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Fatma Aydemir: "Dschinns"
Leben ohne Partykeller

In ihrem zweiten Roman „Dschinns“ erzählt die Journalistin und Schriftstellerin Fatma Aydemir von einem Mann, der sich in Deutschland totgearbeitet hat. Und von den Versuchen seiner Kinder, in einem Land heimisch zu sein, in dem sie sich nicht willkommen fühlen.

Von Christoph Schröder |
Die Schriftstellerin Fatma Aydemir und ihr Roman „Dschinns“
Die Schriftstellerin Fatma Aydemir und ihr Roman „Dschinns“ (Foto: (c) Sibylle Fendt, Buchcover: Carl Hanser Verlag)
Vor drei Jahren erschien ein Band mit dem provokativen Titel „Eure Heimat ist unser Albtraum“. Die 14 darin gesammelten Texte beleuchteten unterschiedliche Aspekte der deutschen Gegenwart aus der Perspektive von Schriftstellern mit Migrationserfahrung. Auch Fatma Aydemir, neben Hengameh Yaghoobifarah eine der beiden Herausgeberinnen des Buchs, steuerte einen Beitrag bei.
„Arbeit“, so war die Erzählung überschrieben. Darin leuchtet Aydemir ihren familiären Hintergrund im Hinblick auf die Bedingungen aus, unter denen Migranten der ersten Generation in Deutschland oft in einer Art Parallelwelt zum bundesrepublikanischen Alltag existierten. Der Zustand, den Aydemir skizziert, ist schizophren. Einerseits wurden die so genannten Gastarbeiter angefeindet, andererseits aber waren sie unabdingbar geworden für das Funktionieren und die Erhaltung des Wohlstands des Landes:
„Ich bin im Deutschland der Neunzigerjahre aufgewachsen, in dem die widersprüchlichen Parolen ‚Ausländer sind faul‘ und ‚Ausländer nehmen uns die Arbeit weg‘ teilweise aus denselben Mündern miteinander konkurrierten. In meiner eigenen Familie, die über das Anwerbeabkommen zwischen der BRD und der Türkei in den frühen Siebzigerjahren eingewandert ist, konnte es sich weder jemand leisten, faul zu sein, noch, irgendwem die Arbeit wegzunehmen. Alle arbeiteten immer in den Jobs, die nicht für Deutsche, sondern für sie vorgesehen waren. Leute wie mein Großvater wurden angeworben, weil sie leichter ausgebeutet werden konnten als inländische Arbeiter_innen.“

Der Traum von einem Zuhause

Dieser Großvater dürfte ein Vorbild für jene Figur gewesen sein, mit der Fatma Aydemir ihren neuen Roman in einer atmosphärisch beklemmenden Szene eröffnet. Ein Mann namens Hüseyin steht im Jahr 1999 in einer neu eingerichteten Wohnung in Istanbul und blickt sich stolz um. Sein Körper schmerzt; daran hat er sich gewöhnt. Vor 28 Jahren, im Frühjahr 1971, ist Hüseyin aus seinem Dorf in der Osttürkei nach Deutschland aufgebrochen, um Geld zu verdienen. Er hat in einem industriellen Betrieb harte Arbeit verrichtet, sich buchstäblich den Rücken krumm geschuftet, vier Kinder großgezogen und währenddessen immer Geld beiseitegelegt, um sich den Traum einer eigenen Wohnung zu verwirklichen. Nicht dort, wo er hergekommen ist, nicht in dem Dorf an der Grenze zu Armenien, sondern in der großen, zwei Tagesreisen entfernten Stadt Istanbul. Dieser Tag könnte also ein Höhepunkt in Hüseyins Leben sein:
„Und nun hast du es endlich geschafft. Du bist neunundfünfzig und Eigentümer. Wenn in ein paar Jahren Ümit die Schule beendet und du endlich Deutschland, dieses kalte, herzlose Land, verlassen kannst, dann gibt es diese Wohnung hier mit deinem Namen auf dem Klingelschild. Hüseyin! Du hast endlich einen Ort gefunden, den du dein Zuhause nennen kannst.“
Im ersten und im letzten Kapitel von „Dschinns“ spricht Aydemirs Erzählinstanz ihre Figuren in der zweiten Person direkt an. Diese Perspektive erzeugt zum einen eine empathische Nähe, zum anderen aber auch einen logischen Widerspruch, denn streng genommen werden hier einem Menschen Dinge über sich und sein Leben erzählt, die er selbst am besten weiß. Die unklare Perspektive der Erzählstimme zu den Figuren sorgt im Lauf des Romans immer wieder für Irritation.

