Was ist zu erwarten, wenn ein Sohn türkischer Eltern, die als Gastarbeiter nach Deutschland kamen, ein Buch mit dem Titel „Unser Deutschlandmärchen“ veröffentlicht? Eine Geschichte vom Ankommen gegen alle Widerstände? Eine skeptische Bestandsaufnahme? Eine Liebeserklärung vielleicht, eine zornige Abrechnung oder eine sentimentale Familiengeschichte? Dinçer Güçyeter zieht allen Erwartungen den Teppich unter den Füßen weg und beschert einen in jeder Hinsicht ungewöhnlichen Roman. Sehr persönlich und immer wieder überraschend im Wechsel der Tonlagen erzählt er vom Aufwachsen mit widersprüchlichen Regelsystemen, vom Finden der eigenen Sprache, von der generationsübergreifenden Suche nach Heimat und vom Überschreiten der Grenzen von Herkunft, Klasse und Geschlechterrolle.
In weiten Teilen ist es ein Zwiegespräch mit der Mutter, der Verkörperung seiner Erinnerung: „Das ist vielleicht die Tragödie in dieser Geschichte, dir näherkommen und doch immer wieder Abschied nehmen zu wollen. Ein Widerspruch, den ich gerade beim Schreiben immer wieder empfinde. Nichts soll mehr bei mir bleiben, keine Erinnerung, nichts! Und doch suche ich den Geruch, die Gesichter, deine Stimme aus einer Zeit, die schon längst nicht mehr existiert.“
Was wissen wir schon wirklich von unseren Eltern? – Auch deshalb trägt dieses Buch das „Märchen“ im Titel: „Vielleicht gab es das alles gar nicht, vielleicht ist alles nun von mir erfunden, vielleicht nehme ich das alles aus dem Nichts und schreibe es auf Wasser auf, auch das hier wird nicht bleiben.“
Der Film, in dem du nicht mitspielen darfst
„Unser Deutschlandmärchen“ ist das Romandebüt eines Dichters, unübersehbar. In diesem Frühjahr hat Güçyeter den Peter-Huchel-Preis bekommen, die wichtigste Auszeichnung für Lyriker hierzulande. In seinem Roman findet sich eine Fülle von Motiven, Bildern und Fügungen, die den Lesern und Leserinnen seiner Gedichte so oder ähnlich begegnen: „Über dir fliegen Falken, Spatzen, hinter dem Vorhang deines Auges beginnt jeden Tag der Film neu, in dem du nicht mitspielen darfst.“
So lautet der Refrain eines Kapitels, in dem mit verbalen Versatzstücken des Rap Medienzitate zu den tödlichen Brandanschlägen in Mölln und Solingen Anfang der Neunziger bis zu den NSU-Morden eingefasst werden. Mit der offenen Gewalt gegen Einwanderer kehrte die Angst zurück. Was immer da war, war deren Wissen, in Deutschland eben doch nicht zu Hause zu sein. Obwohl man schon seit Jahrzehnten hier lebte.
Im Jahr 1965 kamen Dinçer Güçyeters frisch verheiratete Eltern aus der Westtürkei an den Niederrhein, die Mutter Fatma arbeitete in der Fabrik, beim Spargelstechen und in der Kneipe, die ihr Mann in Nettetal eröffnet hatte. Immer war das Geld knapp, weil der Vater sich auf Verlustgeschäfte einließ, weil in seiner Kneipe großzügig angeschrieben und oft nicht gezahlt wurde. Jeden Sommer ging es von der deutschen Provinz in die türkische, in die alte Heimat, wo der Sohn Fatmas anderes Gesicht kennen lernte, die traditionsverhaftete Strenge gegenüber dem für allzu empfindsam gehaltenen Sohn, und die Verbrechen, die im Namen dieser Tradition verübt wurden, etwa wenn Frauen ohne Mann als Freiwild galten.
Was zum Mann-Sein gehört
Da verstand der Sohn die Mutter nicht: „An solchen Abenden sah ich dich als Mittäter, ich schämte mich für dich. Eine Fledermaus wurde in deinem Gesicht größer und größer.“ Der Roman wechselt die Perspektiven, mal spricht der Sohn, mal die Mutter, und so ist immer wieder Raum für Fatmas Gegenrede: „Dinçer, sei nie zu schnell mit deinem Urteil, weder jetzt noch später. Die Wahrheit bleibt oft ein Geheimnis.“
Auch die literarischen Formen wechseln. Neben lyrischer, bildstarker Verdichtung steht die munter geschilderte Anekdote oder die dramatische Szene, neben klagend-melancholischer Litanei die entnervte Anklage, die sarkastische Zwischenbilanz, das poetische Manifest.
Als Kind hat der Sohn auf dem Parkplatz bei der Kneipe jedes Jahr die Roma-Familien mit ihren Pferden bestaunt, den Zirkus, hat beim Bauern und im Bordell des Onkels ausgeholfen. Als Jugendlicher liest er Achmatova, Rilke, Lasker-Schüler. Manchmal trägt er heimlich die Stöckelschuhe der Mutter. Er schreibt. Aber zum Mann-Sein gehört ein Beruf, mit dem man Geld verdient:
„Mit 16 beginne ich eine Lehre im Werkzeugbau. (…) Am ersten Tag werde ich von allen Kollegen ausgelacht, weil ich sie sieze, okay, albern, aber ich weiß es nicht besser. Was für ein Weichei, sagen sie untereinander. Was für ein Weichei, sagen sie untereinander. Ich sehe schon, diese Schwanz-Welt hat ihre eigenen Gebräuche.“
Das Feilen an der Erinnerung
All dies aufzuheben, ist Dinçer Güçyeter angetreten, in seinen Gedichten und nun in seinem Roman. Fatma hat erfahren, dass Erinnerung nicht in Truhen aufbewahrt wird. Für Dinçer ist sie das Rohmaterial, an dem er feilt, bis es die richtige Form hat. Wie schön, dass es dabei Funken in allen Farben schlägt.
Dinçer Güçyeter: „Unser Deutschlandmärchen“
Verlag Mikrotext, Köln.
216 Seiten, 25 Euro.
Verlag Mikrotext, Köln.
216 Seiten, 25 Euro.