Heinemann: Und sie bewegt sich doch! Die Europäische Union hat gestern die Voraussetzungen für ihre Erweiterung im Vertrag von Nizza festgeschrieben. Hinter verschlossenen und draußen vor den Türen flogen zwar die Fetzen, aber die Überbleibsel von Amsterdam konnten doch teilweise abgearbeitet werden, als da wären: Die Stimmen im Rat und im Parlament sind neu verteilt, die Größe der Kommission vorläufig geregelt. Hier hat Nizza de facto allerdings die Entscheidung vertagt. Mehrheitsentscheidungen wird es à la carte geben. Beinahe alle Europäer braten hier weiterhin nationale Extrawürste: die Deutschen bei Asyl und Einwanderung, die Briten in der Steuerpolitik und die Spanier bei dem warmen Geldsegen aus den Strukturfonds. Eine Regierungskonferenz wird sich außerdem mit der Verteilung der Kompetenzen in der Union beschäftigen. Heute wird Rats- und Staatspräsident Chirac das Ergebnis des Gipfels dem Europäischen Parlament in Straßburg vorstellen. - Am Telefon ist nun Friedrich Merz, der Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Guten Morgen!
Merz: Guten Morgen Herr Heinemann!
Heinemann: Herr Merz, wie bewerten Sie den Gipfel von Nizza?
Merz: Ich fange mal mit dem letzten Punkt an, den Sie angesprochen haben, nämlich die Verabredung, spätestens im Jahr 2004 in einer Folgekonferenz über die Kompetenzordnung in der Europäischen Union zu verhandeln. Dies ist ein guter Fortschritt, ein wichtiges Ergebnis, das gerade aus der Sicht der Bundesrepublik Deutschland, ich glaube aber auch aus der Sicht der gesamten Europäischen Union ein gutes Ergebnis ist, denn es muß zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedsstaaten eine bessere Grenzziehung vorgenommen werden, wer ist wofür zuständig und wo ist die demokratische Legitimation für Entscheidungen. Das ist in der Tat ein Erfolg.
Heinemann: Ein Erfolg auch für Kanzler und Außenminister?
Merz: Das ist ein Erfolg für die Bundesrepublik Deutschland insgesamt, vor allen Dingen für die Länder. Die Europäische Union hat sich jetzt etwas zu eigen gemacht, was wir schon seit einigen Jahren in Deutschland diskutieren und was Wolfgang Schäuble und Karl Lamers aus der CDU/CSU-Bundestagsfraktion schon 1994 vorgeschlagen haben, nämlich Verhandlungen über einen Verfassungsvertrag in der Europäischen Union.
Heinemann: Umgesetzt haben das jetzt die Herren Schröder und Fischer?
Merz: Und das ist in der Tat richtig. Der Bundeskanzler und der Bundesaußenminister haben sich diese Position zu eigen gemacht und haben sie auch in der Europäischen Union durchgesetzt. Das ist in der Tat das beste von dem, was am Wochenende in Nizza herausgekommen ist. Ich sage aber auch, alles andere ist doch eine Enttäuschung, wenn man sich mal bei Licht betrachtet, was jetzt wirklich herausgekommen ist, für die europäischen Institutionen, für das Zusammenwirken der Institutionen und vor allen Dingen bei den Entscheidungen, die mit Mehrheit entschieden werden müßten. Wenn sich der ganze Dampf der Weihrauchfässer mal verzogen hat und die regierungsamtlichen Erklärungen der nüchternen Betrachtung weichen, dann muß ich sagen, ich finde Nizza ist eine große Enttäuschung. Sie haben es ja gerade selbst mit einigen Punkten gesagt, Herr Heinemann. Ich nehme mal einen heraus. Die Franzosen haben darauf bestanden, dass auch in Zukunft in der europäischen Handelspolitik mit Einstimmigkeit entschieden wird. Das bedeutet im Klartext, dass die Kommission bei der nächsten großen Runde der Welthandelspolitik kein Mandat hat, mit dem sie sich nicht wirklich frei bewegen kann, mit dem sie stark ist, sondern sie muß sich immer wieder Einschränkungen durch den Ministerrat gefallen lassen, um es mal vereinfacht zu sagen, weil im Ministerrat nicht mit Mehrheit entschieden werden kann, sondern weil dort einstimmig entschieden werden muß. Das lähmt die europäische Politik und das ist ein Zeichen für das, was am Wochenende stattgefunden hat. Die nationalen Egoismen haben diesen Gipfel so überschattet, dass wirklich europäische Politik nicht gemacht worden ist, sondern es ist im Grunde genommen eine kaum noch miteinander zu vereinbarende Summe von nationalen Politiken aufeinandergestoßen und daraus ist nichts Europäisches geworden. Das ist eigentlich das, was ich am meisten kritisiere, auch persönlich am meisten bedauere.