Ausbeuter und Ausgebeutete

Im Auftaktkapitel dient die Perspektive aber auch zum Aufbau einer Fundamentalopposition, die dem Roman seine Schärfe und seine Wucht verleiht. Es geht um das Aufeinanderprallen gesellschaftlicher Klassen, um diejenigen, die für das System ihre Körper ruinieren, und um diejenigen, die davon profitieren, um „Kanaken“ und um „Kartoffeln“, wie Aydemirs Figuren es ausdrücken, um Ausgebeutete und Ausbeuter:
„Und nächste Woche beginnt auch für dich endlich die Rente, Hüseyin. Sie nennen es Frührente, doch nichts daran fühlt sich früh an.“
„Sie“ – das sind die Almans, die Biodeutschen in ihren Einfamilienhäusern mit Partykeller; die am Wochenende Minigolf spielenden Bürgerfamilien, die ihren als selbstverständlich empfundenen Wohlstand absichern, indem sie die anderen, die Fremden, kleinhalten und auf ihre Plätze verweisen. Die radikale Subjektivität und die Unversöhnlichkeit der Außenseiterperspektive mögen nicht immer gerecht sein, und doch sind sie in ihrer Wucht erkenntnisstiftend. So also fühlt sich das an. Die deutschen Arbeitswelten und deren Undurchlässigkeit gehören zu den Generalthemen von „Dschinns“.
Hüseyin wird seine Frührente nicht erleben. Er bricht in seiner neuen Istanbuler Wohnung zusammen und stirbt noch vor Ort an einem Herzinfarkt. Der Tod Hüseyins ist der spektakuläre Auftakt des Romans, in dessen weiterem Verlauf in Großkapiteln jeweils aus der Sicht eines der Kinder Hüseyins die Anreise zur Beerdigung und die Ankunft in Istanbul erzählt werden. Eingeflochten in die Passagen aus der Erzählgegenwart des Jahres 1999 sind Rückblenden und Erinnerungen, die die Lebensläufe von Ümit, Hakan, Peri und Sevda, so die Namen der Kinder, rekonstruieren und in eine Beziehung zu ihren Eltern Hüseyin und Emine setzen.
So dicht und in einem von Wut über soziale Ungerechtigkeiten angefeuerten Furor auch mitreißend Fatma Aydemir streckenweise erzählt, so offensichtlich sind die kompositorischen Mängel des Romans. Die Entscheidung, eine Figur nach der anderen in Einzelkapiteln abzuhandeln, führt dazu, dass nicht jeder der Charaktere an Tiefenschärfe gewinnt.

Die Söhne bleiben blass

Es gibt zwei starke und zwei eher schwache Kapitel, und es ist mit Sicherheit kein Zufall, dass die gelungenen Figuren die beiden Töchter Hüseyins sind, während die Söhne merkwürdig blass und stereotyp bleiben. Es stellt sich der Verdacht ein, dass Ümit und Hakan als bloße Vehikel für die Darstellung gesellschaftlicher Missstände angelegt sind, die an ihnen durchexerziert werden, bevor Fatma Aydemir sie dann wieder in die zweite Reihe zurückschickt.
Ümit ist der jüngste Sohn und etwa fünfzehn Jahre alt. Er lernt früh von den Eltern, dass es für einen wie ihn in Deutschland geboten ist, unauffällig zu bleiben. Über dem Elternhaus und über der Ehe von Hüseyin und Emine lastet ein angespanntes, lähmendes Schweigen, dessen tiefere Ursache erst gegen Ende des Romans aufgeklärt wird. Die vier Kinder sind in diesem System des ängstlichen Angepasstseins an ein fremdes Land Störfälle und zugleich selbst angstbesetzt. Jedes der vier Kinder sucht auf seine Weise nach Ausbruchsmöglichkeiten. Als Ümit beginnt, erotische Gefühle für einen Mitspieler in seiner Fußballmannschaft zu entwickeln, schickt sein Trainer ihn zu einem Psychologen:
„Das Wort Schwuler sagte Dr. Schumann natürlich nie. Für ihn gab es das Wort wahrscheinlich gar nicht, weil es ja auch diese Sache nicht gab, also Männer, die Männer liebten. Es gebe keine Männerliebe, es gebe nur Menschen mit ernst zu nehmenden Störungen, bei denen man beratend Hilfe leisten müsse. Ümit war einer dieser Fälle.“

