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Fans mit Deutschlandfahne
"Wie eine Vereinsfarbe"

Identifikation mit der Mannschaft statt Patriotismus: Die Deutschlandfähnchen zur Fußball-WM sieht Sportpsychologe Bernd Strauß als Zeichen der Verbundenheit mit der Nationalelf - "so wie jemand Schalke-Fan ist". Mit Nationalstolz habe das wenig zu tun, sagte Strauß im DLF.

Bernd Strauß im Gespräch mit Jürgen Liminski | 12.07.2014
    Fan zu sein könne einem Menschen zu einer positiven Stimmung und sogar zu einer Erhöhung des Selbstwertgefühls führen, wenn die Mannschaft gewinnt, so Bernd Strauß. Er ist Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft für Sportpsychologie und Professor am Institut für Sportwissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.
    Wegen seiner weltumspannenden Rolle habe der Fußball auch eine erhebliche Bedeutung bei der Stiftung von Frieden. Zur Fußball-WM könnten sich Menschen weltweit medial zusammentun. "Das schafft Nähe", sagte Strauß.

    Jürgen Liminski: Der Begründer der Massenpsychologie, der französische Arzt und Anthropologe Gustave Le Bon hat vor mehr als 120 Jahren in seinem Standardwerk "Die Psychologie der Massen" eine Weisheit niedergeschrieben, die sich noch heute beobachten lässt, zum Beispiel: "Dem Menschen einen Glauben schenken heißt seine Kraft verzehnfachen." Das muss kein religiöser Glaube sein - Gustave Le Bon selbst war nicht religiös - das kann auch der Glaube an eine Idee, etwa an die Freiheit sein. In der Masse der Gleichgesinnten und gleich Fühlenden hält man sich jedenfalls für stark. Gilt das auch für die Idee, Weltmeister zu sein oder zu werden im Fußball? Was geht in den Köpfen, vielleicht mehr noch in den Willensaggregaten von Fußballern und Fans vor? Kann man diese Kräfte kanalisieren? Zu diesen Fragen begrüße ich Professor Bernd Strauß, er ist der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft für Sportpsychologie und lehrt am Institut für Sportwissenschaft in Münster. Guten Morgen, Herr Strauß!
    Bernd Strauß: Guten Morgen!
    Liminski: Herr Strauß, ich vermute, Sie werden heute und morgen Abend vor dem Fernseher sitzen, so wie wahrscheinlich wieder 33 Millionen Menschen in diesem Land - ich übrigens auch. Warum tun Sie das? Aus Spaß und Freude am Spiel, um nachher mitzureden oder aus Begeisterung für die friedensstiftende Wirkung einer Nebensache?
    Strauß: Ich könnte natürlich zunächst mal sagen, beruflich, damit wir sozusagen dann nächste Woche wieder miteinander sprechen können, aber da sind wir eigentlich schon genau beim Thema, weil wir dann natürlich alle untereinander auch kommunizieren können, darüber reden können, und weil wir sozusagen auch diese Gemeinsamkeit auch fühlen können, geradezu spüren können, wir sind Teil dann eben auch einer großen Masse, die dann einer Mannschaft da zuschauen kann. Und diese Gelegenheiten sind in der Tat sehr selten. Wenn man sich beispielsweise die Einschaltquoten der deutschen Nationalmannschaft anschaut, also nicht nur während dieser Weltmeisterschaft, sondern auch früher, dann sind das eben die Gelegenheiten, wo viele Menschen vor dem Fernseher zusammenkommen.
    "Der Stolz verändert sich nicht"
    Liminski: Welche Rolle spielt denn dabei die Nation, der Patriotismus?
