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Fall Anis Amri
"Warum es keine Festnahme gab, ist völlig offen"

Der Attentäter von Berlin, Anis Amri, hätte nach Ansicht des Landes Berlin bereits vor dem Anschlag wegen Drogenhandels festgenommen werden können. Das Problem seien hier also nicht fehlende Gesetze, sondern Vollzugsdefizite, sagte der Linken-Politiker Frank Tempel im DLF. Die Forderung nach einem Untersuchungsausschuss noch vor der Bundestagswahl sei aber unsinnig.

Frank Tempel im Gespräch mit Ann-Kathrin Büüsker |
    Der Linken-Bundestagsabgeordnete Frank Tempel spricht im Parlament.
    Der Linken-Bundestagsabgeordnete Frank Tempel. (imago / Metodi Popow)
    Ann-Kathrin Büüsker: Zwölf Menschen starben am 19. Dezember 2016, weil der gebürtige Tunesier Anis Amri sich einen LKW gestohlen hatte und damit über den Weihnachtsmarkt auf dem Berliner Breitscheidplatz fuhr – ein Anschlag mit terroristischem Hintergrund. Amri war den Behörden als Gefährder bekannt, sowohl in NRW als auch in Berlin, hat an beiden Orten zwischenzeitlich gelebt, wurde auch 2016 umfangreich vom LKA Berlin überwacht und hätte wegen der dort erlangten Erkenntnisse festgenommen werden können. Zu diesem Ergebnis kommt jetzt das Land Berlin. Der Innensenator hat gestern Anzeige wegen Strafvereitelung im LKA gestellt. Die Vermerke könnten nämlich nachträglich geändert worden sein. Amri soll gewerbsmäßig mit Drogen gehandelt haben; in den Akten war dann aber nur von Drogen-Kleinsthandel die Rede. Wegen gewerbsmäßigem Handel hätte man ihn festsetzen können.
    Darüber möchte ich jetzt sprechen mit Frank Tempel. Er sitzt für die Linke im Bundestag, ist stellvertretender Vorsitzender im Innenausschuss und selbst gelernter Kriminalbeamter. Guten Morgen, Herr Tempel.
    Frank Tempel: Einen schönen guten Morgen.
    Büüsker: Herr Tempel, wie sehr haben Sie diese Vorwürfe überrascht?
    Tempel: Dass irgendwo Fehler passiert sind, daran haben wir ja eigentlich schon alle geglaubt. Warum wurde er nicht verhaftet, war die Frage, die eigentlich mit am Häufigsten gestellt war. Es war bekannt, dass eine Vielzahl von Delikten, Erschleichen von Leistungen, Drogenhandel, im Gespräch war. Was mich jetzt eigentlich entsetzt ist, dass erneut manipuliert wurde. Wir kennen das aus dem NSU-Untersuchungsausschuss; da wurden Akten geschreddert, um zu verheimlichen, wie viele V-Leute des Verfassungsschutzes an den Tätern eigentlich dran waren. Jetzt hören wir wieder, dass bei Ermittlungsbehörden Akten verändert wurden, um bestimmte Sachen zu manipulieren. Und das ist das Eigentliche, was mich gerade richtig entsetzt.
    Büüsker: Die Beamten wussten von dem gewerbsmäßigen Drogenhandel, haben ihn aber nicht festgesetzt. Wieso ist das zu erklären? Es ist doch eigentlich deren Job, so jemanden dann festzunehmen.
    "Ich glaube eher nicht an Schlamperei"
    Tempel: Auch das kann ich mir als ehemaliger Kriminalist nicht vorstellen. Ich kenne keinen Polizisten, der nicht motiviert wäre, einen Drogendealer mit Migrationshintergrund, der dort handelt, entsprechend festzunehmen. Da bin ich sehr auf die Aussage der Beamten gespannt. Ich glaube eher nicht an Schlamperei, an Nachlässigkeit. Ich würde sehr gerne abwarten, ob es da nicht doch eine Veranlassung zu gab, ob man doch die Hände weggelassen hat von Amri, weil man doch dran war mit verschiedenen anderen Behörden auch. Da, denke ich, sind wir mit der Aufklärung noch lange nicht am Ende. Das Motiv, warum hier keine Festnahme war, denke ich, das ist bislang völlig offen.
    Büüsker: Wenn Sie sagen, dran war mit anderen Behörden, was meinen Sie damit?
    Tempel: Wir hatten ja vorher schon, als Amri ganz offiziell auch beobachtet wurde, dass man versucht hat, ihn nicht aufzuschrecken, nicht durch polizeiliche Maßnahmen aufzuschrecken. Das war in Nordrhein-Westfalen so, das ist auch bekannt, dass man da eine Zeit lang praktisch die Finger stillgehalten hat. Offiziell war das ja zu dem Zeitpunkt, vor dem Attentat auf dem Weihnachtsmarkt, nicht mehr der Fall. Und hier würden wir gerne wissen, ob auch das jetzt stimmt, oder ob das ebenfalls die Unwahrheit war. Und ob hier ganz bewusst eine Verhaftung unterlassen wurde.
    Büüsker: Das heißt, Sie vermuten, dass man ihn hat laufen lassen, um durch ihn neue Erkenntnisse über mutmaßliche Terroristen in Deutschland zu bekommen?
    Tempel: Ich bin ganz einfach Kriminalbeamter und kann mir nicht vorstellen, dass man keine Motivation bei der Polizei hat, jemanden, der im größeren Umfang mit Drogen handelt, nicht festzunehmen.