Rasante Kamerafahrten

Auch hier stellt sich die Frage, wer für wen und über wen spricht. Ansatzlos wechselt Fatma Aydemir zwischen Nähe und Distanz, zwischen Innen- und Außenansicht, kommentiert und referiert, fühlt sich in das Innenleben ihrer Figuren ein, um im darauf folgenden Satz wieder in die Totale überzugehen. Dieses an eine unorthodoxe Kamerafahrt erinnernde Verfahren wirkt fahrig und unausgegoren. Es entfaltet aber seine Plausibilität vor allem im besten und mit rund 80 Seiten auch umfangreichsten Kapitel des Romans, das Hüseyins und Emines ältester Tochter Sevda gewidmet ist.
Ihrer vermeintlich ältesten Tochter, so muss man präzise sagen. Sevdas Identität ist eng verbunden mit einem Vorfall, der anfangs nur als bürokratische Lässigkeit daherkommt, später aber entscheidende Bedeutung bekommen soll. Tatsächlich ist Sevda erst 14 Jahre alt, als ihre Eltern sie aus dem kurdischen Dorf, wo Sevda bei den Großeltern gelebt hat, Mitte der 1980er-Jahre in die Bundesrepublik holen. Laut ihrem Pass aber ist Sevda bereits ein Jahr älter:
„Eigentlich war er einem Kind ausgestellt worden, das ein Jahr vor ihr zu Welt gekommen und nach wenigen Wochen gestorben war. Es hatte auch Sevda geheißen, und weil der Weg vom Dorf in die Stadt schon in den Sommermonaten beschwerlich und im Winter fast unmöglich war, hatte man sich nicht die Mühe gemacht, den Tod des einen und die Geburt des anderen Kindes zu melden.“

Bildung zählt den Deutschen nichts

Sevda ist die reichste, die überraschendste und die glaubwürdigste Figur des Romans. Durch Sevda strömen die aktuellen Zeitläufte einerseits, die familiären Zwänge und kulturellen Traditionen des Elternhauses andererseits. In die Schule schicken die Eltern sie nicht. Ihre Fenster zur Welt sind die wöchentliche „Dallas“-Folge und das, was ihre beste Freundin Havva ihr beibringt. Havva ist es auch, die die resignierte Einsicht ausspricht, es sei den Deutschen egal, ob man gebildet sei oder ungebildet – ein Scheißtürke, so Havva, bleibe ein Scheißtürke, für immer.
Als sie achtzehn Jahre alt wird, wird Sevda mit Ihsan verheiratet und zieht in eine niedersächsische Kleinstadt. Sevda bekommt bald zwei Kinder, doch glücklich wird sie nicht. Ihsan erweist sich als ein Versager, der nicht als Versager dastehen will und darum seiner Frau das Arbeiten verbieten will. Gegen seinen Willen nimmt Sevda Arbeit in einer Wäscherei an. Eines Morgens hat sie ein einschneidendes Erlebnis, das ihr Leben verändern wird:
„Sie fuhren durch die leeren Straßen. Wo jetzt schon in den Fenstern Lichter brannten, mussten das andere Arbeiter sein, die sich für die Frühschicht fertig machten. Der Himmel war pechschwarz. Doch es war nicht nur der Himmel. Da war Rauch über den Dächern der geduckten Nachkriegshäuser, viel Rauch. Als sie in ihre Straße einbogen, schlug ihnen Blaulicht entgegen. Die Feuerwehr, ein Krankenwagen. Lauter einzelne Menschen in dicken Decken standen vor dem verkohlten Mietshaus ohne Dach, das am Abend noch ihr Zuhause gewesen war.“
Willkommen im Deutschland der 1990er-Jahre. Ob es sich bei dem Brand tatsächlich um einen Anschlag oder einen Unfall handelt, bleibt offen. Das Gefühl, in einem Land zu leben, in dem man sich ihren Tod wünscht, wird Sevda von nun an aber nicht mehr los. Fatma Aydemir hat in einem Gespräch mit ihrem Lektor, das auf der Verlagshomepage nachzulesen ist, erklärt, dass gerade diese Epoche von Biodeutschen und Migranten zutiefst unterschiedlich wahrgenommen werde: Von den einen als eine ausgelassene Dauerparty, Stichworte Popliteratur und Loveparade, von den anderen als eine Ära der offenen Fremdenfeindlichkeit und der neonazistischen Brandanschläge; als eine Zeit, in der sich ein Bewusstsein ausbildete, von dem beispielsweise auch der Attentäter von Hanau noch im Jahr 2020 erfüllt gewesen sei.