Heinemann: Also kein Leitgipfel?
Merz: Es ist nett, dass Sie gerade diese Formulierung aufnehmen. Nein, es war kein wirklich europäischer Gipfel und es hat ganz offensichtlich auch eine starke politische Führung gefehlt. Es gibt in der Europäischen Union gegenwärtig kein Kraftzentrum. Es gibt keine deutsch-französischen Initiativen, die wirklich die Europäische Union voranbringen. Die Probleme, die es im deutsch-französischen Bereich gibt, haben diesen Gipfel nicht nur überschattet; sie haben das Ergebnis geschwächt. Da muß ich nun sagen, das hat etwas mit dem schlechten Miteinander der beiden Regierungen zu tun, und daran ist die deutsche Bundesregierung auch nicht ganz schuldlos.
Heinemann: Inwiefern?
Merz: Die Kraftmeierei des Bundeskanzlers vor 14 Tagen im deutschen Bundestag in seiner Regierungserklärung, was die Stimmgewichtung im Rat betrifft, hat französische Reaktionen ausgelöst, die auch überzogen waren, die auch nicht der Sache gedient haben, sondern die eben sehr stark innenpolitisch ausgerichtet waren. Damit sind die beiden großen Länder, Deutschland und Frankreich, in die Regierungskonferenz nach Nizza gegangen, ohne einen gemeinsamen Fahrplan zu haben, ohne gemeinsame Vorschläge zu unterbreiten. Wer die Geschichte der Europäischen Union kennt der weis, dass es in Europa immer dann vorangegangen ist, wenn Deutschland und Frankreich einig waren, und der weis auch, dass es in Europa selten Fortschritte gegeben hat, wenn Deutschland und Frankreich nicht einig waren. Das war leider der Befund vom Wochenende.
Heinemann: Wobei es ja auch schon Probleme zwischen der früheren Bundesregierung und der damals neuen französischen Staatspräsidentschaft gab. Das Verhältnis zwischen Kohl und Chirac war ja auch nicht so ganz spannungsfrei. Wie bewerten Sie denn grundsätzlich die französische Ratspräsidentschaft und die Verhandlungsführung in Nizza?
Merz: Im deutsch-französischen Verhältnis hat es immer Spannungen, Schwierigkeiten und Probleme gegeben, aber es hat eben auch immer wieder große deutsch-französische Initiativen gegeben. Die französische Ratspräsidentschaft ist überschattet gewesen von dem beginnenden Präsidentschaftswahlkampf im Jahr 2002, auch von den beginnenden Nationalversammlungswahlen im Jahr 2002. Insofern hatte es eine sehr starke innenpolitische Prägung, was in Nizza geschehen ist. Ich sage trotzdem: Wenn es gelungen wäre, in den letzten Monaten - und so etwas kann man nicht in Tagen hinbringen, sondern das bedarf monatelanger Vorarbeit -, im Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich ein besseres Einvernehmen herbeizuführen, dann wäre es auch in Nizza zu einem besseren Ergebnis gekommen. Ich glaube da müssen sich beide Seiten die Frage stellen, was hätte man besser machen müssen, wo ist im deutsch-französischen Verhältnis etwas schief gelaufen und wo muß man für die Zukunft besser vorarbeiten. Ich blicke nach vorne und sage, wo müssen Deutschland und Frankreich Initiativen ergreifen, um die Regierungskonferenz oder die Folgekonferenz von 2004 zu einem Erfolg zu bringen. Das muß nun wirklich besser vorbereitet werden als das, was am vergangenen Wochenende in Nizza war.
