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EZB-Zinsentscheidung
"Für Sparerinnen und Sparer schlechte Neuigkeiten"

Vermutlich würden die Zinsen heute nicht weiter gesenkt, aber möglicherweise im September, sagt Carsten Brzeski, Chefvolkswirt der ING-Bank, im Dlf. Die EZB habe sich hier für mehr Wirtschaftswachstum entschieden. Man müsse sich auf ein japanisches Szenario mit lang anhaltend niedrigen Zinsen einstellen.

Carsten Brzeski im Gespräch mit Christoph Heinemann | 25.07.2019
Zentrale der Deutschen Bank in Frankfurt am Main
Die Zeiten, in denen man irgendwo noch einen Zins auf ein Sparkonto bekomme, seien vorbei, sagte der Chefvolkswirt der ING-Bank, Brzeski, im Dlf (dpa)
Christoph Heinemann: Überraschungen in der europäischen Geldpolitik sind nicht ausgeschlossen. Mario Draghi könnte in der Sinkflugphase seiner Amtszeit als Präsident der Europäischen Zentralbank heute die Weichen für eine Zinsbewegung im September stellen. Begründung: Die Konjunkturaussichten sind nicht berauschend und die Inflationsaussichten schwach. Die EZB hält ihren Leitzins seit März 2016 auf dem Rekordtief von 0,0 Prozent. Der sogenannte Einlagensatz steht sogar bei -0,6 Prozent. Das bedeutet, dass Banken Strafzinsen zahlen müssen, wenn sie bei der EZB überschüssiges Geld parken. Diese Einlagenzinsen könnten sogar noch gesenkt werden. Diese Gemengelage wollen wir jetzt einordnen.
Am Telefon ist Carsten Brzeski, der Chefvolkswirt für Deutschland und Österreich der ING-Bank. Guten Morgen!
Carsten Brzeski: Guten Morgen!
Heinemann: Blicken wir zunächst auf die Zinsen: Mit welcher Entscheidung der EZB rechnen Sie?
Brzeski: Ich denke, das wird heute eine ganz knappe Kiste. Ich gehe mal davon aus, dass die Zinsen heute nicht verändert werden, dass aber Mario Draghi die Märkte und die Welt darauf vorbereiten wird, dass spätestens dann im September eine Zinssenkung kommt und wahrscheinlich auch noch mal das Anleihenkaufprogramm wieder gestartet wird.
Heinemann: Damit rechnen Sie, dass das wieder losgeht?
Brzeski: Ja, ich denke doch. Wir unterschätzen immer, dass die EZB unter Mario Draghi doch eine sehr aktivistische Notenbank geworden ist. Ich gehe davon aus, dass auch, weil die Konjunktur sich in den letzten Wochen noch mal verschlechtert hat, dass eine Zinssenkung da alleine einfach nicht reichen wird. Das heißt, die EZB, wenn sie irgendwie noch mal einen Unterschied machen möchte, wenn sie wirklich der Konjunktur noch mal einen richtigen Schub in den Rücken geben möchte, dann wird eine Zinssenkung nicht reichen, und dann muss der Anleihenkauf auch noch mal gestartet werden.
Carsten Brzeski, Chefvolkswirt der ING-Bank
Carsten Brzeski, Chefvolkswirt der ING-Bank (imago images / Hoffmann)
Heinemann: Was haben diese Anleihekäufe denn bewirkt?
Brzeski: Bisher haben die bewirkt, dass das ganze Zinsniveau in der Eurozone steil nach unten gegangen ist. Wir haben in Deutschland zum Beispiel … der deutsche Staat hat eine negative Rendite auf Staatsanleihen und ist da nicht der einzige damit. Das heißt, wir haben eine sehr niedrige Zinskurve in der gesamten Eurozone. Da sieht man auch mal wieder, dass zum Beispiel sich Konsumenten billiger verschulden können, dass Immobilienkredit extrem günstig geworden ist, dass aber auch Unternehmen sich extrem günstig finanzieren können. Die Finanzierungsbedingungen für die gesamte Wirtschaft sind so günstig wie noch nie geworden. Und das ist eine der Folgen des Anleihenkaufprogramms.
