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Fernsehexperiment "Terror"
"Früher wurde das Publikum belehrt, heute darf es mitentscheiden"

Das Fernsehexperiment "Terror" sei schon deutlich darauf angelegt, dass es in Richtung Freispruch tendiere, sagte der Medienwissenschaftler Dietrich Leder im DLF. Das sei durch Regisseur Lars Kraume und die Schauspieler verstärkt worden. Grundsätzlich halte er das Experiment für aufklärerisch.

Dietrich Leder im Gespräch mit Sandra Schulz | 18.10.2016
    Dietrich Leder, deutscher Medienwissenschaftler, Publizist und Filmschaffender, Professor im Bereich Fernsehen und Film an der Kunsthochschule fuer Medien in Köln.
    Der Medienwissenschaftler und Publizist Dietrich Leder. (picture alliance/dpa - Erwin Elsner)
    "Aufklärerisch ja, aber nur dank der Theologin Petra Bahr", ergänzte Leder mit Blick auf die anschließende Diskussionssendung "Hart aber Fair". Sie habe darauf aufmerksam gemacht, dass die Situation "kein Richtig kennt, sondern nur ein Falsch und Falscher".
    Bei dem großangelegten TV-Experiment und der Diskussionsrunde ging es darum, ob man ein Flugzeug mit 164 Passagieren abschießen darf, um 70.000 Menschen das Leben zu retten. Das Besondere: Die TV-Zuschauer durften das Urteil fällen. 86,9 Prozent entschieden, dass der im Film angeklagte Bundeswehrsoldat unschuldig ist. Nur 13,1 Prozent hielten ihn für schuldig.
    Aus Sicht der ARD müsse man abwarten, wie die Quoten aussähen, sagte Leder. "Experimente heute im Fernsehen sind selten ästhetische Experimente, sondern sind eher Experimente mit dem Publikum." Es sei permanent Reklame für dieses Stück gemacht worden. "Ob das aufgegangen ist, wird sich noch zeigen".
    Es sei spannend zu sehen, wie das Thema Gerichtsverfahren im deutschen Fernsehen aktuell behandelt wird. "Früher gab es Sendungen, wie etwa 'Das Fernsehgericht tagt'. Das waren immer Fälle, um das Publikum zu belehren, man konnte mitdiskutieren, aber anschließend kam der Rechtsexperte und erklärte einem das", so der Publizist. Heute dürfe das Publikum mitentscheiden.

