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Festival d'Avignon 2018
Queere Biografien in der islamischen Welt

Ein Homosexueller lässt sich den Namen seines Freundes tätowieren: Mohammed, wie der Prophet. Seine und andere Geschichten aus der LGBT-Gemeinschaft erzählen Theaterkünstler aus der islamischen Welt beim Festival d'Avignon. Dort wird dieses Jahr wieder ein Fokus auf arabisch-iranische Arbeiten gelegt.

Von Eberhard Spreng | 19.07.2018
    Eine Szene aus Gurshad Shahemans "Il pourra toujours dire que c'est pour l'amour du prophète" beim Festival d'Avignon 2018
    LGBT ist die englische Abkürzung für die Lesbian-Gay-Bisexual-Transgender-Gemeinschaft (Festival d'Avignon / Christophe Raynaud de Lage / Hans Lucas)
    Mama sitzt mit Brosche und Perlenkette auf ihrem Rokoko-Fauteuil und hält Hof: Die Schwiegertochter wird über Erziehungsfragen belehrt, der Enkel gehätschelt, die Enkelin gemaßregelt. Ihren Sohn Karim hat sie aus ihrer Abhängigkeit nie entlassen und keine Sekunde lockert sie die strikte Kontrolle seines Ehelebens. Der ägyptische Regisseur Ahmed El-Attar erzählt in "Mama", im Stil eines Konversationsstückes mit linearer Dramaturgie, einen Alltagsausschnitt aus dem Salon einer wohlhabenden Kairoer Familie.
    Den Regisseur interessiert die Frage, welche Rolle die Mütter bei der Erziehung der kleinen Machos spielen, auf denen die patriarchalische Gesellschaft in der arabischen Welt fußt. Frauen erleben Unterdrückung von Vätern und Ehemännern, sichern sich dann aber ihren eigenen Einfluss durch die Erziehung des eigenen Sohns, qua Manipulation und Kontrolle.
    Für El-Attar ist die Verachtung der Frauen durch den Mann ein Ergebnis des unfreien Verhältnisses des Sohnes zur eigenen Mutter. Der ägyptische Regisseur ist einer der Künstler, die beim Festival in Avignon Einblicke in die vom Islam geprägten Gesellschaften Nordafrikas und des Nahen Ostens geben.
    Individuelle Schicksale als Metaphern
    Der Iraner Amir Reza Koohestani, dessen Stück "Hearing" über ein Teheraner Mädchenpensionat vor zwei Jahren auch in Deutschland gastierte, zeigt nun "Summerless", wo ein erfolgloser Kunstmaler den verblichenen Anstrich einer Schulwand neu gestalten soll. Aber der alte Slogan aus der Revolutionszeit schlägt immer wieder durch auf die neuen, modernen Motive. Diese Bildwelt begleitet das Drei-Personen-Stück und seine sehr stillen, ruhigen Dialoge. Es beleuchtet individuelle Schicksale, die als Metaphern für zentrale Fragen der iranischen Gesellschaft stehen.
    "In der iranischen Revolution spielte die Erziehung eine zentrale Rolle: Die kostenlose Bildung für alle wurde Teil der Verfassung. Schule und das Erziehungssystem sind eine perfekte Metapher für die Entwicklung der iranischen Gesellschaft, in der wir den Wandel von einer postrevolutionären in eine kapitalistische Gesellschaft erleben, in der aus Schülern Konsumenten werden."
    Geschichten von Unterdrückung und Bürgerkrieg
    Auch mit dem iranischstämmigen Autor und Regisseur Gurshad Shaheman gelingt dem Festivalprogramm ein weiteres Beispiel stiller, intensiver Hörräume. Der junge Künstler, der in Avignon als Entdeckung gefeiert wird, war als Zwölfjähriger nach Frankreich gekommen und hat dort eine Theaterausbildung absolviert. Er stützt sich für sein Stück "Il pourra toujours dire que c’est pour l’amour du prophète" auf Berichte von Flüchtlingen mit queeren Biografien. "Es sind Einzelschicksale, in der Aufführung gibt es nichts Chorisches. Es sind 17 einzelne Menschen auf der Bühne, aber sie bleiben in ihrem eigenen Kopf; wir erleben eine mentale Landschaft der Einsamkeiten."
    Reglose Körper lagern im Dämmerlicht auf dem Boden, liegend, kauernd, sitzend. Geschlossene Augen oder tote Blicke in die Leere. Dann kehrt das Leben langsam in einen dieser Körper zurück und mit ihm eine Erinnerung: die Razzia der Muslimbrüder gegen Homosexuelle, Folter, die Rettung vor dem Ehrenmord. Geschichten von Unterdrückung und Bürgerkrieg, aber darin auch Liebesgeschichten, zum Beispiel die Liebe zwischen zwei jungen Männern: Mohammed und Baschar, der sich den Namen des Freundes auf die Haut tätowieren lässt. So kann er immer behaupten, er trage das Tattoo aus Liebe zum Propheten auf seiner Haut, worauf der lange Titel anspielt. In einem faszinierenden akustischen Geflecht durchdringen sich intime Erfahrungen und Berichten vom Krieg im Nahen Osten. Private Geschichte und Weltgeschichte überlagern sich und erscheinen dabei wie Botschaften aus einem dunklen Traum.
    Trance und Traum als Ausbruch
    Traum, Trance, Parallelzustände des Bewusstseins, das sind die verbliebenen freien Daseinsräume für Menschen in einer Zivilisation mit strenger Körperpolitik. Das gilt für die Frauenmusikgruppe "Lemma" aus Südalgerien nicht anders als für den Beiruter Choreografen Ali Chahrour, der seinen dreiteiligen Zyklus mit Stücken über schiitische Trauerrituale mit "May he rise and smell the Fragrance" beendet. Auch das ist Trance, ein Ritual aus dem Zwischenreich zwischen Tod und Leben.