Heinemann: Herr Merz, Stichwort: sind Regierungskonferenzen ein taugliches Instrument zur Bearbeitung von europäischen Zukunftsfragen?
Merz: Wer die Abläufe von solchen Regierungskonferenzen beobachtet - die letzte hat jetzt 18 Monate gedauert und es ist praktisch in dieser Regierungskonferenz nichts Substanzielles wirklich so vorbereitet worden, dass die Staats- und Regierungschefs nur noch ja sagen mußten; alle schwierigen strittigen Themen sind dem Gipfel überlassen worden, also praktisch der Abschlußkonferenz -, der muß schon zu dem Ergebnis kommen, dass die Methode der Regierungskonferenz offenkundig an ihre Grenzen stößt, insbesondere wenn die Europäische Union erweitert ist, wenn der Kreis der teilnehmenden Regierungen noch umfangreicher wird - und das sind ja in der Regel Beamte, selten sind es Minister -, kaum noch handlungsfähig ist. Deswegen habe ich persönlich viel Sympathie dafür, darüber nachzudenken, ob man es nicht nach dem Vorbild der Grundrechte-Charta auch mit der zukünftigen europäischen Politik weiter versucht, insbesondere dann, wenn es um einen Verfassungsvertrag geht, also eine Art Verfassungskonvent einzuberufen und hochrangigen, als Person benannten Vertretern der Mitgliedsstaaten ein Mandat erteilt, das dann auch bis zum Abschluß reicht, so wie die Konferenz, die Roman Herzog geleitet hat, es mit der Grundrechte-Charta geschafft hat. Das könnte ein Vorbild für die Folgekonferenz sein, aber darüber muß man dann in den nächsten Wochen und Monaten in Ruhe und ausführlich miteinander reden.
Heinemann: Herr Merz, Sie haben eben davon gesprochen. Nizza war der Gipfel des Kampfes um nationale Besitzstände. Das läßt ja schlimmes für die Zukunft befürchten. Was sollte künftig in der gesamten Union geregelt werden und welche Bereiche eignen sich für die sogenannte verstärkte Zusammenarbeit, also einer Gruppe von EU-Staaten?
Merz: Ich setze mal drei große Überschriften, Herr Heinemann. Das erste ist ganz sicher die Wirtschafts- und Währungsunion. Da sind wir am weitesten, weil wir den Euro bereits haben und weil wir auch weitgehend eine gemeinsame Wirtschafts- und Währungspolitik haben, die den Euro stützt und die den Euro auch spiegelbildlich darstellt. Größte Probleme gibt es in der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Ich will aus meiner Sicht ausdrücklich hinzufügen: wir brauchen auch eine gemeinsame Verteidigungspolitik, sogar eine gemeinsame Rüstungs- und Rüstungskontrollpolitik. Da sind wir in Europa von einer Einigung weit entfernt, vielleicht weiter denn je, wenn man sieht, wie die Europäer auf dem Balkan praktisch handlungsunfähig waren angesichts der dortigen Krise. Der dritte Bereich ist die Innen- und Rechtspolitik, insbesondere dann, wenn es sich um grenzüberschreitende Tatbestände handelt, also beispielsweise die grenzüberschreitende Bekämpfung der organisierten Kriminalität. Wer soll das machen wenn nicht die Europäische Union? Dann muß es innerhalb der Europäischen Union auch Staaten geben, die voranmarschieren können. Das gibt es bereits. Ich nenne das Stichwort Schengener Abkommen: offene Grenzen, Grenzkontrollen auch in den Mitgliedsstaaten, vereinbart in einem Abkommen nicht aller europäischer Staaten, sondern einiger. Das ist ein gutes Modell, vorausgesetzt es bleibt bei der gemeinsamen europäischen Politik und führt nicht zurück zu einer Regierungspolitik im bilateralen Verhältnis. - Schwierigste Sachverhalte, wie Sie sehen, viel Arbeit für die Zukunft, und es gibt leider eben jetzt doch Überbleibsel von Nizza. Es hat nicht nur Überbleibsel von Amsterdam gegeben, sondern auch Nizza ist mit den gestellten Aufgaben nicht fertig geworden. Deswegen sage ich noch einmal: die Bewertung hält sich bei mir so ein bißchen die Wage: Erfolg für die Folgekonferenz, aber leider kein Erfolg für Nizza insgesamt.
