
San Sebastián Ende der 60er-Jahre. Seit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs regiert General Franco über Spanien:
"Wenn ich mir die Erinnerungen an jene Jahre ins Gedächtnis rufe, ü̈berkommt mich ein Gefühl von Langsamkeit. Heutzutage, habe ich den Eindruck, dauert eine Minute dreißig oder vierzig Sekunden; eine Minute der Diktatur indes dauerte anderthalb oder zwei Minuten."
Die bleierne Zeit scheint nie enden zu wollen:
"Drei Jahrzehnte war Franco an der Macht, grüßte die fügsamen, unpolitischen Massen mit schlaffer, zittriger und immer hinfälligerer Hand (was ihn nicht hinderte, weiterhin Todesurteile zu unterschreiben), und wenn es auch schon Ende der Sechziger im Untergrund zu brodeln begann, schleppte sich die Geschichte Spaniens immer noch wie ein träger Lavastrom dahin."
Stinkefüße und Separatismus
Die Diktatur hängt wie ein dichter Schleier über der Erzählung, die zunächst als Familiendrama beginnt. Ein achtjähriger Junge wird von seiner Mutter zu Verwandten in die Stadt gegeben, da sie ihn auf dem Land nicht mehr ernähren kann. Tante und Onkel in San Sebastián sind allerdings auch nicht wohlhabend, sodass das Pflegekind sein Zimmer mit seinem pubertierenden Cousin Julen teilen muss. Dessen hervorstechende Eigenschaften sind erbärmlich stinkende Füße, ein ungezügelter Drang zur Masturbation - und die Leidenschaft für den Separatismus. Auch wenn er die baskische Sprache - Euskera - nur ungenügend beherrscht.
"Ich hatte den Eindruck, Julen empfand es als Demütigung, kein Euskera zu sprechen; wie einer, der sich unvollkommen, vielleicht sogar beschädigt fühlt."
Julens Schwester Mari Nieves ist auf andere Weise aufmüpfig. Sie verweigert sich den Regeln der katholischen Moral, nimmt sich sexuelle Freiheiten - und wird ungewollt schwanger.
"Option Madame Bovary: Mari Nieves schluckt sämtliche Tabletten, die sie in der Schublade ihrer Eltern findet. Oder sie trinkt die ganze Flasche Natronlauge leer. Option Anna Karenina: Sie wirft sich vor den Zug der Schmalspurbahn der Ferrocarriles Vascongados, die außerdem ganz in der Nähe von Ibaeta vorbeifü̈hrt. Option Virginia Woolf: Sie ertränkt sich im Fluss mit einem Eimer voller Steine in jeder Hand."
Flucht vor der Geheimpolizei
Als hätte die Familie nicht schon genug Probleme mit der vermeintlichen Schande der Schwangerschaft, wird der heranwachsende Sohn von der franquistischen Geheimpolizei verfolgt. Julen muss über die Grenze nach Frankreich flüchten und sich dort verstecken. Später heuert er auf einem Schiff an, in Brasilien macht er sein Glück. Was Julen genau bei den Separatisten gemacht hat, bleibt in der Erzählung im Dunkeln.
"Im Verlauf unseres vorherigen Gesprächs habe ich Ihnen ja schon mitgeteilt, Herr Aramburu, dass es Julen in Frankreich sehr schlecht erging. Wenn Sie also für Ihr Buch die Geschichte eines militanten, unternehmungslustigen Abenteurers und Helden zahlloser mutiger Aktionen brauchen, so versichere ich Ihnen, dass die meines Cousins diesen Zweck nicht erfüllt, es sei denn, Sie übertreiben gewaltig."
Der Roman ist geschickt konstruiert. Er besteht aus mehreren Dutzend "Notaten", die der Erzähler - jener kleine Junge, der bei den städtischen Verwandten aufwächst - an "Herrn Aramburu" schickt. Das erlaubt dem Autor, die Geschichte aus der Perspektive des Kindes zu erzählen, das die politischen Zusammenhänge nur erahnen kann. Diese mitunter naive Sichtweise verleiht dem Buch eine humoristische Grundhaltung. Andererseits machen zahlreiche literarische Anspielungen und Reflexionen über das Schreiben den Text zu einer Art Gebrauchsanweisung für das Verfassen von Romanen.
"Nun schreibe ich Ihnen dies, bevor ich zur Sache komme, damit Sie mir glauben, Herr Aramburu, denn nichts von dem, was ich Ihnen im Folgenden zu berichten gedenke, ist erfunden. Vielleicht aber ist die Wahrheit auch nicht so wichtig, wenn man in belletristischer Absicht schreibt. Und deshalb sowie wegen ein paar anderer Kleinigkeiten, die hier nichts zur Sache tun, mag ich, der ich sehr viele Sach- und Fachbü̈cher gelesen habe, Literatur nicht besonders, das wissen Sie ja."
Fernando Aramburu spielt sehr souverän mit den Mitteln der Literatur. Er verschränkt verschiedene Erzählebenen und fügt Dialogpassagen ein. Das macht aus den "Langsamen Jahren" einen schnellen, dynamischen Text. Aramburus Stil kommt leicht und federnd daher. Oft reichen ihm wenige Worte, um den Charakter einer Figur zu skizzieren - etwa die energische Tante, die sich von niemandem etwas sagen lässt und schließlich sogar den intriganten Dorfpfarrer ohrfeigt.
Vorstudie zum Roman "Patria"
Das Buch ist kein breit auserzähltes Epos wie der 2016 entstandene Roman "Patria", in dem Aramburu große Fragen von Separatismus und Nationalismus, von Ideologie und Gewalt verhandelt. "Langsame Jahre" - im spanischen Original 2012 veröffentlicht - wirkt wie eine Art Vorstudie dazu, eine brillante Fingerübung. Das Buch war damals sein erster Roman, in dem sich der Autor intensiver mit seiner baskischen Heimat beschäftigte. Man spürt darin noch die Nachwirkungen einer eher lyrischen und experimentellen Schreibweise, die sein Werk zuvor charakterisiert hatte.
Hier nun zeichnet Aramburu das Bild einer Gesellschaft, in der die Atmosphäre von der Repression der letzten Jahre der Franco-Diktatur geprägt ist. Die Unabhängigkeitsbewegung richtet sich primär gegen die diktatorische Obrigkeit, noch nicht so sehr - wie später in ihrer ideologischen, linksradikalen Variante - gegen die baskische Bevölkerung. Aramburu gelingt es in seinem Text, die melancholische Stimmung jener Zeit sehr pointiert und kraftvoll einzufangen:
"Es war, als lebte man in anderen Ländern schneller; die Moden wechselten in relativ kurzen Abständen, mehr Dinge passierten, oder es passierte überhaupt etwas."
Ein heiteres, humoristisches Buch über eine sehr finstere Epoche.
Fernando Aramburu: "Langsame Jahre"
Aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen
Rowohlt Verlag, Hamburg. 203 Seiten, 20 Euro.
Aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen
Rowohlt Verlag, Hamburg. 203 Seiten, 20 Euro.