Christoph Heinemann: Ein grundlegend neues Verständnis von Pflege hat ein vom Bundesgesundheitsministerium eingesetzter Expertenrat gefordert. Der Beirat zur Überprüfung des Pflegebedürftigkeitsbegriffes plädierte für eine Abkehr von der bisherigen Minutenpflege und eine Orientierung der Pflegeversicherung an den Bedürfnissen der Einzelnen. Das soll gerade Demenzkranken stärker gerecht werden. Darüber hat mein Kollege Christian Schütte am Donnerstag Abend mit Ulrich Schneider gesprochen, dem Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, und ihn gefragt, wer oder was gegenwärtig in den Pflegeheimen zu kurz kommt.
Ulrich Schneider: Das Problem, mit dem es die Heime im Moment zu tun haben, ist das, dass die ganze Arbeit, die geleistet werden muss, weil Menschen altersverwirrt sind, praktisch nicht vergütet wird durch die Pflegekassen. Sie müssen also irgendwie sehen, dass dieses "mitgemacht" wird, das heißt die Zuwendung den Menschen zugute kommt, die sie brauchen, wenn sie verwirrt sind, die Aufsicht, die auch tatsächlich gewährleistet sein muss, weil man viele Menschen aus Gründen des Selbstschutzes nicht alleine lassen kann, und Ähnliches. Das führt letztlich zu ungeheuer angespannten Personalsituationen in Einrichtungen, führt zu ungeheuerem Stress für die Mitarbeiter, und hier braucht es dringend einer Entlastung durch mehr Personal.
Christian Schütte: Gerechter und humaner soll dadurch die Pflege werden. Ist denn unser jetziges Pflegesystem ungerecht und unmenschlich?
Schneider: Unser jetziges Pflegesystem ist nicht unmenschlich. Das denke ich nicht. Unser jetziges Pflegesystem ist auf jeden Fall aber ungerecht, denn ungerecht ist es, dass derjenige, der sich nicht selber waschen kann, eine Unterstützung bekommt, derjenige aber, der verwirrt ist und der sich noch nicht mal mehr daran erinnern kann, welche Tabletten er wann einzunehmen hat, und Ähnliches, überhaupt keine Unterstützung nach diesem System rechtlich erfährt, und das ist ungerecht, ja.
Schütte: Wird diese Pflege für Demenzkranke einfach nur nicht vergütet, oder findet sie gar nicht statt?
Schneider: Diese Pflege für Demenzkranke wird ja vielfach dann von Pflegekräften wahrgenommen, so wie sie halt Zeit finden. Das ist das Problem, dass man so hinschaut und sagt, wenn man jemanden füttert, weil er sich alleine nun mal das Essen nicht mehr zuführen kann, dass man dann auch wirklich ein bisschen schaut, wie lange kann ich denn bei ihm sitzen, kann ich denn nicht mit ihm noch ein bisschen mich unterhalten und Ähnliches, dass man jede Minute, die man irgendwie auch tatsächlich noch abzwacken kann von den Verrichtungen, die man als Pflegekraft ja ohnehin zu tun hat, dem alten Menschen auch wirklich gibt. Das passiert ja. Nur das passiert nicht in genügender Form.
Schütte: Gelingt es denn mit den Plänen, die heute vorgestellt wurden, dass die Pflegeversicherung den Herausforderungen der Zeit, wie es heißt, angepasst wird?
Schneider: Wir haben heute einen Pflegebegriff vorgelegt und ein begutachtetes System präsentiert, das tatsächlich den Bedürfnissen gerade auch altersverwirrter Menschen gerecht werden kann. Jetzt ist es an der Politik, dieses auch zügig in eine Pflegereform umzusetzen und damit Realität werden zu lassen, was wir vorgeschlagen haben.
Schütte: Bleiben wir noch einmal konkret bei diesem Vorschlag. Bisher gab es die Einteilung in drei Pflegestufen. Das sollte wegfallen zu Gunsten von fünf Bedarfsgraden. Wie müssen die ausgestaltet sein?
