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Fiktion zu Anne Frank
Literarische Wiederbelebung

Waldtraut Lewin, Dramaturgin und Autorin einer monumentalen Geschichte des Jüdischen Volkes, rettet in ihrem aktuellen Roman Anne Frank vor der Ermordung im KZ Bergen-Belsen - und begleitet die 15-Jährige auf ihrem Weg ins Israel der Jetzt-Zeit.

Von Thomas Linden | 20.06.2015
    Wenn sich jemand in die Herzen seiner Leser geschrieben hat, dann war es Anne Frank. Die Auflage ihres Tagebuchs beträgt weltweit über 20 Millionen verkaufter Exemplare, und wer in Amsterdam als Tourist weilt, kann sich vom Strom der Besucher überzeugen, die täglich vor dem Haus in der Prinsengracht 263 auf Einlass harren. Ihr schrecklicher Tod im KZ Bergen-Belsen, wo sie, nur in eine Decke gehüllt - da ihre Kleider voller Läuse waren- im Februar 1945 starb, trägt durchaus zum Erfolg des Tagebuchs bei. Er verleiht den Aufzeichnungen eine Bitterkeit, die der Text nicht enthält, und er weckt in uns Lesern den unwillkürlichen Wunsch, sie vor diesem Schicksal bewahren zu wollen.
    Waldtraut Lewin erfüllte sich diesen Wunsch. Träumerisch klingt der Titel ihres neuen Buches "Wenn du jetzt bei mir wärst. Eine Annäherung an Anne Frank". Sie rettet das schöne, kluge Mädchen, die Tochter jüdischer Eltern, die 1929 in Frankfurt am Main das Licht der Welt erblickte, vor ihrem grausigen Schicksal. Wie geht das?
    Bei einem Besuch im Museum, zu dem das Versteck ausgebaut wurde, in dem Annes Familie zwei Jahre überleben konnte, geht das Mädchen vor der Erzählerin die Stiegen hoch. Anne trägt die roten Schuhe, auf die sie immer so stolz war. Die Erzählerin verwickelt sie in ein Gespräch und schon hat sie Anne Frank ins heutige Amsterdam entführt. Ist das eine Befreiung oder eine Aneignung? Jedenfalls scheint sie berauscht von der Tatsache, Anne Frank an ihrer Seite zu wissen. Ist es Waldtraut Lewin selbst oder ihre gleichaltrige Erzählerin, die sich bis über beide Ohren in Anne Frank verliebt? Man kann das kaum beantworten, angesichts solch schwärmerischer Passagen:
    "Wenn ich eine Comiczeichnerin wäre, würde ich jetzt zwischen unseren beiden Händen, ach was, zwischen unseren Körpern einen Energiestrom fließen lassen; zitternde, zuckende Blitze, so etwas wie den Moment der Vereinigung."
    Ihre Morgengabe an das auferstandene Mädchen ist eine Führung durch unsere bunte Welt der Gegenwart, die ohne Hakenkreuze und Wehrmachtsuniformen auskommt. Klar, dass man in Amsterdam eine Bootsfahrt macht und abends in die Disco geht, wo Anne prompt Haile, einen jungen Farbigen, kennenlernt, der selbstverständlich auch jüdischer Abstammung ist.
    Spätestens hier stellt sich die Frage, wer ist diese Anne Frank? Eine historische Gestalt, ein 15-jähriger Teenager, eine 85-Jährige, die das Leben noch einmal genießen möchte? All das ist sie bei Waldtraut Lewin und außerdem noch ein Geist, ein Avatar, wie sich zeigt, als sie von einem Motorrad überfahren wird und unverletzt bleibt.
    Damit der Roman funktioniert, muss sie diese zahlreichen Gestalten annehmen, denn Anne Frank fehlen die 70 Lebensjahre seit Kriegsende. Die Welt hat sich verändert, und so gibt es für die Erzählerin stets einen Grund, der Anne Frank von heute historisches Wissen nachzutragen. Was ist nach dem Kriege aus Europa geworden? Wie hat sich Deutschland entwickelt? Die Geschichte der "Exodus" wird erzählt, die Gründung des Staates Israel rekapituliert. Immer wieder enthält das Buch referierende Passagen, die historisches Material transportieren, allerdings ohne es kritisch zu beleuchten, denn das würde den Rahmen sprengen.
