Dienstag, 19. März 2024

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Firmware
Kurzgeschichten über den total programmierten Menschen

Die Zeit: nahe Zukunft. Die Welt: radikal digital. Computer und Smartphone: überflüssig. Alle Betriebssysteme sind direkt in die Menschen implantiert. Vor diesem Background spielen die vier Kurzgeschichten unserer Adventsserie "Firmware".

Von Maximilian Schönherr | 19.12.2020
Künstliche Intelligenz
Firmware - die Adventsreihe in "Computer und Kommunikation" (imago images / Panthermedia / kentoh)
Inhalt
1. Kleiderwechsel
2. Lebenslust
3. Schlafsaal
4. Schach

1. Kleiderwechsel
Heute wechselte Irmi mitten am Tag auf der Straße ihr Kleid. Der Winter hatte ihr Lust auf etwas Bunteres gemacht. Seit dem neuen Betriebssystem-Update war das Kleiderwechseln eine der leichtesten Übungen. Vorher hatte man das Kleid mühsam ausziehen, beiseitelegen, falten oder auf einen sogenannten Bügel hängen müssen, dann das andere aus dem Kleiderschrank holen und - ja, anziehen.
Irmi sah die Wirkung der Firmware den ganzen Vormittag schon auf der Straße und in ihrer Firma: Frauen strichen immer wieder mit der flachen linken Hand über ihre Bauchnabel, und während sie das taten, wechselte sich ihr Kleid.
Irmi fragte ihre Kollegin in der Kantine:
"Sag mal, Georgine, du hast jetzt schon viermal beim Essen ein neues Kleid an. Sind das alles Kleider, die du tatsächlich besitzt?"
"Klar", sagte Georgine, "nur was in deinem Schrank ist, kannst du überziehen. Du kennst doch mein oben ganz weites dunkelrotes mit der superengen Taille ..."
Natürlich kannte sie das.
"Ich muss es mir nur vorstellen und, jetzt streich ich mir über den Nabel, mit der flachen Hand, und schau, da ist es!"
"Wirklich oben viel zu weit", sagte Irmi.
Der Kleiderwechsel ging elegant vor sich, und er funktionierte nur mit Kleidern, nicht mit Hosen oder Blusen. Er schien sich nach den beteiligten Stoffen, der Farbe und den Mustern zu richten. Bei rein ultramarinblauen Kleidern etwa verlief der Übergang zu Hopfengrün durch eine regenbogenartige Überblendung. Groß gepunktete Stoffe wichen Paisley-Mustern durch eine Verschiebung der Textur: Die Punkte verschwanden dabei wie durch mehrere Windstöße von unten nach oben.
Seit einigen Jahren werden Firmware-Updates kontaktlos installiert. Das dauert zwar länger, ist aber nicht mit einem, wenn auch kleinen chirurgischen Eingriff verbunden. Bei Irmi dauerte die Installation der neuen Firmware knapp 10 Minuten, mit einer kurzen Unterbrechung durch ihren kranken Sohn, der beim Krabbeln über den Teppich laut weinte und sich übergeben musste. Kindern durften aus ethischen Gründen keine Updates aufgespielt werden. Der Kleine hatte einen Magen-Darm-Infekt. Nichts Tragisches.
Sie strich sich also mit der flachen Hand über den Nabel und dachte an das kurze Kleid mit den Rosen. Da kamen sie schon: Die gelben Rosen legten sich von der linken Schulter hinunter über die Brust zum rechten Oberschenkel und verdrängten das Dunkelgrau, das sie trug. Es folgten die blutroten Rosen, von der rechten Schulter über den Rücken zum linken Oberschenkel.
Es fiel Irmi nicht auf, dass die Rosen zwar vorn das Grau verdrängten, es aber am Rücken nicht bis ganz nach unten schafften. Erst als ihr die Menschen auf der Straße nachschauten und ihr irritierte Blicke zuwarfen, suchte sie sich eine Toilette mit einem Spiegel und sah, dass sie hinten nackt war.