Schneider: Es wird zum Beispiel nachgefragt, ist der Einzelne überhaupt noch mobil genug, um tatsächlich sein Umfeld zu beschreiten, ist der einzelne denn tatsächlich auch noch genug kommunikationsfähig, um teilhaben können an der Gemeinschaft. Es werden also die unterschiedlichsten Defizite angeschaut, hieraus werden Punktwerte gesammelt und es wird ein Bedarf dann gebildet und eine Bedarfsgruppe. Das ist wesentlich komplexer und wird der Sache wesentlich gerechter als das jetzige dreistufige System. Es ist sicherlich ausbaufähig, alles ist verbesserungsfähig, aber es ist schon ein Riesen Schritt nach vorne.
Schütte: Diese neue Einteilung ist zunächst aber erst einmal nur ein formaler Akt auf dem Papier. Was ändert sich dadurch an der Situation? Wie hilft das den Betroffenen und den Pflegeheimen?
Schneider: Wir werden natürlich aufgrund dieser Bedarfsgruppen dann auch schauen müssen, was kostet denn eine Bedarfsgruppe, welche Unterstützungsleistung auch finanziell hat denn dann der einzelne auch wirklich nötig, um ihm in einer Einrichtung beispielsweise oder ambulant helfen zu können. Das wird. Es wird jetzt der politisch heikle Punkt kommen, wo man diese fünf Gruppen auch dann tatsächlich berechnet, finanziell berechnet und dann aushandelt, was soll den Menschen denn dann zustehen. Das wird die tatsächliche Antwort auf die Frage werden, werden wir den Menschen helfen können oder nicht.
Schütte: Erste Zahlen dazu sind ja bereits im Umlauf. Bessere Pflege für Demenzkranke bedeutet demnach Mehrkosten von vier Milliarden Euro pro Jahr. Was heißt das jetzt? Werden anderen die Leistungen gekürzt?
Schneider: Wir gehen davon aus, dass eine Umschichtung von einem System ins andere oder von dem einen Hilfebedürftigen zum anderen ausgeschlossen sein muss. Es wäre fürchterlich, wenn die Pflegebedürftigen nun praktisch Verbesserungen bei anderen Pflegesystemen selber finanzieren sollten. Wir gehen auch davon aus, dass es nicht sinnvoll ist, jetzt Beitragsdiskussionen anzufangen, sondern wir denken, dass es der richtige Weg sein wird, Steuerzuschüsse in die Pflegeversicherung hineinfließen zu lassen, genauso wie wir das im Gesundheitssystem tun, um damit auch deutlich zu machen, eine gute Pflege für die alten Menschen unter uns muss von allen finanziert werden und nicht nur vom Beitragszahler.
Schütte: Das heißt, Herr Schneider, Sie rechnen nicht damit, dass die Beiträge zur Pflegeversicherung künftig steigen werden?
Schneider: Ich würde mir sehr wünschen, wenn wir dieses vermeiden und wenn wir stattdessen mit vermehrten Steuerzuschüssen arbeiten, denn es ist mittlerweile ja nun wirklich von allen politischen Parteien erkannt worden, dass der reine beitragsfinanzierte Weg zur Finanzierung unseres Sozialsystems letztlich nicht bis zum Ende zielführend sein kann. Wir brauchen steuerfinanzierte Anteile und das gilt im Grunde genommen für die Pflegeversicherung genauso, wie es ja in der Gesundheitspolitik derzeit schon Praxis ist.
Schütte: Die Beiträge zur Pflegeversicherung sind ja erst Mitte vergangenen Jahres erhöht worden, eben auch mit der Zusage seitens der Politik, dass die Beiträge bis 2015 stabil sein sollen. Was, wenn es jetzt aus der Politik heißt, das darf nichts oder nur sehr wenig kosten?
Schneider: Dann werden wir die Politik an die Verantwortung gerade auch für die älteren und hilfebedürftigen Menschen unter uns erinnern. Wir werden dann sicherlich sehr laut deutlich machen müssen, dass eine Gesellschaft sich auch daran messen lassen muss, wie sie mit denen umgeht, die sich wirklich überhaupt nicht mehr helfen können im Alter. Das kann nicht kostenneutral passieren. Wer hier einen vernünftigen Pflegebedürftigkeitsbegriff in Praxis umsetzen will, der muss wissen, dass dieses kostenneutral nicht zu haben ist, der muss wissen, dass er dann auch die Finanzmittel heranschaffen muss.