"Für Sparerinnen und Sparer schlechte Neuigkeiten"
Heinemann: Und was bedeutet das für Sparerinnen und Sparer?
Brzeski: Für Sparerinnen und Sparer sind das natürlich schlechte Neuigkeiten. Das heißt, dass jetzt wirklich die Zeiten, dass man irgendwo noch einen Zins auf ein Sparkonto bekommt, dass die vorbei sind, dass man sich eher drauf vorbereiten muss, dass wir eigentlich so ein japanisches Szenario haben in Europa, nämlich wirklich ein Jahrzehnt, vielleicht Jahrzehnte von extrem niedrigen Zinsen. Daran wird sich jetzt wirklich erst mal nichts ändern.
Heinemann: Herr Brzeski, sparen galt einmal als Tugend. Wieso wird die so bezeichnete hohe Kante den Menschen systematisch verleidet?
Brzeski: Ich denke, die EZB muss hier eine Wahl treffen in den letzten Jahren. Und die Wahl geht darüber, habe ich Wachstum, habe ich eine Verringerung der Arbeitslosigkeit, habe ich also mehr Leute in Beschäftigung. Oder sorge ich dafür, dass ich hohe Zinsen habe, dass ich weniger Leute mit einer Arbeit habe. Die Wenigen können zwar sparen, aber insgesamt geht es der Wirtschaft schlechter. Die EZB sorgt sich halt mehr darum, dass wirklich die gesamtwirtschaftliche Lage besser wird. Das kann sie nicht allein machen, und das ist das, was sie versucht zu tun. Wir haben allgemein, auch nicht nur in Europa, sondern weltweit, jetzt ein Niveau von niedriger Inflation, von niedrigen Zinsen, und das heißt, das risikofreie sparen gibt es nicht mehr. Man kann natürlich weiterhin sparen, muss aber ein gewisses Risiko nehmen.
Heinemann: Ist das noch Geldpolitik oder schon Wirtschaftspolitik?
Brzeski: Na ja, wenn man sich die europäischen Verträge und das Mandat der EZB anschaut, dann steht da natürlich in erster Linie drin das Erreichen von Preisstabilität, das stimmt, aber solange das Ziel von Preisstabilität erreicht ist oder noch nicht erreicht ist, muss die Europäische Zentralbank auch die allgemeine Wirtschaftspolitik Europas unterstützen. Das heißt, wir haben immer so ein bisschen so eine schwammige Definition. Das ist nicht nur Geldpolitik, das ist Geldpolitik, die darauf ausgerichtet ist, um ein höheres Wirtschaftswachstum zu haben, denn letztendlich – und das ist die Hoffnung der EZB – führt auch ein höheres Wirtschaftswachstum zu einer höheren Inflation, und dann erreicht die EZB wieder ihr Mandat.
"Politik spielt eine sehr große Rolle"
Heinemann: Herr Brzeski, welche Rolle spielt die Politik bei der Geldpolitik, also die Irankrise, Stichwort Öl, der Handelsstreit mit den USA oder Boris Johnson, der Großbritannien bis zum Reformationstag um jeden Preis aus der Europäischen Union herausführen will?