War es ein Bug im neuen Betriebssystem? Das wäre ein Skandal.
"Die Firm-Ware ist an sich sehr stabil", sagte Georgine, ihre Freundin. "Aber wenn du dich beim Updaten schon von Deinem Sohn stören lässt", sagte Georgine, "dann brauchst du nichts anderes erwarten. Ein Update unterbricht man nicht."
Es war das Einzige, was von ganz, ganz früher noch übrig geblieben war: dass man ein Update nicht unterbricht.
Deswegen hatte Irmi jetzt drei halbe Kleider: Das, was sie trug; das mit den Rosen, aber davon nur der Rücken; und das graue, das jetzt nicht mehr grau war, weil auf ihm jetzt eine große halbe gelbrote Rose prangte.

2. Lebenslust
Als Joshua aus dem Hallenbad kam und die paar Meter vor zur Bushaltestelle ging, machte es klick. Er wusste nicht, was da klick machte, genau einmal machte es klick. Es war, als er sich nach dem Bus umblickte, als hätte sich etwas in ihm verschoben. So eindeutig, dass er den Bus vorbeifahren ließ und zu Fuß Richtung nach Hause ging.
Joshua und seine Freundin Margit waren, wie die meisten Paare, kinderlos. Sie hatten Jahre durchlebt, als die Bevölkerung zunächst kaum mehr wuchs, dann leicht abnahm, schließlich richtig drastisch. Mediziner machten das an der sinkenden Samenqualität der Männer fest, Psychologen an der fast völlig abgeklungenen Libido. Ernährungswissenschaftler führten alles auf zu viel Gift-getränktes Gemüse, Fleisch und Reis zurück. Die Politik diskutierte zunächst, ob es gegen schrumpfende Bevölkerungszahlen etwas einzuwenden gäbe. Dann aber ergab eine mit einem Volksentscheid gekoppelte KI-Prognose, dass die Kurve zu steil nach unten ging, man also grundsätzlich etwas ändern sollte. Grundsätzlich hieß: an der Software der Bürger.
Rasch war ein kleines Firmware-Update für die Keimzellen installiert. Es sollte schnelle, pragmatische Abhilfe schaffen. Aber was nutzten Boosts für die kleinen Samen- und Eierfabriken, wenn die Menschen über die vielen Libido-freien Jahren vergessen hatten, wofür das alles gut sein könnte. Joshua und seine Freundin wussten das tatsächlich nicht mehr. Sie sahen sich auf alten Fotos küssen; aber wenn sie es jetzt versuchten, war ihnen schleierhaft, warum sie das je, und noch dazu so oft, getan hatten. Es war also ein weiteres kleines Firmware-Update nötig.
Nicht nur bei Joshua machte es nach diesem Hallenbadbesuch kurz und nachhaltig klick. Auch bei ihr, Margit, die gerade in einer Sitzung mit dem Aufsichtsrat eine Keynote hielt, installierte sich der Patch.
An der nächsten Fußgängerüberführung drehte sich eine Frau nach Joshua um. Er verstand nicht, was sie sagte. Genau so wenig, wie er wusste, was er ihr zurief. Wie Pfeile schossen die beiden aufeinander zu. Auch auf der anderen Straßenseite fielen Menschen über sich her, meist paarweise, manchmal aber auch zu dritt oder zu siebt. Es nahm niemand zur Kenntnis, alle schienen Teil dieses Prozesses zu sein, es wirkte völlig natürlich.
Die spontanen Lustbegegnungen an diesem Nachmittag führten dazu, dass die meisten erst spät in ihren Häusern und Wohnungen ankamen. Dort ging es unterbrechungsfrei weiter. Margit wurde sofort schwanger, mit Drillingen, vielleicht nicht von Joshua, denn auch sie hatte Ungewohntes erlebt: Die lange Sitzung in der Firma hatte sich bis in den Aufzug, die Rolltreppen, das Foyer und bis in den Abend fortgesetzt.