Schütte: Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Vielen Dank für das Gespräch.
Schneider: Nichts zu danken!
Heinemann: Christian Schütte stellte die Fragen.
Ulrich Schneider: Das Problem, mit dem es die Heime im Moment zu tun haben, ist das, dass die ganze Arbeit, die geleistet werden muss, weil Menschen altersverwirrt sind, praktisch nicht vergütet wird durch die Pflegekassen. Sie müssen also irgendwie sehen, dass dieses "mitgemacht" wird, das heißt die Zuwendung den Menschen zugute kommt, die sie brauchen, wenn sie verwirrt sind, die Aufsicht, die auch tatsächlich gewährleistet sein muss, weil man viele Menschen aus Gründen des Selbstschutzes nicht alleine lassen kann, und Ähnliches. Das führt letztlich zu ungeheuer angespannten Personalsituationen in Einrichtungen, führt zu ungeheuerem Stress für die Mitarbeiter, und hier braucht es dringend einer Entlastung durch mehr Personal.
Christian Schütte: Gerechter und humaner soll dadurch die Pflege werden. Ist denn unser jetziges Pflegesystem ungerecht und unmenschlich?
Schneider: Unser jetziges Pflegesystem ist nicht unmenschlich. Das denke ich nicht. Unser jetziges Pflegesystem ist auf jeden Fall aber ungerecht, denn ungerecht ist es, dass derjenige, der sich nicht selber waschen kann, eine Unterstützung bekommt, derjenige aber, der verwirrt ist und der sich noch nicht mal mehr daran erinnern kann, welche Tabletten er wann einzunehmen hat, und Ähnliches, überhaupt keine Unterstützung nach diesem System rechtlich erfährt, und das ist ungerecht, ja.
Schütte: Wird diese Pflege für Demenzkranke einfach nur nicht vergütet, oder findet sie gar nicht statt?
Schneider: Diese Pflege für Demenzkranke wird ja vielfach dann von Pflegekräften wahrgenommen, so wie sie halt Zeit finden. Das ist das Problem, dass man so hinschaut und sagt, wenn man jemanden füttert, weil er sich alleine nun mal das Essen nicht mehr zuführen kann, dass man dann auch wirklich ein bisschen schaut, wie lange kann ich denn bei ihm sitzen, kann ich denn nicht mit ihm noch ein bisschen mich unterhalten und Ähnliches, dass man jede Minute, die man irgendwie auch tatsächlich noch abzwacken kann von den Verrichtungen, die man als Pflegekraft ja ohnehin zu tun hat, dem alten Menschen auch wirklich gibt. Das passiert ja. Nur das passiert nicht in genügender Form.
Schütte: Gelingt es denn mit den Plänen, die heute vorgestellt wurden, dass die Pflegeversicherung den Herausforderungen der Zeit, wie es heißt, angepasst wird?
Schneider: Wir haben heute einen Pflegebegriff vorgelegt und ein begutachtetes System präsentiert, das tatsächlich den Bedürfnissen gerade auch altersverwirrter Menschen gerecht werden kann. Jetzt ist es an der Politik, dieses auch zügig in eine Pflegereform umzusetzen und damit Realität werden zu lassen, was wir vorgeschlagen haben.
Schütte: Bleiben wir noch einmal konkret bei diesem Vorschlag. Bisher gab es die Einteilung in drei Pflegestufen. Das sollte wegfallen zu Gunsten von fünf Bedarfsgraden. Wie müssen die ausgestaltet sein?
Schneider: Es wird zum Beispiel nachgefragt, ist der Einzelne überhaupt noch mobil genug, um tatsächlich sein Umfeld zu beschreiten, ist der einzelne denn tatsächlich auch noch genug kommunikationsfähig, um teilhaben können an der Gemeinschaft. Es werden also die unterschiedlichsten Defizite angeschaut, hieraus werden Punktwerte gesammelt und es wird ein Bedarf dann gebildet und eine Bedarfsgruppe. Das ist wesentlich komplexer und wird der Sache wesentlich gerechter als das jetzige dreistufige System. Es ist sicherlich ausbaufähig, alles ist verbesserungsfähig, aber es ist schon ein Riesen Schritt nach vorne.
