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Fahrerassistenzsysteme
Fußgänger sicher umkurven

Mehr Schutz für Fußgänger ist das Ziel eines Assistenzsystems für Autos, an dem Ingenieure bei Bosch arbeiten. Es soll Autofahrern helfen, plötzlich auftauchenden Hindernissen auszuweichen. Der Mensch startet in solchen Situation zwar intuitiv die richtigen Lenkbewegungen, kriegt aber zu oft die Kurve nicht.

Von Piotr Heller | 29.10.2015
    Dr. Lutz Bürkle präsentiert in Renningen das von seinem Team entwickelte Fahrerassistenzssystem von Bosch, das für mehr Sicherheit von Fußgängern sorgen soll.
    Dr. Lutz Bürkle präsentiert in Renningen das von seinem Team entwickelte Fahrerassistenzssystem von Bosch, das für mehr Sicherheit von Fußgängern sorgen soll. (Bosch Media Service)
    In einer Halle der Firma Bosch in Renningen steht ein unscheinbarer schwarzer Kombi. Erst auf den zweiten Blick erkennt man, dass es kein gewöhnliches Auto ist. Über dem Fahrer, also dort wo sich die Sonnenblende befindet, beobachtet eine Kamera durch die Windschutzscheibe, was sich vor dem Auto tut.
    "Wir haben jetzt hier vorne diese Stereo-Videokamera, die wir nutzen, die sich mit den zwei Augen den Bereich vor dem Fahrzeug anschaut. Und hinten die ganze Messtechnik", erklärt Lutz Bürkle, der die Entwicklung des Systems leitet. Die Messtechnik sitzt in einem handelsüblichen PC im Kofferraum des Autos. Sinn dieses Systems ist es, Fußgänger zu schützen.
    "Es gibt heute schon Systeme, die durch Notbremsen versuchen, Fußgängerunfälle zu vermeiden. Es ist aber so, dass damit nicht alle Unfälle vermieden werden können. Insbesondere, wenn Fahrzeuge schnell unterwegs sind oder die Fußgänger erst spät sichtbar werden. Da kann ein Ausweichmanöver noch schützen."
    Mit dem System aus Kamera und Messtechnik kann das Auto also einem Fußgänger ausweichen.
    Kamera erfasst Fußgänger
    Auf einer Teststrecke wird es auf die Probe gestellt. Dort steht mitten auf der Fahrbahn eine Puppe, die einen Fußgänger darstellen soll. Thomas Gussner, der ebenfalls an dem Projekt arbeitet, beschleunigt mit dem Wagen auf die Puppe zu und hat - noch - die Hände am Steuer. Thomas Gussner:
    "Wir fahren mit 50 km/h auf den Dummy zu. Ich nehme die Hände vom Lenkrad und das System weicht aus."
    Nur wenige Meter vor der Fußgänger-Puppe reißt der Wagen das Lenkrad herum, weicht nach links aus, lenkt dann wieder zurück. Innerhalb von Sekundenbruchteilen hat das Kamerasystem die Umgebung des Autos erfasst und die Gefahr erkannt, wie Lutz Bürkle erklärt:
    "Aus diesem 3D-Bild der Umgebung erkennen wir Fußgänger, andere Verkehrsteilnehmer, Gegenverkehr, wir erkennen die Fahrbahn und auch Hindernisse, die auf der Fahrbahn stehen. Und aus all diesen Informationen ermitteln wir dann einen Korridor, innerhalb dessen das Ausweichmanöver stattfinden kann."
    Im Ernstfall wäre das alles natürlich viel komplexer als in dieser Demonstration. Ein echter Fußgänger würde sich bewegen, genauso wie der Gegenverkehr. Es reicht also nicht, dass das System einen Fußgänger erkennt. Es muss vorausschauen - berechnen, wo er sich in einigen Sekunden aufhalten wird und so erkennen, ob ein Crash bevorsteht. Doch woher soll das Auto wissen, wie sich ein Fußgänger verhalten wird?
    "Die entscheidende Frage ist: Wenn Sie die Fahrbahn überqueren und es kommt ein Fahrzeug, halten Sie an? Versuchen Sie, aus dem Gefahrenbereich rauszukommen, oder laufen Sie dem Fahrzeug entgegen? Das ist eine Frage, mit der wir uns auch befasst haben. Aktuelle Forschungsfragen beschäftigen sich damit, auch anhand von der Kopfpose, der Kopfrichtung oder auch anhand der Stellung der Beine, also anhand einer Detailbetrachtung des Fußgängers, genau zu ermitteln, wie er sich zukünftig verhalten wird."
    Unfallvideos aus Korea trainieren die Software
    Für diese Detailbetrachtung nutzen die Ingenieure und Wissenschaftler bei Bosch Videoaufnahmen echter Unfälle. Die bekommen sie aus Südkorea, wo Taxis mit Kameras ausgestattet sind, die das Geschehen auf der Straße filmen. So zeichnen sie auch das Verhalten der Menschen kurz vor einem Unfall auf. Aber das System muss nicht nur erkennen, was der Fußgänger vorhat, sondern auch was der Fahrer will. Denn anders als bei der Demonstration, soll es in der Praxis nicht selbstständig ausweichen. Erst, wenn der Fahrer selbst ein Ausweichmanöver einleitet, greift es unterstützend ein.
    "Man könnte denken, dass es von Vorteil ist, wenn das System selber entscheidet: Jetzt mach ein Ausweichmanöver! Es zeigt sich aber, dass das aus unterschiedlichen Gründen nicht von Vorteil ist. Wenn man eben so ein Lenkmoment auf das Lenkrad aufschaltet und der Fahrer rechnet nicht damit, dann empfindet er das als Störung und lenkt diese vermeintliche Störung aus. Das heißt, man gewinnt durch so einen Lenkeingriff eigentlich nichts."
    Und Test haben gezeigt, dass Fahrer bei einem plötzlichen Hindernis von alleine anfangen auszuweichen. Nur schaffen sie es eben oft nicht, den Fußgänger unfallfrei zu umkurven. Dabei soll ihnen in Zukunft das Auto helfen. Und tatsächlich - wenn man darauf eingestellt ist, dass das Auto unterstützend eingreift - wirkt das Ganze im Selbstversuch recht intuitiv. 2018 könnte das System in Serie gehen, schätzt man bei Bosch. Und obwohl es heute noch darauf ausgelegt ist, den Fahrer zu unterstützen: Bald könnte es zu einem Stück Technik werden, die den Fahrer ersetzt. Denn die Straße beobachten, Fußgänger einschätzen und Ausweichrouten berechnen - das alles sind Fähigkeiten, die das selbstfahrende Auto irgendwann haben muss.