Die bösen Geister der Angst und der Scham

Ja, die Biodeutschen in Aydemirs Roman sind Rassisten, Ausbeuter, Ignoranten, Opportunisten oder auch alles zusammen. Doch ist es absolut legitim, das Ohnmachtsgefühl einer unterprivilegierten Gruppe gegenüber einer Mehrheitsgesellschaft literarisch auszuformen. „Dschinns“ ist auch ein Buch des Nichtankommenkönnens. Das ist auch in Hüseyins und Emines Familie selbst als tiefer Graben zwischen den Generationen zu spüren.
Als Bild für das nie verbalisierte, sprachlich und rational kaum zu fassende Unbehagen, das alle Generationen dieser Familie auf unterschiedliche Weise erfasst, führt Peri, Sevdas jüngere Schwester, das Phänomen der Dschinns ein. Den alten Volksglauben an einen bösen Geist überträgt Aydemir auf ihre Figuren. Es ist eine diffuse, schwer greifbare Mischung aus Scham und Angst, die ihr Leben bestimmt:
„Was ist die Mehrzahl von Dschinn? Dschinns? Vielleicht heißt, sich vor den Dschinns zu fürchten, nicht unbedingt zu verstehen, was ein Dschinn ist. Ist das nicht so wie mit dem Tod? Das Vage, das Ungewisse, das Dunkle, das die Menschen verängstigt, weil es nichts Greifbares ist, weil es sich mit ihren eigenen Fantasien ausfüllen lässt und nichts erbarmungsloser ist als die eigene Fantasie?“
„Dschinns“ ist ein Roman gegen den sich einiges ins Feld führen lässt. Fatma Aydemir reißt viele Motive an, die titelgebenden Dschinns sind dafür nur ein Beispiel, und lässt diese Motive dann unausgeführt wieder in der Versenkung verschwinden. Auch sind ihre Figuren nicht gleichermaßen interessant. Ein reines Klischee beispielsweise bleibt Hakan, Ümits älterer Bruder. An ihm arbeitet Fatma Aydemir rhetorisch aufwendig in einer Art Bewusstseinsstrom Themen wie Polizeigewalt oder die Krisenhaftigkeit heterosexueller Männlichkeit ab, bleibt dabei aber an nur an der Oberfläche. Die Beerdigung seines Vaters verpasst Hakan wegen einer von ihm naturgemäß als willkürlich empfundenen Polizeikontrolle. Von Istanbul bricht er umgehend auf in Richtung Antalya und verschwindet wieder aus dem Roman.

Die schillernde Rebellenfigur

Genau genommen besteht „Dschinns“ aus vier Einzelerzählungen, die zwar durch die Familienzusammengehörigkeit von Ümit, Hakan, Sevda und Peri miteinander verbunden sind, aber darüber hinaus keinen romanhaften, verbindenden Handlungsbogen besitzen. Um den herzustellen ist Fatma Aydemir auf eine einigermaßen abstruse Idee gekommen: Die Geschichte von Hüseyins und Emines ersten, angeblich verstorbenen Kindes wird in der Sevda-Erzählung angedeutet und im Kapitel, das von Peri erzählt, weitergeführt.
Peri ist als schillernde Rebellenfigur der Familie angelegt. Wie die Autorin selbst auch zieht Peri zum geisteswissenschaftlichen Studium nach Frankfurt, hat zuvor schon mit den sexuellen Konventionen des islamischen Glaubens gebrochen und macht eines Tages eine, wie sie glaubt, zufällige Bekanntschaft:
„Peri saß in dieser ranzigen Campuskneipe mit dem Adorno-Zitat an der Fassade. Sie blickte auf ein offenes Buch, das sie nicht las, und rutschte auf dem ungemütlichen Holzstuhl herum. Während sie so vor sich hinträumte, schaute sie plötzlich auf und sah, dass ihr gegenüber am Bartresen dieser Typ stand, etwas unbeholfen, mit leeren Händen und nach vorn gezogenen Schultern. Sein Haar und seine Lederjacke glänzten schwarz, sein Gesicht war glatt rasiert. Er starrte sie direkt an. Peri musste lächeln.“
Zwischen Peri und Ciwan, so heißt der junge Mann, entwickelt sich eine merkwürdige, für Peri in ihrer Vertrautheit und gleichzeitigen Distanziertheit Ciwans unerklärliche Beziehung, die so abrupt abbricht wie sie begonnen hat. Eines Abends flieht Ciwan aus Peris Studentenzimmer. Sie wird ihn nie wiedersehen, und erst im hochdramatisch aufgeladenen Finale des Romans, in dem dann tatsächlich alle Dämme, auch die der psychologischen Plausibilität der Figuren, brechen, wird sich zeigen, wie alles zusammenhängt: das erste Kind der Familie und sein angeblicher Tod, das Verschwinden Ciwans aus Frankfurt, das bleierne Schweigen, das stets auf der Familie gelastet hat und das Hüseyin seinen Nachkommen, wie es einmal heißt, als Erbe hinterlassen hat.