Schütte: Diese neue Einteilung ist zunächst aber erst einmal nur ein formaler Akt auf dem Papier. Was ändert sich dadurch an der Situation? Wie hilft das den Betroffenen und den Pflegeheimen?
Schneider: Wir werden natürlich aufgrund dieser Bedarfsgruppen dann auch schauen müssen, was kostet denn eine Bedarfsgruppe, welche Unterstützungsleistung auch finanziell hat denn dann der einzelne auch wirklich nötig, um ihm in einer Einrichtung beispielsweise oder ambulant helfen zu können. Das wird. Es wird jetzt der politisch heikle Punkt kommen, wo man diese fünf Gruppen auch dann tatsächlich berechnet, finanziell berechnet und dann aushandelt, was soll den Menschen denn dann zustehen. Das wird die tatsächliche Antwort auf die Frage werden, werden wir den Menschen helfen können oder nicht.
Schütte: Erste Zahlen dazu sind ja bereits im Umlauf. Bessere Pflege für Demenzkranke bedeutet demnach Mehrkosten von vier Milliarden Euro pro Jahr. Was heißt das jetzt? Werden anderen die Leistungen gekürzt?
Schneider: Wir gehen davon aus, dass eine Umschichtung von einem System ins andere oder von dem einen Hilfebedürftigen zum anderen ausgeschlossen sein muss. Es wäre fürchterlich, wenn die Pflegebedürftigen nun praktisch Verbesserungen bei anderen Pflegesystemen selber finanzieren sollten. Wir gehen auch davon aus, dass es nicht sinnvoll ist, jetzt Beitragsdiskussionen anzufangen, sondern wir denken, dass es der richtige Weg sein wird, Steuerzuschüsse in die Pflegeversicherung hineinfließen zu lassen, genauso wie wir das im Gesundheitssystem tun, um damit auch deutlich zu machen, eine gute Pflege für die alten Menschen unter uns muss von allen finanziert werden und nicht nur vom Beitragszahler.
Schütte: Das heißt, Herr Schneider, Sie rechnen nicht damit, dass die Beiträge zur Pflegeversicherung künftig steigen werden?
Schneider: Ich würde mir sehr wünschen, wenn wir dieses vermeiden und wenn wir stattdessen mit vermehrten Steuerzuschüssen arbeiten, denn es ist mittlerweile ja nun wirklich von allen politischen Parteien erkannt worden, dass der reine beitragsfinanzierte Weg zur Finanzierung unseres Sozialsystems letztlich nicht bis zum Ende zielführend sein kann. Wir brauchen steuerfinanzierte Anteile und das gilt im Grunde genommen für die Pflegeversicherung genauso, wie es ja in der Gesundheitspolitik derzeit schon Praxis ist.
Schütte: Die Beiträge zur Pflegeversicherung sind ja erst Mitte vergangenen Jahres erhöht worden, eben auch mit der Zusage seitens der Politik, dass die Beiträge bis 2015 stabil sein sollen. Was, wenn es jetzt aus der Politik heißt, das darf nichts oder nur sehr wenig kosten?
Schneider: Dann werden wir die Politik an die Verantwortung gerade auch für die älteren und hilfebedürftigen Menschen unter uns erinnern. Wir werden dann sicherlich sehr laut deutlich machen müssen, dass eine Gesellschaft sich auch daran messen lassen muss, wie sie mit denen umgeht, die sich wirklich überhaupt nicht mehr helfen können im Alter. Das kann nicht kostenneutral passieren. Wer hier einen vernünftigen Pflegebedürftigkeitsbegriff in Praxis umsetzen will, der muss wissen, dass dieses kostenneutral nicht zu haben ist, der muss wissen, dass er dann auch die Finanzmittel heranschaffen muss.
Schütte: Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Vielen Dank für das Gespräch.
Schneider: Nichts zu danken!
Heinemann: Christian Schütte stellte die Fragen.