Heinemann: Nicole Fontaine, die Präsidentin des Europäischen Parlaments, hat eben bei uns im Deutschlandfunk gesagt, dass jetzt die Zeit für eine Debatte über die Finalität der Europäischen Union gekommen ist. Wo sollte Ihrer Meinung nach die europäische Reise hingehen?
Merz: Ich glaube, dass die finale politische Konstruktion der Europäischen Union sich am besten in einem Verfassungsvertrag formulieren läßt. Diese Europäische Union ist längst mehr als nur der Zusammenschluß einer Gruppe von europäischen Staaten. Sie hat eigene Zuständigkeiten. Wir haben Souveränitäten bereits auf die europäische Ebene übertragen. Das wird im Euro am allerdeutlichsten. Aber das dürfte jetzt eine der schwierigsten Fragen sein, dies auch wirklich in Form eines solchen Verfassungsvertrages abzugrenzen. Die Grundrechte-Charta ist formuliert, aber die Kompetenzverteilung zwischen den Mitgliedsstaaten und der Europäischen Union wird sehr, sehr schwierig werden. Auch die Zusammensetzung und das Zusammenwirken der Institutionen ist ein Thema, das in Nizza eben nicht abschließend geregelt worden ist. Diese drei Elemente müssen in einem solchen Verfassungsvertrag für eine Europäische Union enthalten sein. Dann wird die Europäische Union auch mit einer Stimme sprechen können und international handlungsfähig sein.
Heinemann: Friedrich Merz, der Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, in den "Informationen am Morgen" im Deutschlandfunk. - Herr Merz, vielen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören!
Link: Interview als RealAudio
Merz: Guten Morgen Herr Heinemann!
Heinemann: Herr Merz, wie bewerten Sie den Gipfel von Nizza?
Merz: Ich fange mal mit dem letzten Punkt an, den Sie angesprochen haben, nämlich die Verabredung, spätestens im Jahr 2004 in einer Folgekonferenz über die Kompetenzordnung in der Europäischen Union zu verhandeln. Dies ist ein guter Fortschritt, ein wichtiges Ergebnis, das gerade aus der Sicht der Bundesrepublik Deutschland, ich glaube aber auch aus der Sicht der gesamten Europäischen Union ein gutes Ergebnis ist, denn es muß zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedsstaaten eine bessere Grenzziehung vorgenommen werden, wer ist wofür zuständig und wo ist die demokratische Legitimation für Entscheidungen. Das ist in der Tat ein Erfolg.
Heinemann: Ein Erfolg auch für Kanzler und Außenminister?
Merz: Das ist ein Erfolg für die Bundesrepublik Deutschland insgesamt, vor allen Dingen für die Länder. Die Europäische Union hat sich jetzt etwas zu eigen gemacht, was wir schon seit einigen Jahren in Deutschland diskutieren und was Wolfgang Schäuble und Karl Lamers aus der CDU/CSU-Bundestagsfraktion schon 1994 vorgeschlagen haben, nämlich Verhandlungen über einen Verfassungsvertrag in der Europäischen Union.
