In der libanesischen Hauptstadt Beirut hat sich am Dienstag (04.08.2020) eine gewaltige Explosion mit mindestens 100 Toten und mindestens 4.000 Verletzten ereignet. Über der Stadt stieg am frühen Abend eine riesige Rauchwolke auf, die viele Zeugen mit der Form eines Atompilzes verglichen. Videos von der Explosion zufolge begann die Katastrophe mit einem Brand am Hafen. Durch die Wucht der Explosion am Hafen der Küstenstadt gingen Fenster zu Bruch, Straßen sind mit Trümmern und Glasscherben übersät. Große Teile des Hafens wurden vollständig zerstört. Menschen werden vermisst und es werden immer noch Überlebende gesucht.
Ammoniumnitrat soll explodiert sein
Malte Gaier, Leiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Beirut, hat die Explosion erlebt. Im Dlf hat er seine Erlebnisse geschildert. "Wir hatten einen roten Explosionspilz über dem Hafen und über der Stadt. Im Laufe der nächsten Stunden hat sich erst gezeigt, was für ein erhebliches Maß an Verwüstung diese Explosion über einen Großteil der Stadt gebracht hat", sagte er. "Wir sprechen hier von einem Radius von mindestens fünf Kilometer um den Hafen herum". Er und auch andere seien zu Beginn von der roten Farbe der Rauchwolken irritiert gewesen.
"Mittlerweile scheint die Information schon einigermaßen gesichert zu sein, dass am Hafen Ammoniumnitrat explodiert ist. Und zwar muss das im Umfang von 2700 Tonnen oder noch mehr gewesen sein", sagte er. Das Ammoniumnitrat soll seit 2014 dort gelagert sein. "Es wurde im Vorjahr von einem Frachter konfisziert und lagerte dort jetzt sechs Jahre im Hafen. Es ist ein hochexplosives Gemisch, das normalerweise zur Herstellung von Düngemittel oder eben auch Sprengstoff verwendet wird", sagte Gaier.
"Strukturelle Schäden"
Besonders in den Stadtvierteln in der Nähe des Hafens gäbe es massive Zerstörungen, berichtet Gaier. "Ganze Häuser sind zerstört worden, massive strukturelle Schäden, dazu gehört auch das staatliche Elektrizitätswerk, das auch nur noch zwei bis drei Stunden Strom am Tag in die Haushalte geliefert hat, scheint total zerstört worden zu sein." Es sollen auch einige Silos, die Getreide gelagert hatten, zerstört worden sein.
"Wir haben jetzt gehört, dass sie vermutlich fast leer waren und eine neue Lieferung unterwegs sei", sagte er. Gaier berichtet auch von Schäden an Krankenhäusern. "Wir befinden uns hier in den Anfängen einer zweiten Coronawelle – das private und öffentliche Gesundheitssystem ist überfordert. "Wir haben die ganze Nacht hinweg, und ich vermute, dass das auch jetzt noch der Fall ist, chaotische, auch dramatische Szenen gesehen."
Krankenhäuser überfordert
Es herrsche ein Ansturm auf die Krankenhäuser, Verwundete würden abgewiesen. "Es sind nur Härtefälle aufgenommen worden", sagte Gaier. Es habe viele Zeichen der Solidarität gegeben. Menschen mit leichteren Verletzungen hätten freiwillig die Krankenhäuser verlassen, um für die schwer verletzten Personen Platz zu machen. "Ich habe in meiner Straße gesehen, wie sich Nachbarn untereinander geholfen haben", sagte er. Es herrsche ein Schockzustand. "Wir haben massive Aufräum- und Reparaturarbeiten vor uns - und das mitten in einer Wirtschafts- und Finanzkrise", sagte Geier. Es gehe dabei auch um eine Währungskrise. "Es gibt eine Dollar-Knappheit", sagte er. Der Libanon importiert bis zu 85 Prozent seiner Waren aus dem Ausland, diese würden zum Teil in Dollars bezahlt. Dazu komme, dass der Hafen für Importe völlig zerstört sei. "Das sind erhebliche Langzeit – und strukturelle Schäden, mit denen wir es hier zu tun haben."
