mehrheit auf beiden Seiten, sowohl aus der Opposition als auch auf Regierungsseite, an einer Eskalation interessiert sind. Es gibt allenfalls einzelne Gruppen auf Regierungsseite, die daran interessiert sein könnten, zum Beispiel Parlamentspräsident und Sozialistenführer Alexander Moros, der bei einer Neuwahl sich mit seiner Partei wahrscheinlich nicht mehr im Parlament wieder finden könnte. Aber es gibt auf beiden Seiten eben auch vernünftige Kräfte, denen an einer dauerhaften Lähmung des Landes eigentlich nicht gelegen sein kann. Das gilt auch durchaus für Teile der Partei der Region und der Regierung.

    Heinlein: Welche Motive hatte denn der Präsident, das Parlament aufzulösen? War das der Versuch eines Befreiungsschlages, nachdem seine Macht ja zu zerbröseln drohte?

    Jilge: Na ja, der eigentliche Hintergrund, Herr Heinlein, ist, dass es in der Ukraine derzeit keine funktionierende Balance zwischen den demokratischen Institutionen gibt, weil die Verfassung auf Grund der Verfassungsreform von 2004, also vom 8. Dezember, vom so genannten runden Tisch, ausgesprochen widersprüchlich und lückenhaft ist, und weil die Partei der Region - und das war eben ein wichtiges Argument für den Präsidenten - zur Zeit alles versucht, um die ganze Macht zu usurpieren und den Präsident völlig zu entmachten. Es wurde ja in Ihrem Bericht schon das Abwerben von Abgeordneten, wahrscheinlich auch mit Stimmenkauf, genannt, was also gerade dem Kompromiss von 2004 massiv widerspricht, wo ja eine parlamentarische Koalition, eine Stärkung des Parlaments eingeführt werden sollte, eine dem Parlament verantwortliche Koalition. Und man hat damals bewusst ein imperatives Mandat, also den Fraktionszwang eingeführt, weil man weiß, Fraktionsbindung und Verantwortlichkeit vor dem Wähler ist in der derzeitigen ukrainischen Parteienlandschaft selten. Dagegen hat man offen verstoßen, aber auch mit dem Ministerkabinettsgesetz vom Januar hat die Partei der Region versucht, eine endgültige Entmachtung des Präsidenten herbeizuführen, und das widerspricht, wie auch jetzt die Berichterstatterin der parlamentarischen Versammlung des Europarats bemerkt hat, das widerspricht dem Geist der Einigung von 2004 und dem Geist der ukrainischen Verfassung.

    Heinlein: Trotz dieser Begründung und der Stichhaltigkeit offensichtlich seiner Argumentation, des Präsidenten, sind diese Neuwahlen für ihn ja riskant. Er kann laut Umfragen ja nicht unbedingt mit einer Mehrheit bei möglichen Neuwahlen rechnen, zumal es ja vielleicht sogar zu vorgezogenen Präsidentschaftswahlen kommen wird.

    Jilge: Das ist vollkommen richtig. Das mit den Präsidentschaftswahlen muss man mal sehen. Da wäre ich jetzt etwas vorsichtig. Jede Seite versucht, alle möglichen rechtlichen Geschütze aufzufahren. Ich würde aber dennoch sagen, dass Neuwahlen eben ein demokratischer Weg wären, unabhängig wer jetzt als Sieger aus diesen Neuwahlen hervorgeht. Auch Viktor Janukowitsch muss nach neuesten Umfragen, das haben Sie angedeutet, Neuwahlen nicht fürchten, und es wäre eben eine legitime Bestätigung, welcher Machtkonstellation dann auch immer. Ich glaube allerdings, dass beide Lager weiterhin sehr stark sind. Mag sein, dass der Präsident keine eindeutige Mehrheit bekommt, aber ich würde sagen, es läuft eher auf ein Gleichgewicht hinaus, und das könnte dann eben die Voraussetzung sein, dass man doch einen Machtkompromiss und endlich ein besser funktionierendes politisches System findet.

    Heinlein: Wagen Sie abschließend eine Prognose, wie lang der Präsident sich noch im Amt halten wird?

    Jilge: Das hängt schlicht und ergreifend davon ab, wie man in den nächsten Wochen den Konflikt löst. Ich habe die Hoffnung, dass die beiden Seiten sich doch, wie gesagt, nachdem man jetzt austestet, was man machen kann, auf ein Verfahren einigen, sei es nun in Neuwahlen oder sei es, dass man doch noch mal über einen Machtkompromiss redet. In diesem Fall wird der Präsident auf jeden Fall seine Periode, für die er gewählt wird, weiter Präsident der Ukraine sein.