Noch sind nach den Explosionen von Hisbollah-Kommunikationsgeräten im Libanon viele Fragen offen. Die militant-islamistische Miliz macht Israel für die Angriffe verantwortlich. Bestätigt ist das bislang nicht. Die Pager und Walkie-Talkies waren am Dienstag und Mittwoch (17. und 18.9.2024) nahezu zeitgleich an verschiedenen Orten im Land detoniert. Mehrere Menschen starben, Tausende wurden verletzt. Darunter auch Zivilisten. Sind solche Angriffe aus völkerrechtlicher Sicht erlaubt?
Was ist über die explodierten Geräte bekannt?
Die militant-islamistische Hisbollah-Miliz verwendet Pager zur Kommunikation. Die Geräte nutzen eine eigene Funkfrequenz und gelten daher als besonders zuverlässig. Anders als bei Handys kann die Kommunikation nicht zurückverfolgt, abgehört oder blockiert werden. Sicherheitskreisen zufolge stammten viele der explodierten Pager aus einer Lieferung, die erst kürzlich im Libanon eintraf. Wie die „New York Times“ unter Berufung auf US-amerikanische Behördenvertreter berichtete, waren die Kommunikationsgeräte auf dem Lieferweg abgefangen und mit Sprengstoff präpariert worden.
Bei den Walkie-Talkies, die einen Tag später detonierten, handelte es sich um Funkgeräte japanischer Herkunft. Laut dem Hersteller werden die Geräte seit zehn Jahren nicht mehr produziert. Sie explodierten unter anderem in einem südlichen Vorort der Hauptstadt Beirut während einer Trauerfeier für vermeintliche Hisbollah-Mitglieder, die bei den Pager-Detonationen getötet worden waren.
Wer könnte hinter den Detonationen stecken?
Die Hisbollah und der Iran machen Israel für die Explosionswellen im Libanon verantwortlich. Die Miliz kündigte Vergeltung an. Die Angriffe kämen „einer Kriegserklärung gleich“, sagte Hisbollah-Generalsekretär Hassan Nasrallah. Israel habe alle roten Linien überschritten.
Israel hat sich bislang nicht zu den Explosionen bekannt. Allerdings ist davon auszugehen, dass die offenbar nahezu zeitgleich herbeigeführten Detonationen von langer Hand geplant waren. Und sie lassen auf einen hoch professionellen Geheimdienst schließen. Beobachter vermuten deshalb den israelischen Auslandsgeheimdienst Mossad als Drahtzieher.
Welches Ziel könnten die Angriffe haben?
Die Lage an der israelisch-libanesischen Grenze spitzt sich seit Monaten zu. Seit Beginn des Krieges zwischen der radikalislamischen Palästinenserorganisation Hamas und Israel im Gazastreifen haben auch die Kämpfe zwischen der israelischen Armee und der mit der Hamas verbündeten Hisbollah im Libanon deutlich zugenommen. Die vom Iran unterstützte Hisbollah feuert zur Unterstützung der Hamas Raketen auf den Norden Israels. Im Gegenzug beschießt die Armee Ziele im Südlibanon.
Mit der Attacke kann Israel erneut seine technische Überlegenheit gegenüber der Hisbollah demonstrieren. Verteidigungsminister Yoav Galant erklärte, für Israel verschiebe sich der Schwerpunkt des Krieges in der Region Richtung Norden - also Richtung Libanon. Am Donnerstag (19.9.2024) griff die israelische Armee eigenen Angaben zufolge erneut Ziele der Hisbollah-Miliz im Libanon an. Ziel sei es, „die terroristischen Fähigkeiten und die Infrastruktur“ der Gruppe zu schwächen, hieß es in einer Erklärung. Der Einsatz sei Teil der Bemühungen, die Rückkehr von Israelis zu ermöglichen, die vor den seit Monaten andauernden Hisbollah-Angriffen auf den Norden Israels geflohen waren, erklärte die Armee weiter.
Welche internationalen Reaktionen gibt es?
International wächst nach den Pager- und Walkie-Talkie-Explosionen die Sorge vor einer Ausweitung des Konflikts zwischen Israel und der Hisbollah. US-Außenminister Antony Blinken und sein französischer Amtskollege Stéphane Séjourné riefen bei einem Treffen ranghoher westlicher Diplomaten zur Lage im Nahen Osten alle Beteiligten zur Zurückhaltung auf. Zuvor hatten bereits die Vereinten Nationen vor einer Eskalation gewarnt. „Die Logik hinter der Explosion all dieser Geräte bestehe natürlich darin, dies als Präventivschlag vor einer größeren Militäroperation zu tun“, sagte Generalsekretär António Guterres. Es bestehe die „ernsthafte Gefahr einer dramatischen Eskalation“.