Heinemann: Umgesetzt haben das jetzt die Herren Schröder und Fischer?
Merz: Und das ist in der Tat richtig. Der Bundeskanzler und der Bundesaußenminister haben sich diese Position zu eigen gemacht und haben sie auch in der Europäischen Union durchgesetzt. Das ist in der Tat das beste von dem, was am Wochenende in Nizza herausgekommen ist. Ich sage aber auch, alles andere ist doch eine Enttäuschung, wenn man sich mal bei Licht betrachtet, was jetzt wirklich herausgekommen ist, für die europäischen Institutionen, für das Zusammenwirken der Institutionen und vor allen Dingen bei den Entscheidungen, die mit Mehrheit entschieden werden müßten. Wenn sich der ganze Dampf der Weihrauchfässer mal verzogen hat und die regierungsamtlichen Erklärungen der nüchternen Betrachtung weichen, dann muß ich sagen, ich finde Nizza ist eine große Enttäuschung. Sie haben es ja gerade selbst mit einigen Punkten gesagt, Herr Heinemann. Ich nehme mal einen heraus. Die Franzosen haben darauf bestanden, dass auch in Zukunft in der europäischen Handelspolitik mit Einstimmigkeit entschieden wird. Das bedeutet im Klartext, dass die Kommission bei der nächsten großen Runde der Welthandelspolitik kein Mandat hat, mit dem sie sich nicht wirklich frei bewegen kann, mit dem sie stark ist, sondern sie muß sich immer wieder Einschränkungen durch den Ministerrat gefallen lassen, um es mal vereinfacht zu sagen, weil im Ministerrat nicht mit Mehrheit entschieden werden kann, sondern weil dort einstimmig entschieden werden muß. Das lähmt die europäische Politik und das ist ein Zeichen für das, was am Wochenende stattgefunden hat. Die nationalen Egoismen haben diesen Gipfel so überschattet, dass wirklich europäische Politik nicht gemacht worden ist, sondern es ist im Grunde genommen eine kaum noch miteinander zu vereinbarende Summe von nationalen Politiken aufeinandergestoßen und daraus ist nichts Europäisches geworden. Das ist eigentlich das, was ich am meisten kritisiere, auch persönlich am meisten bedauere.
Heinemann: Also kein Leitgipfel?
Merz: Es ist nett, dass Sie gerade diese Formulierung aufnehmen. Nein, es war kein wirklich europäischer Gipfel und es hat ganz offensichtlich auch eine starke politische Führung gefehlt. Es gibt in der Europäischen Union gegenwärtig kein Kraftzentrum. Es gibt keine deutsch-französischen Initiativen, die wirklich die Europäische Union voranbringen. Die Probleme, die es im deutsch-französischen Bereich gibt, haben diesen Gipfel nicht nur überschattet; sie haben das Ergebnis geschwächt. Da muß ich nun sagen, das hat etwas mit dem schlechten Miteinander der beiden Regierungen zu tun, und daran ist die deutsche Bundesregierung auch nicht ganz schuldlos.
Heinemann: Inwiefern?
Merz: Die Kraftmeierei des Bundeskanzlers vor 14 Tagen im deutschen Bundestag in seiner Regierungserklärung, was die Stimmgewichtung im Rat betrifft, hat französische Reaktionen ausgelöst, die auch überzogen waren, die auch nicht der Sache gedient haben, sondern die eben sehr stark innenpolitisch ausgerichtet waren. Damit sind die beiden großen Länder, Deutschland und Frankreich, in die Regierungskonferenz nach Nizza gegangen, ohne einen gemeinsamen Fahrplan zu haben, ohne gemeinsame Vorschläge zu unterbreiten. Wer die Geschichte der Europäischen Union kennt der weis, dass es in Europa immer dann vorangegangen ist, wenn Deutschland und Frankreich einig waren, und der weis auch, dass es in Europa selten Fortschritte gegeben hat, wenn Deutschland und Frankreich nicht einig waren. Das war leider der Befund vom Wochenende.