Das fast unbedeutend kleine Firmware-Update brachte das Gesellschaftsgefüge nachhaltig durcheinander und fing nun an, gewohnte Wirtschaftsabläufe zu gefährden. Mit der Fertilitäts- und Kopulationsrate schossen die Geburtenraten so drastisch nach oben, dass die Entbindungsstationen der Kliniken einen Aufnahmestopp verhängten. Hebammen wurden richtig gut dafür bezahlt, dass sie das längst vergessene Handwerk der Hausgeburt praktizierten.
Die Bevölkerung wuchs innerhalb eines Jahres geradezu schockmäßig. Die im wahrsten Sinn des Wortes zahllosen Neugeborenen belasteten die Sozialstrukturen. Mütter stillten ihre Säuglinge wieder, was viel mehr Zeit kostete als die übliche Ernährung. Kaum hatten sie abgestillt, sahen sich die Mütter nach neuen Samenspendern um. Die Babys verwahrlosten, die Väter akzeptieren ihre Elternrolle nicht, sondern küssten sich quer durch die Welt. Es dauerte Stunden, bis sie am Arbeitsplatz ankamen, oft hatte der Arbeitstag da schon geendet.
Zudem war es das erste Mal in der Geschichte, dass die zentrale Firmware-Verteilungsstelle der Regierung einen massiven Datenüberlauf registrierte und deswegen nicht mehr jeden Neugeborenen erfassen konnte. Zwei von Margits drei Säuglingen hatten weder Namen noch Kennnummern in der staatlichen Datenbank. Sie waren eine Generation von No-Names.
Nach knapp zwei Jahren lag alles danieder. Die Produktion stand still. Fabriken, die 10.000 neue Roller pro Monat ins Volk gebracht hatten, schafften gerade mal 3. Die Glücklichen, die den Zuschlag bekamen, tauchten nicht auf. Sie waren im wahrsten Sinn des Worts auf der Strecke geblieben.
Dann zog die Regierung die Reißleine. Zunächst wurden die Programmierer der Keimzellen-Firmware gebeten, das Update rückgängig zu machen. Das klappte nicht, weil die Rückwärtskompatibilität bei Firmware nicht möglich war. Und einen Total Reset auf den Status von 2020 wollte niemand.
Es folgten Krisentreffen mit Wirtschaftswissenschaftlern, Psychologen und letztendlich der Ethikkommission. Denn das neue Firmware-Update konnte ebenso weitreichende Konsequenzen haben.
Als es sich in der Bevölkerung installierte, war Joshua 33-facher Vater und seine Lebensgefährtin Margit zum dritten Mal schwanger. Auch diesmal war es ein Klick, schmerzlos und eindeutig. Jeder spürte diese erneute Verschiebung tief in sich drinnen. Das Update war klein, Byte-mäßig. Es machte Joshua erst ein bisschen müde, dass er es kaum bemerkte, nur etwas langsamer aus dem Bus ausstieg, der ihn fast vor die Tür seiner Wohnung brachte. Margit schlief schon. Noch nie war sie am Spätnachmittag in ihren Nachtschlaf gefallen. So wie er, Joshua, nun auch. Nur die Kinder waren hellwach. Sie kamen in der Datenbank nicht vor und hatten noch gar keine Firmware.
Die Müdigkeit führte zu Antriebslosigkeit und Depressionen. Statt sich aufeinanderzulegen, legten sich die Menschen zum Sterben in ihre Betten. Eine nicht fehlergeprüfte Routine im Firmware-Code war dafür zuständig, dass das Sterben auch ohne Erkrankungen und ohne Hilfsmittel von außen gelang. Sanft entschlafen. Margit, und einen halben Tag später auch Joshua.