    Autorin macht aus Anne Frank eine Allerweltsgestalt
    Was wird nun aus Anne Frank? Waldtraut Lewin sieht ihre Zukunft in Israel, dorthin lotst die Erzählerin sie samt Haile, ihrem Freund, der vor einigen Jahren in Tel Aviv nur knapp einem Selbstmordanschlag der Hamas entgangen ist. Annes altes Kleid wird verschenkt und mit dem neuen Outfit tritt uns eine andere Person entgegen:
    "Die Beifahrertür öffnet sich und dem Wagen entsteigt ein fremdes Mädchen. Eine junge Israeli in Shorts und unter der Brust geknoteter Hemdbluse, an den Füßen feste Sandalen, von denen sie sich bei schlammigen Wegen einfach trennen kann. Überm lockigen Haar trägt sie ein kleines bunt gemustertes Tuch. Anne in Gestalt einer Israeli."
    Das klingt schick, aber es macht aus Anne Frank eine Durchschnittsgestalt, einen Typ: Die attraktive 15-jährige Israeli. Die Konturen des Mädchens, das eine so großartige psychologische Beobachterin war und in seinem Tagebuch die Welt mit fröhlich tapferer Ironie kommentierte, verschwinden fast vollkommen. Um der Verweltlichung ihrer Protagonistin entgegenzuwirken, bemüht Waldtraut Lewin das Pathos. So heißt es, wenn sich Anne Notizen macht, knapp und weihevoll:
    "Anne Frank schreibt."
    Mit der Ankunft in Israel wird der Konflikt um Palästina automatisch zum Thema. Aber wie geht eine ethisch so konsequente Persönlichkeit wie Anne Frank mit den Widersprüchen des Nahen Ostens um? Gar nicht, lautet die Antwort dieses Romans. In dem Maße, in dem Waldtraut Lewin die Gestalt von Anne Frank entgleitet, verrutschen auch die politisch-historischen Hintergründe. Waldtraut Lewin erklärt die Hamas zur alles bedrohenden Kraft des Bösen. Da kann einem schon der Schrecken in die Glieder fahren, wenn es plötzlich heißt:
    "Mir stockt der Atem. Die Hamas, das ist die islamische Terrororganisation in Palästina, jene, die damals diese verblendeten Selbstmordattentäter ins Land schickte. Hailes grässliche Geschichte ... Und jetzt?"
    Nun kapituliert der Roman vollends vor seinem Sujet und es geht nur noch darum, der Geschichte ein ebenso schnelles wie spektakuläres Finale zu bescheren. Mit der Hamas als boshafter Allzweckwaffe mündet die Geschichte in Kolportage und halbherziger Action. Während eines Ausflugs auf den Sinai gerät die Erzählerin mit Anne und ihrem Freund in einen Raketenbeschuss, der sein Opfer fordert.
    "Haile hechtet mit einem großen Drehsprung zu Anne, um sie zu Boden zu reißen. Ein weiterer Splitter wirbelt mit Macht durch die Luft, trifft ihn am Hals, reißt ihm die Schlagader auf. Noch im Sprung stürzt er zu Boden. Das Blut strömt."
    Hier gehen der durch ihre langjährige Theaterarbeit eigentlich erfahrenen Dramaturgin die Pferde durch. Der Ton ihrer zuvor bedächtig entwickelten Prosa gerät mit der unsinnigen Action-Sequenz in das Fahrwasser einer vollkommen anderen Geschichte. Einmal in Panik geraten, verspielt Waldtraut Lewin den letzten Rest an Glaubwürdigkeit mit einer Szene, die an Rührseligkeit kaum noch zu toppen ist:
    "Das Mädchen kniet neben dem jungen Mann. Sie hat seinen Kopf auf ihren Schoß gebettet, ungeachtet, dass ihr das Blut über die Beine läuft.
    'Nun weiß ich, wie Krieg ist', sagt sie still. Sie senkt den Kopf, küsst Haile auf die Stirn. Seine Augen verschleiern sich schon."
    Mit dem Mädchen aus dem Hinterhaus in Amsterdam hat das längst nichts mehr zu tun. So bleibt das mutige literarische Experiment einer Wiederbelebung Anne Franks letztlich fruchtlos und schrammt gefährlich nahe am Bewältigungskitsch vorbei.
    Waldtraut Lewin: "Wenn du jetzt bei mir wärst. Eine Annäherung an Anne Frank"
    cbj, 218 Seiten, 16,99 Euro