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Fehlkonstruktion Mittelohr

Drei winzige Knochen leiten im menschlichen Ohr den Schall weiter. Dieses Zusammenspiel funktioniert zwar gut, hat aber einen Nachteil: Die Lufthöhle, in der die Knöchelchen arbeiten, begünstigt Flüssigkeitsansammlungen und Entzündungen - streng genommen eine evolutionäre Fehlkonstruktion.

Von Michael Stang |
    Die Konstruktion des Säugetierohrs lässt sich Abigail Tucker zufolge auf eine einfache Gleichung bringen: aus eins mach drei.

    "Wenn man kein Säugetier ist, hat man ja nur ein Gehörknöchelchen im Mittelohr. Bei Säugern ist das anders. Als sich deren Schädel im Laufe der Evolution hin zu drei Gehörknöchelchen veränderten, bedurfte es einer völligen Neukonstruktion des Ohrs, um wieder einen luftgefüllten Raum, also eine Paukenhöhle, zu erhalten."

    Die Evolutionsbiologin vom Londoner King's College forscht an den Ursachen für die häufig auftretenden Mittelohrentzündungen bei Kindern und der angeborenen Gehörlosigkeit. Beides könnte, so die These, mit der Entwicklung im Embryo zu tun haben. Und da es das alte Dogma gibt, dass die Entwicklung des Fetus im Mutterleib gleichzeitig eine Entwicklung der Lebewesen im Zeitraffer ist - vom Einzeller bei der Befruchtung hin zum hohen Säugetier - lag es für die Forscherin auf der Hand, dass Mittelohrentzündungen und angeborener Gehörverlust auf eine Fehlkonstruktion der Natur zurückgehen könnten.

    "Mithilfe gentechnisch veränderter Mäuse können wir nun erstmals im Detail diese Entwicklung nachvollziehen. Wir können beobachten, wo Zellen ihren Ursprung im Körper haben, bevor sie eine Funktion beim Hören übernehmen. Damit können wir also Fragen bezüglich der Ohrentwicklung beantworten."

    Und die Liste möglicher Optionen war lang, welche Zellen welchen Weg tatsächlich bei der Ohrentwicklung der Säugetiere genommen haben.

    "Wenn die klassische These zur Ohrentwicklung stimmen sollte, dann muss die ganze Ohrkonstruktion aus dem sogenannten Entoderm herrühren. Das haben wir aber bezweifelt. Bei unseren Experimenten sahen wir dann, dass das Entoderm zwar beteiligt war, aber nicht allein. Ein zweiter Zelltyp ist auch beteiligt, nämlich die sogenannte Neuralleiste. Und das war wirklich eine Überraschung."

    Abigali Tucker zufolge entwickeln sich bei Säugetieren aus der Neuralleiste einfache Zellen, die das Ohr konstruieren.

    "Schaut man sich an, wie diese Zellen das Ohr formen und was es dabei anatomisch betrachtet für Veränderungen gibt, dann sieht man, dass das nicht perfekt funktioniert. Es gibt komplizierte Umformungen und die beteiligten Zellen sind nicht optimal an die neue Funktion angepasst."

    Denn die neuen Zellen besitzen keine feinen Härchen wie andere Zelltypen, die normalerweise winzige Ablagerungen fortwedeln. Und weil den Mittelohrzellen aus der Neuralleiste dieses Hilfsmittel fehlt, werden Infektionen begünstigt. Die Kosten für ein neues Mittelohr mit drei Gehörknöchelchen sind also ein erhöhtes Risiko für sogenannte Paukenergüsse, bei denen sich Flüssigkeit im Mittelohr ansammelt. Als Folge entstehen Schmerzen und eine verminderte Hörfähigkeit.

    "Wir gehen aber davon aus, dass dies die einzige Möglichkeit war, das Ohr so umzuformen, dass drei Gehörknöchelchen in der Paukenhöhle Platz haben."

    Allerdings muss die Evolution des Säugetierohrs damit nicht unbedingt abgeschlossen sein, denn optimiert ist dieses System noch lange nicht. Vielleicht handelt es sich bei dieser Fehlkonstruktion schlicht um eine Übergangslösung, schließlich kennt die Evolution kein Schild mit der Aufschrift "Wegen Bauarbeiten geschlossen."