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Finnland
Hunger, Kälte und Gleichgültigkeit

Im Finnland des 19. Jahrhunderts bringt der Winter auf dem Land Kälte, Hunger und damit die menschlichen Abgründe hervor. Dem stellt Aki Ollikainen in "Das Hungerjahr" eindrucksvoll die saturierten Stadtbürger gegenüber.

Von Beatrix Novy |
    Aus Juhanis Gesicht weicht die Farbe. Zuerst verschwand das Rot, die Farbe des Bluts. Es wurde gelb, dann verging auch das Gelb, es blieb Grau, das nun nach und nach in Richtung Weiß verblasst.
    Die Farbe des Todes ist weiß, heißt es in diesem Buch. Nicht nur im Gesicht des verhungernden Bauern Juhani. Die Weiße ist überall und endlos, im Schnee, der zu früh kam und auch im Frühjahr nicht schmelzen will, auf vereisten Straßen, die keine Hoffnung mehr bieten. Und wenn der Tod kommt, ist er "eine weiße Finsternis".
    Marja spürt, wie ihr Körper zusammenfällt. Der Griff um Juhos Hand löst sich. Das Fallen dauert eine Ewigkeit, Marja sieht dabei, wie alles sich in ein unendliches Schneefeld verwandelt.
    Bis auf die Kriegsgeneration haben heutige Bewohner der industrialisierten Länder das Glück, den Hunger nur aus den Medien zu kennen. Hungerkatastrophen früherer Zeiten kann sich niemand mehr vorstellen, schon gar nicht im Zusammenhang mit den heute so ausgeprägten Wohlfahrtsstaaten Skandinaviens. Noch im 19. Jahrhundert baute sich in Finnland mit einer Missernte eine Hungersnot auf, die bis 1868 zigtausende Menschen das Leben kostete.
    Diesen historischen Hintergrund breitet Aki Ollikainen keineswegs aus, er deutet ihn nur an, oft, aber fragmentartig, dunkel. Das erzeugt mitunter ein unbefriedigtes Gefühl beim Lesen. Aber Ollikainen geht es weniger um Geschichte; es geht ihm um den Hunger als Konsequenz bitterer Armut - und um das, was er aus den Menschen macht. Deshalb führt er seine Leser mitten hinein in das Elend einer Bauernfamilie: Marja und Juhani mit ihren Kindern Mataleena und Juho. Anfangs erlebt man sie noch als starke, den herben Bedingungen des Landes fröhlich angepasste Gemeinschaft, während die schlechte Zeit sich in einem mageren Fischfang schon ankündigt – ein sehr kurzer Prolog. Im nächsten Bild - überaus bildhaft ist Ollikainens schmerzlich präzise Sprache -, löst sich die Gemeinschaft auf: Die Mutter verlässt den Hof. Ihrem sterbenskranken Mann streicht sie noch einmal übers Gesicht, denn sie liebt ihn, die Tür lässt sie offen, damit er nicht so lange leiden muss. Dann macht sie sich mit den Kindern in der eisigen Kälte auf den Weg, um einen Ort zum Überleben zu finden. Aber ihre Suche führt nur durch noch größere Kälte - und in die Abgründe menschlicher Gleichgültigkeit, Hilflosigkeit und Gemeinheit. Die ungeschriebenen Gesetze von Mitleid und Gastfreundschaft gelten noch, aber sie reichen allenfalls für eine Übernachtung und eine dünne Milchsuppe. Überall lauern Angst und Aggression derer, die noch einen Happen zu essen haben.
    All das beschreibt Ollikainen in einer Sprache, die gleichzeitig protokollierend und poetisch, unsentimental und herzzerreißend ist, in einem Duktus wie Hammerschläge. Und selten kommt beim Lesen eines Textes ein Gefühl derart drängend auf: So also ist das, ein Flüchtling zu sein und ganz unerwünscht.
    Derweil sitzen in einer Provinzstadt die Bürger in ihren geheizten Wohnungen, Lichtjahre entfernt von der nackten Not der Landbevölkerung. Der Senator, der sich trotz guten Willens zu keinen konkreten Hilfsmaßnahmen für die Hungernden entschließen kann; sein Adlatus, dessen Ehefrau unter der Leere ihrer Existenz leidet; der Arzt Teo, der seine soziale Ader mit einer Faszination für die Huren verbindet, die er kostenlos behandelt. Auch das Armenviertel der Stadt zieht ihn an, eine ihrem Untergang entgegensehende kleine Welt der Ausgesonderten und Gescheiterten. Der Fortschritt wird sie und mit ihr den Schmutz beseitigen, der Fortschritt ist ja schon dabei, Eisenbahngleise durch Finnland zu bauen, ein kostspieliges Unternehmen, das einmal helfen wird, Hungersnöte zu vermeiden – später.
    Der Eisenbahnbau wird teuer, der Kredit, der mit den Deutschen dafür ausgehandelt worden ist, bringt den Staat an den Rand des Ruins. Außerdem benötigt man für den Bau der Strecke erhört viele Leute. Hungrige Menschen müssen aus ihrer Heimat herausgerissen und zu den Baustellen gebracht werden. Es ist klar, dass sich dort Krankheiten verbreiten werden. Viele werden sterben.
    Sie sind so beredt wie ratlos, diese Bürger, sie kann Aki Ollikainen nicht mit der Eindeutigkeit und sprachlichen Wucht schildern, die er für das Elend der anderen hat. In ihren Salons verdünnt sich die Wirklichkeit und schrumpft auf Symbole, etwa wenn der Senator seinen Rotwein verschüttet, die Hausfrau Salz auf den Fleck schüttet und den Leser an Schnee und Blut zu denken zwingt. In Ollikainens Dialogen fällt nie ein Wort zu viel; nur in der unterschwellig entsetzten Feststellung, dass bettelnde Hungerflüchtlinge nun schon im Weichbild der Städte gesichtet wurden, entfaltet sich ein überhistorisches Szenario, dasselbe, das heute die Bewohner der Festung Europa beunruhigt.
    Es ist geläufige Erzähltechnik, zwei nebeneinander herlaufende Handlungsstränge aufeinander zufahren zu lassen, um sie schließlich zu verknüpfen. Eine späte Pointe des Romans führt zur Begegnung der Hungernden mit den Saturierten: Teo, der Arzt, findet im Schnee den kleinen Juho, neben seiner toten Mutter. Diesen letzten Überlebenden der Flüchtlingsfamilie übergibt er seiner kinderlosen Schwägerin, die das Kind nicht nur mit ihrer liebender Zuneigung, sondern auch für ihre Klasse vereinnahmt: Aus Juho wird der kleine Johan, aus dem Bauernspross ein Stadtkind. Das als Versöhnung oder als Vereinnahmung zu lesen, bleibt jedem anheimgestellt.

    Aki Ollikainen: "Das Hungerjahr."
    Transit Verlag, 16,80 Euro, 128 Seiten