Brzeski: Die Politik spielt eine sehr große Rolle. Ich denke, dass die ganzen Notenbanker sich das immer mit extrem viel Bauchschmerzen anschauen werden, denn sie können nichts tun oder sie können die Politik nicht verändern. Aber die Politik hat jetzt in den letzten zwei, anderthalb Jahren einfach zu dieser extrem großen Unsicherheit in der Weltwirtschaft und auch in der europäischen Wirtschaft geführt. Diese Unsicherheit, die frisst mittlerweile Wirtschaftswachstum auf. Unsicherheit war das Wirtschaftswort letztes Jahr, das wird das Wirtschaftswort dieses Jahres sein. Und wir sehen, dass diese permanente politische Unsicherheit – Brexit, Handelskriege – dafür gesorgt haben, dass die Industrie allgemein sich wirklich in einem Sturzflug befindet und sich dieser Sturzflug jetzt auch auf die inländische Konjunktur auswirkt. Die EZB versuchen immer wieder, versuchen mit einem offenen Wasserhahn versuchen, irgendwie ein bisschen das Wasser wegzuwischen. Sie ersucht zu tun, was sie kann, um mit ihren Mitteln, mit der Geldpolitik, die Konjunktur ein bisschen zu unterstützen. Sie würde es natürlich viel lieber sehen, wenn die Politik auch reagieren würde. Das kann - wir brauchen in Europa nicht über Brexit oder Handelskriege zu sprechen -, aber es würde der EZB schon extrem stark helfen, wenn europäische Regierungen jetzt mehr investieren würden.
"Ohne Mario Draghi hätten wir wahrscheinlich den Euro in seiner jetzigen Form nicht mehr"
Heinemann: Acht Jahre lang stand Mario Draghi an der Spitze der Europäischen Zentralbank. Wie bewerten Sie diese Amtszeit?
Brzeski: Das ist wahrscheinlich eine relativ undeutsche Sichtweise, aber ich denke eine sehr erfolgreiche, denn ohne Mario Draghi an der Spitze der EZB hätten wir wahrscheinlich keinen Euro mehr aktuell. Das heißt, dieses Ganze, dass er machen wird, was nötig ist, um die Eurozone zu retten, war vor Jahren wichtig. Die EZB hat vor allem ihr Mandat ein bisschen sehr flexibel und sehr weit interpretiert, ist aber auch in den letzten acht Jahren wirklich fast der einzige richtige funktionierende Krisenmanager gewesen. Das heißt also, ohne Mario Draghi an der Spitze der EZB hätten wir wahrscheinlich den Euro in seiner jetzigen Form nicht mehr. Was für ihn schade sein könnte, ist, dass er natürlich jetzt in die Geschichtsbücher eingehen wird als der erste EZB-Präsident, der in seiner gesamten Amtszeit kein einziges Mal den Zins erhöht hat, sondern der wahrscheinlich eher zum Ende seiner Amtszeit noch mal mit einem großen Knall aus dem Büro rausgehen wird.
Heinemann: Und deshalb fragte die Wochenzeitung "Die Zeit" jetzt jüngst, ob diese Frau – gemeint ist die Nachfolgerin, nämlich Christine Lagarde – die Zinsen zurückbringt. Was meinen Sie?
Brzeski: Da gehe ich nicht von aus, ganz ehrlich. Ich denke auch, dass Frau Lagarde ein ganz anderer Typ ist als Mario Draghi. Mario Draghi ist wirklich ein Kenner aller Dossiers, aller inhaltlichen Punkte. Ich denke, Frau Lagarde wird mehr ein Manager werden der EZB. Sie wird versuchen, mehr einen Konsens innerhalb der EZB zu bilden, aber sie ist jetzt nicht jemand, der reinkommen wird und die Politik von Draghi der letzten acht Jahre zurückdreht. Das Interessante ist ja, dass Mario Draghi, als er ins Amt kam, genau das gemacht hat, denn damals hatten wir eine Situation, in der sein Vorgänger Jean-Claude Trichet den Zins noch zweimal erhöht hatte, kurz bevor er aus dem Amt ging. Und Mario Draghi hat in seiner ersten Amtshandlung den Zins gesenkt im November 2011. Das wird Frau Lagarde definitiv nicht machen. Ich denke, sie steht für eine moderate Fortsetzung der jetzigen EZB-Politik.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.