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Feind der europäischen Integration

1945 war das Dritte Reich am Ende, aber der Nationalsozialismus in den Köpfen längst noch nicht. Und so träumte Werner Naumann, der unter Hitler Karriere gemacht hatte, von der Wiederergreifung der Macht. Der Historiker Günter J. Trittel hat nun ein Buch über Goebbels Protegé geschrieben.

Von Niels Beintker | 08.07.2013
    Am Ende entschieden die Wähler. Aber anders, als von dem Kandidaten der illustren Deutschen Reichspartei erhofft. Gerade 5400 Stimmen erhielt Dr. Werner Naumann bei der Bundestagswahl am 6. September 1953 in dem als aussichtsreich erachteten Wahlkreis 45 Diepholz/Melle/Wittlage in Niedersachsen. Im gesamten Bundesgebiet kam seine Partei auf 1,1 Prozent. Eine grandiose Niederlage, zudem das Ende der politischen Karriere eines Mannes, der als Protegé von Joseph Goebbels bis in den Führungszirkel des Dritten Reiches aufgestiegen war, Ende April 1945 die letzten kruden Durchhalteparolen in die deutsche Öffentlichkeit gefunkt hatte und nun von einem Neuaufstieg Deutschlands in der Welt träumte.

    Programmatisch hatte der Kandidat auch nicht viel zu bieten. Wirres Gedankengut, eine bizarre Mischung aus Fanatismus, nationalsozialistischen Ideologie-Bruchstücken und Oswald Spengler. Günter J. Trittel, Historiker an der Universität Göttingen, zitiert in seiner Biografie Werner Naumanns immer wieder aus den protokollierten Wahlkampfreden. Ein Beispiel: ein Auftritt vom 16. August 1953.

    "Ohne einen 30. Januar 1933 wäre Europa schon längst bolschewistisch. Die deutsche Armee und auch die vielen Soldaten aus Europa wären im 2. Weltkrieg bereits den Weg gegangen, der heute entehrt werden soll. Deutschland sei heute gegenüber dem kommunistischen System immun - weil die deutschen Soldaten dieses System kennen gelernt hätten - das solle sich aber Adenauer nicht als sein Verdienst anrechnen."

    Adenauer nannte Naumann einen "Unterwanderer"
    Der hier angesprochene Bundeskanzler nannte Werner Naumann einen "Unterwanderer" verschiedener Parteien "rechts der SPD" und einen "Feind der europäischen Integration". Dessen Ziel sei es gewesen, - Zitat - "eines Tages eine große Änderung der ganzen verfassungsmäßigen Ordnung herbeizuführen", erklärte Konrad Adenauer unmittelbar nach der Verhaftung Naumanns durch die britische Armee - eine Aktennotiz des rechtsextremen Politikers Adolf von Thadden lautete ähnlich. Den umfangreichen Quellenrecherchen Trittels zufolge nahm Adenauer die Gefahren, die von Naumann und seinen Gesinnungsgenossen ausgingen, sehr ernst. Der Historiker zitiert den Kanzler:

    "Zwar müsse man mit der permanenten Fragerei nach 'früherer Parteimitgliedschaft' der Normalbürger Schluss machen, klar müsse aber auch sein, dass es den früheren Nazis nicht gestattet werden darf, eine große Rolle im öffentlichen und politischen Leben zu spielen."

    Und ergänzt:

    "Noch weit über Naumanns Haftentlassung hinaus hielt er an einer durch ihn symbolisierten Gefahr für die demokratische Stabilisierung der Bundesrepublik fest und ließ intern nie einen Zweifel an seiner Einschätzung."

    Beinahe partnerschaftliches Vertrauensverhältnis zu Goebbels
    Trittel rekonstruiert nicht nur die politische und publizistische Debatte um den bizarren Naumann-Kreis sowie das letztlich eingestellte juristische Verfahren vor dem Bundesgerichtshof gegen einen der großen Verächter der parlamentarischen Demokratie. Er schildert auch die politische Biografie eines frühen und für sein weiteres Leben glühenden Hitler-Anhängers. Über die politische Sozialisierung Werner Naumanns, Jahrgang 1909, gibt es nur wenig verlässliches Material. Er machte jung in der Oberlausitz Karriere, wurde NSDAP-Bezirksleiter, schließlich Abteilungschef in der Gauleitung Breslau. Die frühe SA-Mitgliedschaft wurde ihm im Zuge der innerparteilichen Säuberungen vom Juni 1934 zum Verhängnis. Naumann wurde aus der Partei ausgeschlossen. Im Zuge einer Amnestie wurde er 1937 rehabilitiert und von Goebbels schließlich zum Staatssekretär im Reichspropagandaministerium erhoben. Über die Anfänge der Beziehung ist wenig bekannt, so Trittel. Dennoch:

    "Spätestens bei Ausbruch des Krieges hat sich ein beinahe partnerschaftliches Arbeits- und Vertrauensverhältnis zwischen den beiden entwickelt: Naumann hat ein erhebliches Maß jener Eigenschaften, die Goebbels für sich reklamiert, demonstriert aber stets äußerste Loyalität und benötigt - obwohl, wie sich während des Krieges zeigt, ein leidenschaftlicher Rhetor - nicht die Öffentlichkeit als Bühne zur Selbstinszenierung."

    Spätestens seit Sommer 1944 sei der "Mann hinter Goebbels" als omnipräsenter, reichsweiter Agitator in Erscheinung getreten, so Trittels Befund. Naumann stilisierte sich zum "Boten der Zuversicht und inneren Aufrichtung", schwadronierte in seinen Durchhaltereden von der angeblich erhabenen Mission Hitlers und verwahrte schließlich im Mai 1945 den Nachlass seines Mentors, die Goebbels-Tagebücher. Nach der Befreiung Deutschlands durch die Alliierten tauchte Werner Naumann für fünf Jahre ab - wie er das als hochrangiger Nazi und Mitglied der obersten Funktionselite geschafft und durchgehalten hat, hätte man als Leser von Günter Trittels Biographie gerne genauer gewusst. Anfang der 50er Jahre kehrte Goebbels' Adlatus dann wieder ins politische Geschäft zurück, agierte im Hintergrund, gründete einen Gesprächskreis für alte Kampfgefährten, sondierte die Möglichkeiten einer neuen Karriere in der für die sogenannte "Nationale Sammlung" damals zu Teilen durchaus offenen FDP, dann im Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten, schließlich in der Deutschen Reichspartei. Günter Trittel schreibt über Naumann, als Funktionsträger und Karrierist im Nationalsozialismus repräsentiere er einen bestimmten, in gewisser Weise austauschbaren Politikertypus.

    "Das Besondere an ihm ist allerdings, dass er auch nach 1945 am Kern seiner vor 1945 erworbenen Wertvorstellungen festhält und dass er die grundsätzlich veränderte politische Landschaft aus dieser nur wenig veränderten Perspektive wahrnimmt und zu erklären versucht."

    Justizminister Dehler: Naumann will junge Demokratie vernichten
    Da drängt sich die Frage auf: Ist das wirklich eine Besonderheit? Werner Naumann war ein hochrangiger Nazi, seine Sicht auf die politische Realität der Nachkriegszeit dürfte indes von einem nicht zu kleinen Teil der deutschen Gesellschaft zumindest stillschweigend akzeptiert worden sein. Zudem zeigen Studien etwa über das Auswärtige Amt, wie sich bestimmte Netzwerke über die große Zäsur des Jahres 1945 hinweg erhalten und weiter gegenseitig begünstigt haben.

    Die Vorwürfe des britischen Hochkommissars Kirkpatrick wie auch des bundesdeutschen Justizministers Thomas Dehler, Naumann wolle das politische Establishment in der jungen Demokratie gezielt unterwandern und gewissermaßen mit einem Staatsstreich vernichten, wertet Trittel als überzogen. Werner Naumann erscheint einerseits in dieser quellennahen Studie - und trotz aller biografischer Leerstellen - als der "pathologische Narr", als den ihn 1953 ein Journalist der "Welt" beschrieb. Andererseits wäre es ratsam, die Furcht Adenauers, Dehlers wie auch der britischen Besatzungsmacht vor einem nationalsozialistischen Rollback ernster zu nehmen, als das Günter Trittel bisweilen zu tun scheint. Die junge Demokratie erwies sich in dieser kurzen, aber bezeichnenden Krise als stabil und wehrhaft - das aber war keineswegs ein Automatismus. Dennoch: ein erhellendes Buch.


    Buchinfo:

    Günter J. Trittel: "Man kann ein Ideal nicht verraten ... Werner Naumann - NS-Ideologie und politische Praxis in der frühen Bundesrepublik". Wallstein Verlag, 384 Seiten, 39,90 Euro