Heinemann: Wobei es ja auch schon Probleme zwischen der früheren Bundesregierung und der damals neuen französischen Staatspräsidentschaft gab. Das Verhältnis zwischen Kohl und Chirac war ja auch nicht so ganz spannungsfrei. Wie bewerten Sie denn grundsätzlich die französische Ratspräsidentschaft und die Verhandlungsführung in Nizza?
Merz: Im deutsch-französischen Verhältnis hat es immer Spannungen, Schwierigkeiten und Probleme gegeben, aber es hat eben auch immer wieder große deutsch-französische Initiativen gegeben. Die französische Ratspräsidentschaft ist überschattet gewesen von dem beginnenden Präsidentschaftswahlkampf im Jahr 2002, auch von den beginnenden Nationalversammlungswahlen im Jahr 2002. Insofern hatte es eine sehr starke innenpolitische Prägung, was in Nizza geschehen ist. Ich sage trotzdem: Wenn es gelungen wäre, in den letzten Monaten - und so etwas kann man nicht in Tagen hinbringen, sondern das bedarf monatelanger Vorarbeit -, im Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich ein besseres Einvernehmen herbeizuführen, dann wäre es auch in Nizza zu einem besseren Ergebnis gekommen. Ich glaube da müssen sich beide Seiten die Frage stellen, was hätte man besser machen müssen, wo ist im deutsch-französischen Verhältnis etwas schief gelaufen und wo muß man für die Zukunft besser vorarbeiten. Ich blicke nach vorne und sage, wo müssen Deutschland und Frankreich Initiativen ergreifen, um die Regierungskonferenz oder die Folgekonferenz von 2004 zu einem Erfolg zu bringen. Das muß nun wirklich besser vorbereitet werden als das, was am vergangenen Wochenende in Nizza war.
Heinemann: Herr Merz, Stichwort: sind Regierungskonferenzen ein taugliches Instrument zur Bearbeitung von europäischen Zukunftsfragen?
Merz: Wer die Abläufe von solchen Regierungskonferenzen beobachtet - die letzte hat jetzt 18 Monate gedauert und es ist praktisch in dieser Regierungskonferenz nichts Substanzielles wirklich so vorbereitet worden, dass die Staats- und Regierungschefs nur noch ja sagen mußten; alle schwierigen strittigen Themen sind dem Gipfel überlassen worden, also praktisch der Abschlußkonferenz -, der muß schon zu dem Ergebnis kommen, dass die Methode der Regierungskonferenz offenkundig an ihre Grenzen stößt, insbesondere wenn die Europäische Union erweitert ist, wenn der Kreis der teilnehmenden Regierungen noch umfangreicher wird - und das sind ja in der Regel Beamte, selten sind es Minister -, kaum noch handlungsfähig ist. Deswegen habe ich persönlich viel Sympathie dafür, darüber nachzudenken, ob man es nicht nach dem Vorbild der Grundrechte-Charta auch mit der zukünftigen europäischen Politik weiter versucht, insbesondere dann, wenn es um einen Verfassungsvertrag geht, also eine Art Verfassungskonvent einzuberufen und hochrangigen, als Person benannten Vertretern der Mitgliedsstaaten ein Mandat erteilt, das dann auch bis zum Abschluß reicht, so wie die Konferenz, die Roman Herzog geleitet hat, es mit der Grundrechte-Charta geschafft hat. Das könnte ein Vorbild für die Folgekonferenz sein, aber darüber muß man dann in den nächsten Wochen und Monaten in Ruhe und ausführlich miteinander reden.
Heinemann: Herr Merz, Sie haben eben davon gesprochen. Nizza war der Gipfel des Kampfes um nationale Besitzstände. Das läßt ja schlimmes für die Zukunft befürchten. Was sollte künftig in der gesamten Union geregelt werden und welche Bereiche eignen sich für die sogenannte verstärkte Zusammenarbeit, also einer Gruppe von EU-Staaten?
