Archiv

Filmstart "Nuestro Tiempo"
Kampfbullen und Kontrollverlust

"Wir erleben im Western selten Charaktere, die moralisch sauber bleiben", sagte der Filmkritiker Rüdiger Suchsland im Dlf. In "Nuestro Tiempo" kämpft auch die Hauptfigur mit moralischen Fragen. Der Liebeswestern von Carlos Reygadas zeigt eine offene Beziehung - und die Dekonstruktion von Männlichkeit.

Rüdiger Suchsland im Gespräch mit Maja Ellmenreich |
Eine Szene aus Carlos Reygadas' Film "Nuestro Tiempo": Eine Frau steht mit einem Walkie Talkie vor einer Prärie-Landschaft, hinter ihr steht ein Mann, der von ihr abgewendet ist und in die Ferne schaut
Auf einer Farm im Norden Mexikos führen Juan und Ester eine moderne Beziehung - und drohen genau daran zu scheitern. (Grandfilm)
Der Schriftsteller Juan, gespielt von Carlos Reygadas selbst, lebt mit seiner Ehefrau Ester und zwei Kindern auf einer Farm im Norden Mexikos. Nachdem das Paar eine offene Beziehung vereinbart hat, verzweifelt Juan zunehmend an den Konsequenzen dieser Entscheidung. Als Ester sich auf ein Verhältnis mit einem amerikanischen Cowboy einlässt und es nicht sofort ihrem Ehemann erzählt, bröckelt das Ego von Juan, der das Klischee eines lateinamerikanischen Machos verkörpert. Dieser muss sich nun mit den eigenen Schwächen und Zweifeln auseinandersetzen.
Das bröckelnde Ego eines Machos
Carlos Reygadas erzählt anders, erklärt Rüdiger Suchsland. Die Filme des mexikanischen Regisseurs sind von dokumentarischen Passagen geprägt. Dabei spielt nicht nur die menschliche Natur eine Rolle, sondern auch die Tierwelt - und die Landschaft. Das passt zum Westerngenre, welches grundsätzlich vom Verhältnis des Menschen zur Natur und seinen Lebewesen erzählt. Es sei klassisch, dass "Menschen im Western oft versuchen, moralisch zu handeln, versuchen zivilisatorische Maßstäbe aufrecht zu halten, aber immer wieder daran scheitern", so Suchsland.
Bruch der heilen Welt
Der Film nimmt sich bei fast drei Stunden Länge die Zeit, langsam zu erzählen. Am Anfang steht die heile Welt der Familie. Der Bruch im scheinbar modernen Leben des Paares wird von Reygadas gerne durch Szenen außerhalb der Beziehung angekündigt. Die gemeinsame Zucht von aggressiven Kampfbullen verdeutlicht die Bedeutung der Instinkte, so Suchsland. Dazu werde vieles in diesem Film bereits zu Beginn projiziert - durch die Aktionen der Kinder. Deren Rituale spiegelten den weiteren Verlauf des Films. Generell benutze Reygadas die kindliche Seite, um die Schwere und Ernsthaftigkeit des Films mitunter ironisch zu brechen. Am deutlichsten werde das, wenn eine Kinderstimme als ernsthafter Erzähler auftrete, so Suchsland.
Kein Pro oder Contra zur "Offenen Beziehung"
Die Liebe Reygadas für das Natürliche drückt sich auch in seinem Faible für Laiendarsteller aus. So übernimmt seine Ehefrau Natalia Lopez auch im Film die Rolle seiner Frau Ester, auch die gemeinsamen Kinder spielen die Kinder des Filmpaares. Am Ende von "Nuestro Tiempo" gehe es Reygadas dabei nicht um ein wertendes Statement zu modernen Beziehungsformen, sondern viel mehr um die Beobachtung der zwischenmenschlichen Komponenten, die großen Fragen von Moral und Unmoral - und den schmerzhaften Prozess, sich selbst zu hinterfragen.