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Fernsehen fernsehen. Modelle der Medien- und Fernsehtheorie

Die starken Polarisierungen in Bezug auf das "Noch-Leitmedium" der Populärkultur scheinen sich erschöpft zu haben, selbst wenn die Niederungen des Big-Brother Experiments mehr als kontrovers diskutiert werden. Jeder moralische Appell warb ungewollt f'ür das Unterfangen - der Sender hatte die Kritiker zu Werbetreibenden umfunktioniert. Ungeduldig erwarten wir die sozialpsychologischen Sondierungen zum Erfolg dieser freiwilligen Container-Peep-Show.

Bernd Matheus | 25.09.2000
    Hatte Hans Magnus Enzensberger 1988 die Television als "Nullmedium" apostrophiert, so beklagte Pierre Bourdieu noch zehn Jahre später vehement die gemeinte Produktion von Leere sowie die Tatsache, daß der nichts zähle, der nicht im Fernsehen präsent sei. Der eine unterschätzt, der andere überschätzt das Medium. Weder die elitäre Verachtung noch die narzißtische Kränkung des Intellektuellen rühren am Status dieses "Massen- und Gebrauchsmediums".

    Das materialienreiche Buch der Medienwissenschaftlerin Heidemarie Schumacher rekonstruiert die Entwicklung des Mediendiskurses innerhalb der letzten vierzig Jahre. Ihr Parcours führt von einem Wandfresko Giandomenico Tiepolos über Semiologen wie Roland Barthes oder Umberto Eco, Dekonstruktivisten wie Jacques Derrida hin zum Strukturalismus Michel Foucaults und zu den explizit medientheoretischen Ansätzen eines Marshall McLuhan oder Paul Virilio. Für die Autorin ist Tiepolos Darstellung einer Schaubudenszene aus dem Jahre 1791 eine Art frühe visualisierte Medientheorie, da das Fresko mit seinen Zuschauern, Machern, Kritikern einschließlich der Simulation von Welt das "Medium als apparative Anordnung" repräsentiere. Die Fokussierung auf den Betrachter hatte Michel Foucault, so in "Die Ordnung der Dinge", als ein generelles Kennzeichen der Renaissance-Malerei hervorgehoben, in der das Denken gedacht, die Repräsentation dargestellt werde. Im Film, so Schumacher, kulminiere diese Tendenz, "weil er zugleich ein Subjekt des Sehens und ein Objekt, das gesehen wird, darstellt". Von den ideologiekritischen Beiträgen der vergangenen zwei Dezennien, die in "Fernsehen fernsehen" diskutiert werden, seien nur kurz diejenigen von Baudry, Baudrillard, Virilio und Postman zitiert.

    Für Jean-Louis Baudry stellt das Setting, das Passivität und Regression des Zuschauers verlangt, ein wesentliches Element für die Rezeption von Film, TV oder Theater dar: in seiner eingeschränkten Motorik werde der Zuschauer zum Kleinkind.

    In seiner "Ästhetik des Verschwindens" parallelisierte der Theoretiker der Geschwindigkeit, Paul 'Virilio, die Entwicklung der klassischen Transportmittel für Personen und Güter mit den technologischen Innovationen, die der Übermittlung von Daten dienen, also: Telegrafie, Telefon, Radio, Film, Fernsehen. Virilio warnt vor einer Uniformierung der Wahrnehmung infolge der "Hyperkommunikabilität". Mit anderen Worten: "Die teleoptische Wirklichkeit setzt sich gegen die topische Wirklichkeit des Ereignisses durch". Wie sehr das bereits zutrifft, bestätigt Julia Kristeva, wenn sie von jungen Klienten berichtet, die ihre Psychoanalyse praktisch ohne eigene Biographie beginnen und die sich statt dessen mit Hilfe von Protagonisten aus Spielfilmen bestimmen und erklären.