Merz: Ich setze mal drei große Überschriften, Herr Heinemann. Das erste ist ganz sicher die Wirtschafts- und Währungsunion. Da sind wir am weitesten, weil wir den Euro bereits haben und weil wir auch weitgehend eine gemeinsame Wirtschafts- und Währungspolitik haben, die den Euro stützt und die den Euro auch spiegelbildlich darstellt. Größte Probleme gibt es in der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Ich will aus meiner Sicht ausdrücklich hinzufügen: wir brauchen auch eine gemeinsame Verteidigungspolitik, sogar eine gemeinsame Rüstungs- und Rüstungskontrollpolitik. Da sind wir in Europa von einer Einigung weit entfernt, vielleicht weiter denn je, wenn man sieht, wie die Europäer auf dem Balkan praktisch handlungsunfähig waren angesichts der dortigen Krise. Der dritte Bereich ist die Innen- und Rechtspolitik, insbesondere dann, wenn es sich um grenzüberschreitende Tatbestände handelt, also beispielsweise die grenzüberschreitende Bekämpfung der organisierten Kriminalität. Wer soll das machen wenn nicht die Europäische Union? Dann muß es innerhalb der Europäischen Union auch Staaten geben, die voranmarschieren können. Das gibt es bereits. Ich nenne das Stichwort Schengener Abkommen: offene Grenzen, Grenzkontrollen auch in den Mitgliedsstaaten, vereinbart in einem Abkommen nicht aller europäischer Staaten, sondern einiger. Das ist ein gutes Modell, vorausgesetzt es bleibt bei der gemeinsamen europäischen Politik und führt nicht zurück zu einer Regierungspolitik im bilateralen Verhältnis. - Schwierigste Sachverhalte, wie Sie sehen, viel Arbeit für die Zukunft, und es gibt leider eben jetzt doch Überbleibsel von Nizza. Es hat nicht nur Überbleibsel von Amsterdam gegeben, sondern auch Nizza ist mit den gestellten Aufgaben nicht fertig geworden. Deswegen sage ich noch einmal: die Bewertung hält sich bei mir so ein bißchen die Wage: Erfolg für die Folgekonferenz, aber leider kein Erfolg für Nizza insgesamt.
Heinemann: Nicole Fontaine, die Präsidentin des Europäischen Parlaments, hat eben bei uns im Deutschlandfunk gesagt, dass jetzt die Zeit für eine Debatte über die Finalität der Europäischen Union gekommen ist. Wo sollte Ihrer Meinung nach die europäische Reise hingehen?
Merz: Ich glaube, dass die finale politische Konstruktion der Europäischen Union sich am besten in einem Verfassungsvertrag formulieren läßt. Diese Europäische Union ist längst mehr als nur der Zusammenschluß einer Gruppe von europäischen Staaten. Sie hat eigene Zuständigkeiten. Wir haben Souveränitäten bereits auf die europäische Ebene übertragen. Das wird im Euro am allerdeutlichsten. Aber das dürfte jetzt eine der schwierigsten Fragen sein, dies auch wirklich in Form eines solchen Verfassungsvertrages abzugrenzen. Die Grundrechte-Charta ist formuliert, aber die Kompetenzverteilung zwischen den Mitgliedsstaaten und der Europäischen Union wird sehr, sehr schwierig werden. Auch die Zusammensetzung und das Zusammenwirken der Institutionen ist ein Thema, das in Nizza eben nicht abschließend geregelt worden ist. Diese drei Elemente müssen in einem solchen Verfassungsvertrag für eine Europäische Union enthalten sein. Dann wird die Europäische Union auch mit einer Stimme sprechen können und international handlungsfähig sein.
Heinemann: Friedrich Merz, der Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, in den "Informationen am Morgen" im Deutschlandfunk. - Herr Merz, vielen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören!
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