Lesen Sie hier das gesamte Interview:
Tobias Armbrüster: Herr Gaier, vielleicht können Sie uns das einfach mal kurz erklären, wie haben Sie diesen gestrigen Abend und auch die Nacht erlebt?
Malte Gaier: Es kam hier ungefähr kurz nach 18 Uhr Ortszeit erst zu einer erdbebenähnlichen Erschütterung – das hat sich wirklich angefühlt wie ein Erdbeben –, und circa 20 Sekunden später hatten wir eine laute Detonation, eine laute Explosion gehört, die aber nicht genau lokalisierbar war. Ich stand selbst unter einem Gebäude und hatte den Eindruck, dass das Gebäude selbst, dass da ein Gaszylinder explodiert ist oder eventuell auch eine Bombe detoniert ist. Erst später, glaube ich, circa im Laufe einer Stunde hat sich das geklärt, dass die Explosion, die große Detonation, vom Hafen kam. Wir hatten einen roten Explosionspilz über dem Hafen, über der Stadt. Es hat sich dann erst im Laufe der nächsten Stunden gezeigt, was für ein erhebliches Ausmaß an Verwüstung diese Explosion über einen Großteil der Stadt gebracht hat. Wir sprechen hier von einem Radius von mindestens fünf Kilometern um den Hafen herum, wo mehrere Warenhäuser explodiert zu sein scheinen.
Armbrüster: Und Sie haben diesen Explosionspilz auch von Ihrem Standort aus gesehen?
Gaier: Ja.
Armbrüster: Was ist Ihnen da durch den Kopf gegangen?
Gaier: Natürlich geht es erst mal darum, dass wir die Explosion lokalisieren, und dann hatte natürlich alle Beteiligten, alle Beobachter erst die Farbe irritiert, sprich das Rote. Mittlerweile scheint es schon einigermaßen gesichert zu sein, die Information, dass am Hafen Ammoniumnitrat explodiert ist, und zwar muss das im Umfang von circa 2.700 Tonnen oder noch mehr gewesen sein, und zwar in einem Warenhaus, wo das schon seit 2014 lag. Das wurde im Vorjahr, 2013, von einem Frachter konfisziert und lagerte jetzt quasi sechs Jahre im Hafen, also ein hochexplosives Gemisch, das normalerweise zur Herstellung von Düngemitteln oder eben auch zu Sprengstoffen verwendet wird.
"Das Gesundheitssystem ist überfordert"
Armbrüster: Herr Gaier, ich kann jetzt nicht genau einschätzen, wie viel Zeit Sie oder Gelegenheit Sie hatten in diesen vergangenen zwölf Stunden, sich in Ihrer Stadt, in Beirut umzuschauen. Können Sie uns einen Eindruck davon geben, wie es dort jetzt gerade aussieht, wie viele Häuser Sie sehen, die zerstört sind oder die zumindest Spuren von Zerstörung zeigen?
Gaier: Ich glaube, hier, insbesondere in der Nähe des Hafens, sprich im Norden Beiruts, insbesondere im christlichen Viertel Aschrafiyya, haben wir es mit massiver Zerstörung zu tun, in der Form, dass ganze Häuser eben zerstört worden sind. Wir haben natürlich ganz massive – und das ist auch das Beunruhigende – strukturelle Schäden. Beispielsweise ist das staatliche Elektrizitätswerk, was auch bis zuletzt nur noch circa zwei bis drei Stunden regulären Strom in die Haushalte geliefert hatte, das scheint komplett zerstört worden zu sein. Es sind einige Silos in der Hafengegend zur Aufbewahrung von Getreide zerstört worden, wobei wir gerade eben gehört hatten, dass die vermutlich fast leer waren, da ist eine neue Lieferung ohnehin unterwegs.