Ein Showdown von tragischer Dimension

Symmetrisch zum Auftakt des Romans wechselt Aydemir im Schlusskapitel von „Dschinns“ wieder in das vertrauliche Du, mit dem dieses Mal Emine angesprochen wird. Die ist nach Hüseyins Beerdigung zusammen mit ihrer ältesten Tochter Sevda in der Wohnung in Istanbul geblieben, während alle anderen mit Hakan ans Meer gefahren sind. Die beiden Frauen, die seit Jahren nicht mehr miteinander gesprochen hatten, weil Sevda der Familie den Rücken gekehrt hat, bringt Fatma Aydemir nun in einem dick aufgetragenen Showdown von tragischer Dimension zusammen. In einem Wechsel aus innerem Monolog und Dialog mit ihrer Tochter erinnert sich Emine daran, was seinerzeit tatsächlich mit ihrer Erstgeborenen geschehen ist:
„Sie nahmen dir das Kind weg, und du sahst onu nie wieder. Noch heute fragst du dich, wie du das hast geschehen lassen können, Emine. Was dich davon abgehalten hat, onu zu verstecken, onu nicht herzugeben, wenigstens deine Stimme zu erheben gegen dieses Unrecht.“

Generalabrechnung mit der Mutter

Was Fatma Aydemir an schicksalhaften Volten in ihren Roman einbringt, ist zwar durchaus möglich, aber wenig realistisch. Das allein ist selbstverständlich kein Kriterium. Vorwerfbar ist allerdings, wie die Autorin am Ende die Glaubwürdigkeit ihrer Charaktere aufgibt, um Sevda in einem vor Wut bebenden Auftritt zur Generalabrechnung mit ihrer Mutter, mit ihrer Herkunft, mit ihren Verletzungen antreten zu lassen:
„Es war nicht Baba, der mich unbedingt verheiraten wollte, sobald ich achtzehn wurde. Das warst du, Anne. Es mag stimmen, dass Männer das Sagen haben, ja es ist 1999, verdammt nochmal, und es ist noch immer so. Aber damit sie das können, damit sie für immer alles bestimmen, dafür brauchen sie Leute wie dich. Frauen, die andere Frauen für immer kleinhalten. Die ihre Kinder dazu zwingen, dasselbe verkackte Leben zu führen, das sie selbst auch hatten.“
Identität und fluide Sexualität, weibliche Selbstermächtigung und staatliche Gewalt gegen marginalisierte Gruppen, Rassismus, Klassismus und ein patriarchalisch geordnetes Wertesystem – es gibt kaum ein Schlagwort des aktuellen Diskurses, das Fatma Aydemir auslässt. „Dschinns“ ist sowohl ein Buch der Zeit als auch des Zeitgeistes. Kein gelungener literarischer Text, in der Form unausgegoren, in seiner politischen Agenda oft wenig subtil. Aber dessen ungeachtet ist „Dschinns“ auch ein bemerkenswerter, vibrierender, atmosphärisch angespannter Text, der nicht nur unsere Gegenwart, sondern auch den historischen Kontext beleuchtet. Man merkt ihm in seinen starken Passagen an, warum er geschrieben werden musste.
Fatma Aydemir: "Dschinns"
Carl Hanser Verlag, München
368 Seiten, 24 Euro.