Nur die No-Names blieben übrig, es waren viele. Sie tanzten durch die Welt, als wäre nichts geschehen.

3. Schlafsaal
Seit dem Firmware-Update 8.4.1 machte Uschi-Lektra Fehler. Sie stach sich beim Nähen mit der Nadel in die Daumenkuppe, sie brach beim Programmieren des Straßenplans die Taste S ab, sie stolperte über eine Baumwurzel, die sie seit Kindheit kannte — und über die sie noch nie gestolpert war.
Nur kurz zweifelte Uschi-Lektra ob dieser Fehlleistungen an sich selbst. Es stellte sich heraus, dass viele darunter litten, und zwar nicht erst seit dem Update 8.4.1, sondern seit 6.0.0, nur dass sich die Fehler bisher nicht ganz so deutlich zeigten. 6.0.0 war so lange her, dass sich niemand mehr recht daran erinnerte. Aber es ließ sich nachlesen: Die entscheidende Neuerung damals war, dass jeder tun und lassen konnte, was er oder sie wollte.
Daran konnten die Fehler, die sich häuften, nicht liegen. Es lag an einer dagegen kleinen, fast unbedeutend wirkenden Neuerung damals im Update von 5 auf 6, nämlich die völlige Abschaffung eines Zustands, der sich "Schlaf" nannte.
Uschi-Lektra war das Wort Schlaf nicht geläufig, bis sie Gedichte nachlas, die aus einer fernen Zeit stammten: "Lieber Gott ich bin noch klein, bitte dich, bei mir zu sein. Will schlafen durch die ganze Nacht, ruhig und fest, von Dir bewacht." Von Gott hatte sie gehört, aber von Schlaf nicht, und Schlaf schien immer mit der Nacht zusammen zu hängen. Und mit Traum.
Es war der Traum, der das große Firmware-Update 6.0.0 so wichtig machte. Die Wissenschaft hatte festgestellt, dass die Menschen immer weniger schliefen, aber während des Tagesablaufs immer häufiger träumten. Vor sich hin träumten. Weil das viele Lebensabläufe störte, ja unterbrach, riet die Regierung den Bürgern, mehr zu schlafen und nicht so viel zwischendurch zu träumen.
Mit dem Update ging man den umgekehrten, von vielen als radikal betrachteten Weg: Der Schlaf wurde abgeschafft. Hatte auf die meisten sowieso anachronistisch gewirkt, sich zu einer bestimmten Uhrzeit unter eine Decke zu legen, die Augen zu schließen und sich stundenlang kaum zu bewegen. Das Gehirn braucht das, hieß es, um sich zu regenerieren. Aber tat der Traum nicht dasselbe?
So regelte das große Firmware-Update 6.0.0 die Traumrhythmen, individuell für jeden, auch für Uschi-Lektra, die neuerdings von einer Fehlleistung zur nächsten kam und schon wieder über die Baumwurzel stolperte, die sie eigentlich seit Kindheit an kannte.
"Wie war das, mit dem Schlaf, Ururgroßmutter?", fragte sie die 130 Jahre alte Frau. "Hast du dich, wenn es dunkel wurde, hingelegt und bist erst am Morgen wieder aufgestanden?"
"Aber ja!", sagte die Ururgroßmutter. "Das war sehr seltsam, denn alle taten ja tagsüber immer sehr geschäftig, liefen herum, stiegen in Busse ein, und wieder aus, stritten sich, lachten, tippten Code in Computer usw. Und dann schalteten sie auf einmal alle, ich auch, das Licht aus und lagen dann stundenlang in Schlafanzügen in ihren Betten."
"Schlafanzug?", fragte Uschi-Lektra.
"Das waren Anzüge, manchmal auch längere Hemden, die nur zum Schlafen gedacht waren."
"Und was waren Betten?", fragte Uschi-Lektra.