    Neil Postmans polemische Auseinandersetzung mit dem Medium Mitte der 80er Jahre gleicht im wesentlichen Virilios Ideologienkritik. Fernsehen konditioniere die Wahrnehmung und folglich Lebens-Stile, Verhaltens-Codes, die Meinungs- und Sinnbildung der Zuschauer. Dem vom Fernsehen eingeleiteten "Zeitalter des Showbusiness", das seine ästhetischen Kriterien von der Werbung bezieht, entspricht in dieser Sicht eine entpolitisierte Konsum- und Spaßgesellschaft.

    Warnte man in der Gutenberg-Epoche nicht auf vergleichbare Weise vor der der Sittlichkeit abträglichen Lektüre von Romanen? Was sage ich: verurteilten nicht schon die Alten ganze der Zerstreuung, Erbauung und Unterhaltung dienende Kunstgattungen?

    Potentiell besitzt jedes Medium eine affirmativ-konditionierende wie auch eine subversive, systemkritische Seite. In jedem Fall ist es Sache des Rezipienten, ob er sich auf die Message einläßt. Durch Medienkontrolle bewahren Diktaturen ihre Macht, umgekehrt büßen sie diese früher oder später ein, sobald eine vollkommene Zensur und Abschottung technisch nicht mehr möglich ist: die gewissermaßen immaterielle Nachrichtenübermittlung ist der größte totalitärer Regime.

    Baudrillards These von der generellen Simulation unterstellt schließlich, daß kein Zeichen mehr auf etwas Reales verweise, im "Hyperrealen" der Medienwelt seien Realität und Symbolwelt ununterscheidbar geworden. Es ist möglich, wie Postman es tut, den skeptischen Soziologen als "Apologeten der Beliebigkeit" mißzuverstehen, letztendlich aber behält Baudrillard recht, nur gedacht an die Bilder vom Irak-Krieg oder an diejenigen der sogenannten Balkankrise. Der Mehrheit vorm Bildschirm war es versagt, das, was sie sahen, auf seine Authentizität hin zu prüfen.

    Das durch elektronische Vernetzung ermöglichte "globale Dorf", d.h. eine Kultur der Gleichzeitigkeit und Allgegenwärtigkeit, antizipierte bereits Marshall McLuhan Mitte der 60er Jahre. Medien - von der Telegrafie über das Auto bis hin zum Fernseher - waren in seinem Verständnis Ausdehnungen unseres Körpers, unserer Sinne, unseres Zentralnervensystems. Dennoch erkannte dieser Guru aller Medientheorie die Gefahr der "Narkotisierung" des Users, dessen Manipulation, Konditionierung. "McLuhan, Virilio und Kittier", schreibt Schumacher, sahen "die Medien als technische Implementierung der Funktionen des Zentralnervensystems, die dem User weitgehend verborgen bleibt".

    Medientheoretiker wie John Fiske und John Ellis greifen auf die Semiologie zurück, wenn sie das Fernsehprogramm als ein Gewebe - die wörtliche Übersetzung von Text - von Codes und Konventionen beschreiben. Nachrichten und Fiktion bedienten sich des gleichen Zeichenrepertoires im Vertrauen auf die kollektiven Mythen einer Kultur. Fernsehen, resümiert die Autorin, "formuliert u.a.den kulturellen Konsens darüber, was in einer Gesellschaft als Realität definiert wird". Für Joshua Meyrowitz gilt indes die Trennung zwischen wirklichem Leben und medial vermittelter Realität nicht mehr. Seines Erachtens sind beide Teile ein und desselben "Verhaltens"- bzw. "Umwelt"-Systems. Schumacher scheint Baudrillard zuzustimmen, wenn sie schlußfolgert, daß "die Konstruktion durch Medien weniger als Ab-Bild (mimetisch) [funktioniert] denn als Simulation: Die Scheinwelf der Medien, die Modelle, nehmen den Platz ein, der bisher dem gebührte, was wir gemeinhin als Wirklichkeit bezeichneten".

    Anzuzeigen ist die kritische Analyse eines Mediurns, das "zunehmend als Unterhaltungsmaschine funktioniert". Seine Tage als Leitmedium Nr.1 sind indes gezählt.