    Strauß: Da muss man sagen, da gibt es unterschiedliche Auffassungen, durchaus auch Studien dazu. Also Patriotismus in diesem Sinne muss nicht notwendigerweise eine Rolle spielen, also genauso wenig, wie das natürlich dann auch der Fall ist, wenn jemand ein Fan von Bayern München beispielsweise ist oder ein Fan von Borussia Dortmund oder Schalke 04. Im Kern geht es um die Frage, dass man sich identifiziert mit einer Mannschaft, quasi in enger Verbindung dazu steht, auch ein Stück seines Selbstwertes auch generiert als Fan. Und in der Literatur wird ganz häufig dann auch von sogenannten "Die-Hard-Fans" gesprochen, also Fans, die auch in der Niederlage noch zu ihrem Verein stehen. Das ist etwas, was einer Person auch sehr viel Emotion, sehr viel Stimmung, sehr viel positive Stimmung geben kann, auch Optimismus geben kann und Bündnis geben kann. Aber das musst nicht notwendigerweise Patriotismus bedeuten. Wir selbst machen eine Studie jetzt hier gerade in Münster, schon eigentlich zum vierten oder fünften Mal seit 2002, also während der Fußballweltmeisterschaften und auch Europameisterschaften befragen wir hier Münsteraner, unter anderem eben auch nach ihrer Identifikation mit der deutschen Nationalmannschaft, also über den gesamten Zeitraum jeweils hinweg. Aber wir fragen auch gleichzeitig nach, wie stolz sind Sie auf Deutschland, nach dem Nationalgefühl und solchen Dingen. Und interessanterweise verändert sich die Identifikation mit der deutschen Nationalmannschaft schon auch über die Zeit mit dem Erfolg der deutschen Nationalmannschaft, also die Nationalmannschaft gewinnt mehr Fans. Aber der Stolz auf Deutschland, also unabhängig sozusagen von der Nationalmannschaft, der verändert sich über die gesamte Zeit nicht. Man kann dann die Symbole, wie beispielsweise, dass dann die deutsche Flagge als Autofähnchen dient oder auf die Wange gemalt wird und so weiter, eher als Symbol sehen, also wie eine Vereinsfarbe sehen, also wie ein BVB-Schal beispielsweise.
    Liminski: Sehe ich das richtig, dass man dann sagen kann, sind die Deutschen ein Fähnchenvolk? Gilt der Patriotismus nur partiell, also für den Sport?
    Strauß: Ich würde das auch nicht Patriotismus nennen. Ich würde das Identifikation nennen. Das ist das Zeichen, dass man verbunden ist mit der deutschen Nationalmannschaft, und das ist im Grunde - also ich sehe das tatsächlich analog, wie dass jemand ein Schalke-Fan ist und dann ein Fan-Utensil von Schalke trägt und dies eben nach außen dann auch zeigt. Diesen Übergang, dass dieses dann gleichzeitig etwas mit Nationalgefühl, Patriotismus bedeuten muss, den sehe ich nicht so unmittelbar, zumal man natürlich sagen muss, die Nationalmannschaft hat eben nicht viele Fan-Utensilien, vielleicht das Trikot, das man tragen kann. Aber das wollen natürlich auch nicht alle, und dann bleibt die deutsche Flagge, die als quasi Symbol herhält, Fan der deutschen Nationalmannschaft zu sein.
    Liminski: Nun ist diese Identifizierungswirkung weltweit zu beobachten. Hat der Sport eine verbindende, vielleicht sogar weltumspannende Friedenswirkung? Was geht denn in diesen Köpfen von Fans vor?
    Strauß: Das denke ich tatsächlich auch. Also insbesondere Fußball, aber andere Sportarten natürlich auch, haben da eine ganz wichtige Funktion, insbesondere deshalb auch, weil die Verbände, also der DFB, das weiß ich nun ganz sicher, aber viele andere Verbände auch, und die Weltverbände auch eben sehr viel Energie da hinein setzen, auch friedensverbindend und friedensstiftend zu sein. Das bedeutet natürlich nicht unmittelbar, dass es dann nicht auch ernste Auseinandersetzungen zwischen Völkern oder zwischen Gruppierungen dann geben kann wegen des Fußballs. Wir sehen ja durchaus auch jede Menge Gewalt auch in den Stadien, die dann aber letztlich gesehen viel weniger politisch motiviert sind als eben auf anderen Gründen basieren. Nehmen wir beispielsweise Hooligan-Gewalt oder so etwas, die in aller Regel eben nicht politisch motiviert ist. Nein, also, wegen dieser weltumspannenden Rolle, die der Fußball insgesamt hat, hat er eben da natürlich auch in dieser Richtung auch eine ganz erhebliche Bedeutung, weil Menschen sich weltweit eben auch zusammentun können, medial auch zusammentun können und ein solches Ereignis wie die Fußballweltmeisterschaft dann auch gemeinsam verfolgen können. Das schafft sozusagen auch Nähe.
    "Erhöhung des Selbstwertgefühls"
    Liminski: Bei nicht wenigen lateinamerikanischen Spieler, etwa den Brasilianern, waren echte, ich sag mal, Gebetsszenen zu beobachten, wenn sie ausgewechselt werden oder bevor sie das Feld betreten oder auch nach einem Tor. Ist das eine emotionale Übersteigerung des Kickens? Wie erklären Sie die, ich sag mal, Metaphysik eines runden Lederstücks, voll mit Luft?