Wir haben scheinbar auch Schäden an Krankenhäusern gehabt. Vielleicht kurz zum Hintergrund: Wir befinden uns hier in den Anfängen einer zweiten Corona-Welle im Libanon. Das Gesundheitssystem – das private und natürlich auch das öffentliche – ist überfordert damit, und das kommt jetzt eben noch obendrauf. Wir haben über die ganze Nacht, und ich vermute auch, dass das jetzt noch der Fall ist, wirklich chaotische, sehr dramatische Szenen auch gesehen: ein Ansturm auf die Krankenhäuser, Verwundete, Verletzte sind abgewiesen worden, die da nicht aufgenommen werden konnten – es sind wirklich nur Härtefälle aufgenommen worden. Wir haben auch viele Zeichen von Solidarität gesehen. Es gab Libanesen, die dann vor dem Krankenhaus auch wieder abgedreht sind mit nur leichten Verletzungen und wieder nach Hause gegangen sind, um wirklich den Härtefällen Vorschub zu leisten. Ich hab selbst in meinem Viertel, in meiner Straße auch gesehen, wie sich Nachbarn untereinander geholfen haben, also es ist ein großes Zeichen von Solidarität hier auf jeden Fall auch im Libanon, in Beirut. Dennoch, es besteht natürlich ein Schockzustand. Das ist für uns vielleicht etwas vergleichbar mit dem Schockzustand, den wir am Morgen nach Nine-Eleven in den USA hatten.
"Wir haben hier massive Aufräum- und Reparaturarbeiten vor uns"
Armbrüster: Diesen Vergleich würden Sie ziehen. Können Sie uns sagen, wie sieht es bei Ihnen aus, in Ihrer Wohnung, in Ihrem Büro?
Gaier: Wir haben leichte Schäden in unseren Bürogebäuden, in den Wohnungen, in den Häusern, die näher am Detonationsort liegen, da haben wir massive Schäden. Es gibt wirklich Schätzungen beziehungsweise auch wenn man nach draußen schaut in die Viertel, fast alle Fensterscheiben sind zersplittert, Türen sind geborsten, viele Libanesen sind gleich in die Berge in den Norden gefahren, haben Beirut verlassen. Das heißt, wir haben hier massive Aufräum- und Reparaturarbeiten vor uns – und das inmitten einer Wirtschafts- und Finanzkrise. Die Coronakrise habe ich bereits schon erwähnt, das werden auf jeden Fall jetzt ganz akute Herausforderungen für den Libanon sein, aber auch für die internationale Gemeinschaft.
Armbrüster: Vielleicht können Sie uns das kurz erklären, wie sehr trifft die Katastrophe dieses Land in seiner aktuellen Lage?
Gaier: Die Wirtschafts- und Finanzkrise und auch eine Währungs- und Bankenkrise nahm hier ihren Lauf etwa gegen Herbst letzten Jahres, wo wir auch seit Mitte Oktober massive landesweite Proteste gesehen hatten. Teil dieser Finanzkrise ist eben auch eine Währungskrise, sprich, es gibt eine Dollarknappheit. Es gibt die offizielle Landeswährung, das Libanesische Pfund, inoffizielle Landeswährung war jedoch der US-Dollar, der jetzt ausgegangen ist beziehungsweise von libanesischen Anlegern nicht mehr von den Konten genommen werden kann. Der Libanon importiert bis zu 85 Prozent Waren aus dem Ausland, diese werden zumeist – insbesondere eben die lebenswichtigen Importe wie Medizin, Nahrungsmittel, Benzin – in Dollar bezahlt. Das ist das eine Problem, das zweite ist, dass jetzt der Hauptpunkt für Importe, der Hafen, völlig zerstört ist. Es ist die Frage, wie Hilfsgüter den Libanon jetzt auch erreichen könnten. Der Flughafen ist derzeit noch geöffnet, der war für dreieinhalb Monate während des Corona-Lockdowns geschlossen. Das sind auf jeden Fall erhebliche Langzeit- und strukturelle Schäden, mit denen wir es hier zu tun haben werden.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.