    Büüsker: Könnte es nicht auch so gewesen sein, dass die Beamten darauf fixiert waren, okay, wir suchen einen Terroristen, jetzt handelt der mit Drogen, das wollen wir uns nicht einfangen, dafür sind wir nicht zuständig?
    Tempel: Das entspricht normalerweise nicht dem Berufsbild eines Polizeibeamten. Drogenhandel im größeren Stil ist ein Verbrechenstatbestand. Ich kann mir schon vorstellen, dass man jetzt über kleinere Drogendelikte, Konsum etc., beim Staatsschutz vielleicht nicht so genau hinguckt. Das ist nicht denen ihr Schwerpunkt. Aber wenn es hier um einen größeren Maßstab geht, dann zieht man die Kollegen der anderen Abteilungen hinzu. Und dann hat man Maßnahmen erst recht. Wir Erinnerung uns ja: Es wurde immer wieder gesagt, es reichte nicht ganz, um die Gefährlichkeit von Amri so einzustufen, dass man hier wirklich nach dem Gefahrenabwehrrecht der Polizei hätte handeln können. Und dann gilt das Al-Capone-Prinzip auch bei der Polizei. Wenn wir ihn deswegen schon nicht kriegen, wir können ihn aber sicherheitshalber doch aus dem Verkehr ziehen, denn hier liegt eine schwere Straftat vor, und dann ist er auch tatsächlich erst mal weg. Und damit auch im Zweifel die Gefahr erst mal gebannt. Hier interessiert mich das Motiv, warum man genau das nicht getan hat.
    Büüsker: Was bedeuten all diese neuen Erkenntnisse für Sie jetzt insgesamt für die Beurteilung des Falles Anis Amri?
    "Wir haben eine ganze Menge Hausaufgaben"
    Tempel: Da müssen wir einige Schlussfolgerungen ziehen. Erst mal ist eine solche Aufklärung eben nicht für den Wahlkampf geeignet. Gerade die Union hat sich ziemlich in der Vergangenheit auf Nordrhein-Westfalen eingeschossen. Offensichtlich sind aber die Mängel, wo ja die CDU damals den Innensenator gestellt hat, doch noch mal gravierender. Auch da warne ich aber davor: Wir wollen daraus keinen Wahlkampf machen, sondern man muss die richtigen Schlüsse daraus ziehen, wie man die Kontrolle auch solcher Mechanismen besser formulieren kann. Wir müssen auch daraus lernen, dass es nicht fehlende Gesetze, fehlende Befugnisse sind, sondern dass wir hier Vollzugsdefizite haben. Die müssen analysiert werden und die müssen behoben werden. Wir brauchen nicht ständig neue Verschärfungen im Asylrecht, im Strafrecht, Fußfesseln etc., was jetzt alles diskutiert wurde in den letzten Monaten, sondern wir müssen gucken, warum wir solche Vollzugsdefizite beim Verfassungsschutz, bei der Polizei, bei der Bundesanwaltschaft haben. Und die müssen wir beheben. Und da haben wir eine ganze Menge Hausaufgaben.
    Büüsker: In Nordrhein-Westfalen hat es ja bereits einen Untersuchungsausschuss zum Fall Amri gegeben. Der beendet jetzt seine Arbeit, stand aber auch unter dem Eindruck der Wahlen in Nordrhein-Westfalen. Der Berliner Senat denkt jetzt auch über einen Untersuchungsausschuss nach. Wäre es nicht eigentlich Zeit für einen U-Ausschuss auf Bundesebene?
    Tempel: Wäre es auf alle Fälle! Ich wäre sofort dafür. Aber der muss auch in einer entsprechenden Qualität erfolgen. Und der Bundestag endet nun mal. Ich glaube nicht, dass wir die Legislatur wegen einem Untersuchungsausschuss beenden können. Das heißt, wir haben jetzt den Sonderermittler in Berlin, der hat Ergebnisse. Die Staatsanwaltschaft wird auch Ergebnisse liefern. Die werden zum Beispiel die betreffenden Polizeibeamten befragen, warum das passiert ist. Daraus wird es neue, weitere Erkenntnisse geben. Der Bundestag wird im September gewählt und ich wäre dafür: Es gehört Akteneinsicht dazu. Der Sonderermittler, der ist Vollzeit damit beschäftigt und hat auch etliche Wochen gebraucht, um das jetzt herauszufinden. Wenn ein Untersuchungsausschuss des Bundes gut arbeiten will, dann kann er eigentlich nur mit Beginn der nächsten Legislatur eingesetzt werden, kann dann darauf basieren, was die Berliner und was die Nordrhein-Westfalen herausbekommen haben, was die Staatsanwaltschaft rausbekommen hat. Und kann dann auch Schlüsse ziehen, ob auch Bundesbehörden entsprechend daran beteiligt sind. Und dann wird es mit einer entsprechenden Qualität. Alles was wir jetzt vorher machen, wäre Wahlkampfgetöse, ohne dass ernsthaft Ergebnisse zu erwarten wären. Und davor kann ich nur warnen. Das hat ja die Vergangenheit gezeigt, jetzt auch in Nordrhein-Westfalen, dass da sehr, sehr viel Wahlkampf drin war und sehr, sehr wenig Aufklärung.
    Büüsker: So die Einschätzung von Frank Tempel. Er ist stellvertretender Vorsitzender des Innenausschusses, sitzt für Die Linke im Bundestag und ist selbst Kriminalbeamter. Vielen Dank, Herr Tempel, für das Interview hier im Deutschlandfunk.
    Tempel: Bitte schön.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.