Wer die Treppen des Hebbel am Ufer hochsteigt, kann sie hören: Die vielen indigenen Sprachen, die es in Brasilien gibt. Noch. Denn viele der Stimmen, die durch die Flure des Theaterhauses hallen, sind kurz davor, für immer zu verstummen, sagt Ricardo Carmona, der Kurator des Festivals.
"Wenn man sich ganz Südamerika anschaut, dann hat es dort insgesamt einmal 500 verschiedene indigene Sprachen gegeben. Manche von ihnen sind schon ausgelöscht. Bei manchen ist es wirklich schrecklich zu sehen, dass es nur noch einen einzigen Menschen gibt, der diese Sprache überhaupt spricht. Du weißt, wenn diese Frau einmal stirbt, wird auch diese Sprache für immer verschwinden."
Die Sprachvielfalt geht verloren, weil die indigenen Völker in Brasilien selbst ums Überleben kämpfen müssen. Immer größere Teile ihres Lebensraums werden zerstört. So wie im Amazonasgebiet, wo der Regenwald ohne Rücksicht auf die Umwelt abgeholzt wird. Auch darauf will das Festival aufmerksam machen, erklärt die Intendantin des Hebbel am Ufer Annemie Vanackere.
"Was uns sehr interessiert hat, ist die ökologische Frage verknüpft mit dem Verschwinden, das heißt Auslöschen der indigenen Völker. Ich glaube, dass viele Menschen hier, auch aus unserem Publikum, nicht realisieren, wie schlimm die Situation dort ist. Ich glaube, die ökologische Katastrophe, hat mit uns allen auf dieser Erde zu tun."
Eröffnet wird das Festival deshalb mit dem Tanzstück "For the sky not to fall". Möge der Himmel nicht fallen - auf brasilianisch.
Das Herabstürzen des Himmels
Die brasilianische Choreografin Lia Rodrigues hat sich dafür Inspiration bei Davi Kopenawa geholt. Einem Schamanen, der im amazonischen Regenwald lebt und für die Rechte der indigenen Völker kämpft. Kopenawa warnt die Menschen davor, dass ihnen der Himmel auf den Kopf fallen werde, wenn sie ihr zerstörerisches Verhalten nicht ändern.
Tanzen, um den Himmel zu halten - Rodrigues hat sich für ihr Stück intensiv mit den Ritualen der Ureinwohner Brasiliens beschäftigt, mit den Trancetänzen der Indianer. Auf der Bühne wird es nach Kaffee und Kurkuma duften, die Tänzer bestäuben ihre Körper mit dem schwarzen und dem goldgelben Pulver: Kaffee und Gold - beide sind Symbole für die portugiesischen Kolonisatoren, mit denen die Zerstörung im Regenwald, das Herabstürzen des Himmels begonnen hat. Für die Choreographin Lia Rodriguez kann dieser Himmel, um den es in ihrem Stück geht, für alles Mögliche stehen.
"Man kann den Himmel für seine Familie halten. Oder für die Flüchtlinge. Für jemanden der krank ist. Es ist jedem selbst überlassen, jeder muss das selbst herausfinden und dafür arbeiten."
Doch darüber, dass es ein Land, nämlich Brasilien, im Moment besonders nötig hat, dass der Himmel über ihm gehalten wird, darüber sind sich alle Künstler einig, die am Projeto Brasil teilnehmen. Nachdem Präsidentin Dilma Roussef entmachtet wurde - die Künstler sprechen von einem Putsch - wollen sie klar und deutlich zeigen, dass sie die neue konservative Regierung um den Interims-Präsidenten Michel Temer nicht akzeptieren und demokratische Wahlen fordern.
"Damit auch wir in Europa verstehen, was dort vor sich geht"
"Wir alle wissen, wie schwierig die politische Lage in Brasilien ist. Und die Künstler haben ein dringendes Bedürfnis, das auch zu thematisieren während des Festivals, damit auch wir in Europa verstehen, was dort vor sich geht."
Um diesem Wunsch nachzukommen, lädt Festivalkurator Ricardo Carmona am 14. Juni zu einem großen öffentlichen Plenum ein, bei dem Künstler und Publikum gemeinsam über die politische Situation in Brasilien debattieren können. Manche Künstler wollen am Ende ihrer Theaterstücke politische Manifeste verlesen oder Flugblätter verteilen. Die brasilianische Rapperin Karol Conka, sowieso bekannt für ihre politischen Songs, wird den Protest wohl einfach in ihre Texte einbauen.
Für eine stillere Form des Widerstands hat sich das Kollektiv Opavivará! entschieden. Auf der Wiese vor dem Festivalhaus haben die jungen Künstler eine achteckige Holzkonstruktion aufgebaut. An den Balken hängen bunte Stoffhängematten in denen es sich die Besucher bequem machen können. In der Mitte: ein Tisch, auf dem sie sich ihren eigenen Tee aufgießen können. Ein Ort der Entschleunigung auf der grünen Wiese - daneben rauschen Autos, Busse und U-Bahnen vorbei. Doch Opavivará! will mit dieser Hängematteninstallation nicht das Klischee der Brasilianer bedienen, die gerne mal auf der faulen Haut liegen. Für sie ist es eine politische Arbeit, die zeigen soll, dass nur jene, die auch mal innehalten, etwas in Frage stellen können.
"Wer nichts macht, tut doch eine Menge. Der neue unrechtmäßige Präsident lässt Plakate aufhängen, auf denen steht: Denkt nicht an die Krise. Arbeitet. Er sagt uns, wir sollen nicht denken. Und wir machen genau das Gegenteil. Wir sagen: Arbeite nicht. Denke. Denn ohne Nachzudenken, kann niemand etwas kritisch sehen oder etwas verändern."
Man könnte auch sagen: Wer in der Hängematte liegt, hat ihn besonders gut im Blick: Den Himmel, der auf uns herabzufallen droht.