Das UN-Menschenrechtsbüro verurteilte die mutmaßlich von Israel koordinierten Pager-Explosionen als „schockierend“. Die Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung seien inakzeptabel, sagte Sprecherin Ravina Shamdasani. Es verstoße gegen internationale Menschenrechtsnormen, einen Angriff gleichzeitig auf Tausende Personen durchzuführen, ohne zu wissen, wer das Gerät zum Zeitpunkt des Angriffs bei sich hatte, oder wo und in welcher Umgebung die Person sich gerade befand.
Scharfe Kritik kam auch von der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch. „Die Minibomben wurden unter unbekannten Umständen in unbekannten Umgebungen gezündet. Das ist die Definition von willkürlich“, erklärte Medien-Direktor Andrew Stroehlein, der die Angriffe als völkerrechtswidrig verurteilt. Auch das UN-Menschenrechtsbüro hält einen Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht für möglich und verlangt eine transparente Untersuchung der Vorfälle.
Was sagt das Völkerrecht zu den Angriffen?
Noch scheint eine Bewertung der Explosionswellen im Libanon schwierig. Selbst, wenn sich Israel als Drahtzieher hinter den Angriffen bestätigen sollte. Aus völkerrechtlicher Perspektive strittig ist vor allem die Bewertung ziviler Opfer, sogenannter "ziviler Kollateralschäden", sagt Politikwissenschaftlerin Elvira Rosert.
In der Debatte um das humanitäre Völkerrecht gebe es zu solchen zivilen Kollateralschäden unterschiedliche Positionen. Dass die vermutlichen Hisbollah-Kämpfer in Alltagssituationen erwischt worden seien, in denen auch Zivilistinnen und Zivilisten um sie herumstanden, habe deshalb zu unterschiedlichen rechtlichen Einschätzungen geführt.
Nach Einschätzung von Völkerrechtler Stefan Talmon ist zunächst ein Blick auf das Verhältnis zwischen der Hisbollah und Israel zentral. Aus seiner Perspektive handelt es sich bei den Auseinandersetzungen um einen bewaffneten Konflikt. Sollte Israel für die Explosionen verantwortlich sein, wären diese aus seiner Sicht als Kriegshandlungen zu werten, als „Angriffe auf feindliche Kämpfer“.
Doch auch das Kriegsrecht lasse nicht jede Art von Kampfhandlung zu, so Talmon. Die Staaten seien bei der Wahl der Mittel und Methoden der Kriegsführung durch das Völkerrecht eingeschränkt. Etwa durch das sogenannte Unterscheidungsgebot. Das besage: Kämpfer dürfen getötet werden, Zivilpersonen sind geschützt. Die Frage laute also, ob es sich um einen „unterschiedslosen Angriff“ gehandelt habe - oder ob dieser zielgerichtet gegen Hisbollah-Kämpfer erfolgt sei. Für Letzteres spreche, dass die explodierten Pager von der Miliz bestellt worden seien.
Welche Rolle spielen die zivilen Opfer?
Dass bei den Explosionswellen auch Zivilisten getötet wurden, spricht aus Sicht des Experten nicht zwangsläufig für ein völkerrechtswidriges Vorgehen. Denn das Kriegsrecht schließe zivile Opfer nicht grundsätzlich aus. Entscheidend sei die Abwägung „zwischen dem unmittelbaren militärischen Vorteil, den sich ein Staat durch die Aktion verspricht, und den zivilen Opfern“.
Laut Völkerrechtler Claus Kreß ist in diesem Zusammenhang jedoch auch zu prüfen, ob im Vorfeld alles getan wurde, um die zivilen Begleitschäden „auf ein nicht exzessives Maß zu begrenzen“. Oder ob es, umgekehrt, nicht absehbar gewesen sei, dass es bei Detonationen etwa in Supermärkten, wie Medien berichteten, zu „exzessiven Begleitschäden“ kommen würde. Kreß hält es für völkerrechtlich „höchst problematisch“, sollte Israel für die Anschläge verantwortlich sein. Allerdings, so betont der Experte, sei das bislang noch völlig unklar.
irs