"Ach so, Betten. Die wirst du nicht mehr kennen, Kleine. Ziemlich große Möbelstücke, die zu nichts dienten, als dass man sich darauf legte und nichts weiter passierte. Das heißt, manche benutzten sie auch zur Fortpflanzung, aber danach schliefen sie schnell ein."
"Bis zum nächsten Morgen?"
"Bis zum nächsten Morgen."
"Immer?"
"Jeden Tag."
Über die Folgemonate nahmen die Fehlleistungen der Menschen zu. Offenbar hing es mit dem Update 8.4.1 zusammen. Als man es sich näher ansah, fiel eine kleine Programmroutine auf, die die Traumphasen unter bestimmten Bedingungen veränderte. Die Bedingungen waren nicht klar definiert, weil das Programm sie selbst bestimmte. Weil es aber sicher schien, dass das Problem mit den Traumphasen zusammenhing, warf die Regierung die kleine Routine aus dem Code heraus, ungefähr 34 Programmzeilen.
Die Firmware 8.4.2 beta hatte katastrophale Auswirkungen auf die Testgruppe. Ohne Träume blieben die Probanden plötzlich liegen, mitten auf der Straße, oder sie hörten mitten im Satz auf zu sprechen.
"Sie schliefen", dachte Uschi-Lektra. "So etwas macht der Schlaf mit uns."
Als die Firmware 8.4.2 aus dem Beta- in den Release-Zustand kam, hieß sie nicht mehr 8.4.2, auch nicht 9, sondern 10.0. Ein richtig großes Update. Es führte den Schlaf wieder ein. Weil die Menschen den Schlaf nicht mehr kannten, übten sie ihn. In Schlafsälen, die überall im Land aufgestellt wurden. Darin befanden sich viele Möbelstücke, die die Ururgroßmutter als groß und flach beschrieben hatte. Wie hießen sie gleich wieder?

4. Schach 
Viele Jahre war die Spannung vor einem Firmware-Update nicht so groß gewesen. Der Sprung um gleich 3 Update-Versionen beruhte auf einem Volksentscheid, sowie auf Mehrheitsentscheidungen im Großen Parlament und im Ethikrat.
Die bisherige Firmware war eigentlich eine Erfolgsgeschichte. Größter Beliebtheit erfreute sich zum Beispiel der Haartransfer-Modus. Körperhaar konnte verschoben, neu aufgebaut und verteilt werden. Wir haben uns seit langem an Dreadlocks, die meterlang rechts und links aus den Ohren ragen, gewöhnt. Das gab es früher nicht, als sich Frauen und Männer einer Prozedur unterwarfen, die scharfe Messer und Cremes beinhaltete. Man nannte das "rasieren". Dank der Firmware konnte jeder ohne Mühe Achselhaare in die Kniekehlen und den Bartwuchs aufs Haupthaar verschieben, nur Kraft der Vorstellung.
Im Laufe der Zeit aber wies die Version Schwächen auf, am gravierendsten im Umgang mit Krankheiten. Zwar konnte das Betriebssystem grundsätzlich damit umgehen, sogar sehr gut. Deswegen hatte man lange etablierte und zunehmend umstrittene Einrichtungen, die "Krankenhäuser" hießen, mit der Firmware abgeschafft. Das Firmware-Release legte die Verantwortung von sogenanntem "Fachpersonal" in die Hände jedes Einzelnen, denn wer kannte sich besser als man selbst?
Der Spielraum war breit gefächert. So legten viele bei einer neu aufgetauchten Epidemie mit unfiebriger Infektion, aber großer Atemnot mit Hilfe der Firmware einen dritten Lungenflügel an. Dieser brachte kurzzeitige Erleichterung, führte aber zu einem grausamen Sterben, weil das neue Virus das Organ ebenso wie die ursprünglichen Flügel befiel und verklebte.