    Das Interview in voller Länge:
    Sandra Schulz: Bei mir im Studio begrüße ich Professor Dietrich Leder, Medienwissenschaftler von der Kunsthochschule für Medien in Köln. Schönen guten Morgen!
    Dietrich Leder: Guten Morgen!
    Schulz: Das war ja ein Experiment, ganz ausdrücklich. Ist es geglückt?
    Leder: Das muss man in der Sicht der ARD abwarten, wie die Quoten aussehen. Experimente heute im Fernsehen sind selten ästhetische Experimente, sondern sind eher Experimente mit dem Publikum. Hat also diese Mobilisierung der Massen, permanente Reklame für dieses Stück – selbst in der "Tagesschau" kurz vorher kam noch eine Einblendung unten, dass man das Stück gleich sehen sollte. Gestern im "Tatort" mitten bei der ersten oder zweiten Leiche Hinweis auf das Fernsehstück am nächsten Tag. Also, ob das aufgegangen ist, das wird sich erst noch zeigen.
    Schulz: Aber jetzt sagen Sie mir nicht, dass Sie die Frage, ob das Experiment geglückt ist, von der Quote abhängig machen.
    Leder: Nein. Es ist spannend für mich zu sehen, wie das Thema Gerichtsverfahren im deutschen Fernsehen aktuell behandelt wird. Wenn man sich erinnert an uralte Zeiten mit "Das Fernsehgericht tagt" oder "Wie würden Sie entscheiden?", waren diese Fälle, die behandelt wurden, immer Fälle, um das Publikum zu belehren. Das Publikum war also gleichsam Objekt, dem erklärt wurde, wie Recht funktioniert. Da konnte man zwar mitdiskutieren, aber anschließend kam der Rechtsexperte und erklärte einem das. Das hat sich jetzt gewandelt. Jetzt ist auf einmal das Publikum aktiv, darf entscheiden. Aber was darf es entscheiden? Zwischen schuldig und unschuldig einer filmischen Inszenierung mit lauter Effekten, mit einer Besetzung, die schon in eine bestimmte Richtung geht. Stellen Sie sich nur mal vor: Gestern hat in dem Fernsehfilm, den Lars Kraume sensationell gut mit einer sensationell guten Besetzung inszeniert hat, hat er die Rolle dieses Majors mit Florian-David Fitz besetzt. Das ist der Smart-Junge des deutschen Kinos, das ist der, dem alle Herzen zufliegen. Der Verteidiger war Lars Eidinger. Wenn jetzt Eidinger den Soldaten gespielt hätte, wäre ganz sicher die Abstimmung nicht mit 89 aufgelaufen, sondern eher vielleicht mit 65. Das heißt, die Entscheidung ist weniger eine Entscheidung tatsächlich dieser moralischen oder auch der rechtlichen Bewertung, sondern es ist eine Entscheidung in einer Inszenierung, die auch groß als Staatstheater daherkam. Im Hintergrund immer den Reichstag, der so langsam sich verdunkelt und verdämmert. Und in einer Argumentation, die vielleicht hochkomplex war und vielleicht an manchen Stellen überkomplex war.
    "Lauter abstrakte Setzungen, die den Fall zuspitzen sollen"
    Schulz: Aber wir haben ja das gleiche Ergebnis, wenn auch sozusagen mit einer anderen Gewichtung, wie in vielen, vielen Theatervorstellungen auch schon erzielt. Die Mehrheit sagt Freispruch. Ihre These ist, das ist sozusagen als Freispruch inszeniert, und da gab es gar keine andere Möglichkeit.
    Leder: Also, im Stück ist schon ganz deutlich angelegt, auch wenn von Schirach das Gegenteil sagt, dass es in Richtung Freispruch tendiert. Das ist aber durch diese Inszenierung durch Kraume und durch diese Besetzung noch mal verstärkt worden. Und tatsächlich gibt es ja Absurditäten in dieser ganzen Fallkonstruktion. Wenn man das Buch noch mal liest nach dieser Fernsehinszenierung, bemerkt man auch Aktualisierungen. Also zum Beispiel im Theatertext, im ursprünglichen Theatertext, ist es Al Kaida, um die es da geht, und jetzt ist es auf einmal der IS. Das heißt, man hat es tatsächlich auf die jetzige Situation adaptiert, was aber mit dem Fall nicht ganz stimmt. Wie kommt ein einzelner Täter heute tatsächlich in ein Cockpit? Das ist ja in der Diskussion dieses Suizids mit dem Massenmord der Passagiere in Frankreich schon heftig diskutiert worden. Dann die Frage, wie kann man ein Flugzeug abschießen, dass es auf einen Kartoffelacker prallt? Und das wird sogar noch bezogen auf 2001 – wo wollte man in Manhattan das Passagierflugzeug abschießen? Das heißt, da sind lauter abstrakte Setzungen, die den Fall zuspitzen sollen und dadurch radikalisieren.
    "Vorstellung, wir entschieden als Schöffen, ist natürlich irrig"
    Schulz: Ja, aber ohne geht es ja auch im Fernsehen nicht. Wenn wir jetzt drauf schauen: Wir hatten gestern eine Auseinandersetzung, jetzt, wenn man den ganzen Fernsehabend zusammen nimmt, den Fernsehfilm und die dann folgende "Hart aber fair"-Diskussion, wir hatten eine Auseinandersetzung, hoch differenziert, hoch anspruchsvoll, mit ganz vielen verschiedenen Erwägungen zu einer ganz schwierigen moralischen Frage. Ist das nicht aufklärerisch?
    Leder: Ja, aber auch nur dank einer wirklichen Glücksbesetzung, der Theologin Petra Bahr, die gestern dabei war. Ursprünglich, wenn man sich das anschaute, wäre es wieder ein Pro und Kontra gewesen zwischen den damaligen Kontrahenten der Verfassungsgerichtsentscheidung, nämlich dem ehemaligen Verteidigungsminister Jung und dem Liberalen Gerhart Baum. Und diese Theologin hat darauf aufmerksam gemacht, dass die Situation, um die es hier geht, kein Richtig kennt, sondern nur ein Falsch und Falscher. Und sie hat darauf hingewiesen, dass diese Entscheidung, die wir treffen, irgendwie auch eine Amtsanmaßung ist. Denn die Vorstellung, wir entschieden als Schöffen, wenn wir uns da an diesem TED beteiligten, ist natürlich irrig – dieses Urteil würde immer in eine nächste Instanz gehen und würde vielleicht irgendwann mal sogar wieder vor dem Verfassungsgericht enden. Und dann würde diese Frage noch mal neu diskutiert werden in der höchsten Instanz.
    Schulz: Wünschen Sie sich dieses Projekt, dieses Experiment fortgesetzt zu sehen anhand von anderen juristisch und moralisch spannenden Fällen?
    Leder: Das ist eine schwierige Frage. Die Frage habe ich mir auch gestellt, nämlich über die großen Rechtsdiskussionen. Bei der Frage dieses entführten Jungen in Frankfurt, wo dann der Polizeichef so was wie Folter angedroht hat, eine Frage der moralischen Ausweglosigkeit – die so zuzuspitzen, dass man das Pro und Kontra entscheidet, finde ich falsch. Dass das Fernsehen sich mit den Fragen der Zeit beschäftigt und den elementaren Problemen, das ist notwendig. Und wenn es in der Qualität geschieht, wie Kraume das gestern realisiert hat, dann guckt man zu, auch wenn man sich ärgert.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.