    Strauß: Da muss man natürlich auf der einen Seite auch individuell schauen. Sicherlich wird es Spieler geben, die auch einen ganz festen Glauben haben an ihre Religion und dieses dann auch demonstrieren wollen. Und für einige wird es sicherlich dann mehr eine Art Ritual sein, also ein Ritual, wie man auch andere Dinge sozusagen außer Bekreuzigung sich da auch dann denken kann. Und für diese, die dann nicht fest verwurzelt sind in dem Glauben, aber die es dann trotzdem tun, ist es mehr für sich selber etwas, das man sagen kann, ja, also Selbstvertrauen schöpfen, also mehr in diesem psychologischen Sinne. Dann auch für die anderen natürlich insofern, aber, wie gesagt, das kann also durchaus individuell ganz unterschiedliche Bedeutungen dann auch haben.
    Liminski: Nun hat die Begeisterung auch eine gewisse hypnotisierende oder betäubende Wirkung. Was passiert denn, wenn diese Begeisterung nachlässt?
    Strauß: Ach, es kommt natürlich auch immer ein bisschen auf den Ausgang des Spiels bei diesen Dingen dann auch an. Nehmen wir mal außerhalb von übersteigerter Enttäuschung, die sich vielleicht dann auch bei dem einen oder anderen in Gewalt leider dann artikuliert und wo dann entsprechende Maßnahmen auch zu treffen sind. Oder eben auch ein Zuviel, häufig begleitet übrigens auch in zu viel Alkoholkonsum, das eine Rolle spielt. Es kann eben dieses auch, das haben verschiedenste Studien auch gezeigt, also die Identifikation mit einer Mannschaft kann eben dann, wenn die eigene Mannschaft gewinnt, auch zu einer eigenen Erhöhung des Selbstwertes natürlich führen. Auch über einen gewissen Zeitraum, sogar auch bis hin zu einem Gefühl, leistungsfähiger zu sein und selber den Alltag besser bewältigen zu können. Das kann in der Tat natürlich auch sehr positive Effekte haben. Und auch eine Art Selbstbewusstsein, das durchaus auch gesteigert sein kann. Ich meine, hier muss man natürlich aber auch realistisch sein. Die Wirklichkeit, also außerhalb des Fußballs, in unserem Leben, holt uns natürlich dann immer schon auch wieder ein nach einer Zeit, aber man kann sozusagen solche kurzfristige Effekte durchaus sehen.
    Deutsche Mannschaft: "Sehr fokussiert"
    Liminski: Wagen wir mal eine Ferndiagnose: In welcher psychologischen Verfassung sehen Sie das deutsche Team?
    Strauß: Wir können ja immer nur von außen schauen an der Stelle, und ich weiß ja, dass mit Hans-Dieter Hermann, dem deutschen Sportpsychologen an der Seite der Mannschaft, und von Jogi Löw, dann ein exzellenter Fachmann vertreten ist und auch ein Mitglied unserer Arbeitsgemeinschaft. Der Eindruck, der sich von außen darstellt, ist ein ganz hervorragender. Die Mannschaft scheint sehr fokussiert zu sein, auf das Ziel orientiert zu sein, lässt sich nicht aus der Ruhe bringen, verfällt nicht in einen Überschwang, auch nicht im Brasilien-Spiel, was man durchaus gesehen hat, was nun wirklich ein besonderes Spiel gewesen ist. Ist quasi dann nicht überschwänglich geworden, sondern hat da auch an der Stelle nicht das Ziel aus den Augen verloren. Und auch die Kommentare im Nachhinein waren so entsprechend, dass man sagen kann, das Spiel, das Halbfinale wird als ein besonderes gesehen. Man hat gesehen, wie stark die deutsche Mannschaft sein kann, aber Argentinien ist in der Tat ein anderer Gegner, und ich denke, die Vorbereitung der ganzen Mannschaft und der Psychologie-Abteilung und der Medizinabteilung gilt dann dem nächsten Spiel, und das vorherige Spiel ist in der Tat völlig abgehakt.
    Liminski: Die Magie des runden Leders. Fußball und Psychologie. Das war Professor Bernd Strauß. Er ist der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft für Sportpsychologie und lehrt am Institut für Sportwissenschaft in Münster. Besten Dank für das erhellende Gespräch, Herr Strauß. Ich glaube, ich werde mich heute Abend auch selbst beobachten.
    Strauß: Schönen Tag!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.