Die Herz-Kreislauf-Lösungen nahmen skurrile Züge an. Manche spürten Schmerz im Herzen und warteten mit zusätzlichen Herzklappen auf, die den ursprünglichen Herzklappen dann im Weg standen.
Auch Fälle von zusätzlichen kompletten Herzen machten die Runde — ein Synchronisationsproblem, das nur wenige überlebten. Andere gaben sich erst gar nicht damit diesen Firmware-Optionen ab, sondern schalteten die Immunabwehr komplett aus, weil sie meinten, früher hätte das auch funktioniert. Die meisten von ihnen wurden schwer krank und hätten die abgeschafften großen Anstalten namens Krankenhäuser gut gebrauchen können.
Auf den Plätzen, unter den Bäumen, in den engen Gassen der Dörfer lagen wimmernde Gestalten. Hinter den Scheiben der Wohnungen tauchten blasse Gesichter auf, von Menschen, die sich nicht mehr auf die Straße trauten. Sie alle hatten ihre eigenen Erfahrungen mit der Firmware gemacht — und waren dadurch nicht glücklich geworden. Die blassen Gesichter mit den komischen Haaren gingen nicht von den Fenstern weg, auch nachts waren sie da, brannten sich ein in die Scheiben.
Einer davon ist Peer Smit. Er unterhält sich mit seiner Enkelin Jona Smit über das endlich verfügbare Firmware-Update, das mit dem Selbsttherapie-Debakel Schluss machen soll.
"Jona", bittet der Großvater die Kleine, "hol uns doch zwei Decken."
Denn während die Firmware sich in den beiden installiert, müssen sie völlig herunterfahren. Erst die Älteren, also Peer Smit, dann die Jüngeren, also Jona Smit.
Peer Smit hatte seine Barthaare zum Deckhaar gemacht und später, weil ihm nichts besseres einfiel, versucht, seinen etwas trägen Stoffwechsel durch einen um 12 Finger verlängerten 12-Finger-Darm anzuregen. Das misslang und bereitete Peer Smit chronische Bauchschmerzen. Das ganz früher übliche Undo, also Rückgängigmachen, war seit langem im Artikel 2 des Ethikgesetzes untersagt. Jona Smit, die Enkelin, hatte ihrem Opa einen sicherlich nicht ganz legalen Patch programmiert und eingespielt, der den auf seine doppelte Größe angewachsenen 12-Finger-Darm, wenn schon nicht auf die Hälfte, so doch um 1/3 verkürzte. Mit 8 Fingern Länge kam der Großvater gut über die Runden.
Endlich war die neue Firmware da. Die beiden liegen unter ihren Decken und schlagen die Augen auf. Das Betriebssystem fährt langsam hoch.
"Großvater", flüstert Jona.
"Ja, Jona?"
Sie hilft ihm hoch. Beide gehen zum Fenster. Auch die Nachbarn gegenüber sind schon so weit.
"E2-E4", sagt Jona.
"C7-C5", antwortet Peer Smit.
Die Nachbarn gegenüber winken und öffnen die Fenster.
"Aha, Sizilianisch!" ruft einer.
"Dann eben Springer F1-G3" ein anderer.
"Springer B8-C6", spricht Jona Smit in die Runde der kleinen Vorstadtsiedlung.
"Hat das, was hier hier tun, einen Namen, Großvater?"
Der Großvater konnte sich nicht erinnern. Es schien ein Spiel zu sein. Ein Spiel hatte er nie zuvor gespielt. "Ich glaube, Jona, es ist ein Spiel!"
"Ein Spiel?" rufen die Nachbarn herüber, "was ist das?"
Es konnte mit der neuen Firmware zusammenhängen. Darüber konnte aber niemand nachdenken. Auch über den 12-Finger-Darm nicht, der bei Peer Smit nur noch 8 Finger lang war. Denn es war viel zu spannend, was als nächstes passierte: Bauer D2-D4 oder Läufer F1-B5?