Joschka Fischer: Also ich finde es sehr wichtig, dass das durch die Verfassung dazu berufene Organ eine unabhängige Entscheidung nach sorgfältiger Prüfung aller Fakten getroffen hat, die besagt, dass wegen massiver Wahlfälschungen der zweite Wahlgang ungültig ist. Darüber hinaus spricht das Gericht eine Empfehlung aus und sagt, innerhalb von drei Wochen soll dieser Wahlgang wiederholt werden. Ich finde es eine sehr weise Empfehlung, denn das würde bedeuten, dass die Krise konstitutionell dann sehr schnell auf demokratischer Grundlage beendet werden kann, nämlich durch die Feststellung des Mehrheitswillens des ukrainischen Volkes. Ich finde es auch wichtig, dass in allen Gesprächen, die wir mit Russland geführt haben, sich die russische Seite auf diesen konstitutionellen Weg verpflichtet hat, so dass insgesamt jetzt eigentlich eine Lösung in greifbarer Nähe sein müsste.
Labuhn: Könnte der Fall Ukraine zu einer Belastung des europäisch-russischen Verhältnisses führen?
Fischer: Darüber will ich gar nicht spekulieren, sondern entscheidend ist, dass es nicht so ist, dass die EU hier irgendwelchen Interessen nachgeht, die im Widerspruch stünden zu unseren guten nachbarschaftlichen und strategischen Beziehungen mit Russland. Ich glaube, da gibt es Perzeptionsprobleme auf der anderen Seite. Die EU hat in den Wahlkampf nicht eingegriffen. Die Europäische Union arbeitet sehr erfolgreich, um diese Krise zu bewältigen. Die EU möchte, dass eine unabhängige, demokratische Ukraine eine gedeihliche Entwicklung wahrnimmt, weil sie ein wichtiger Partner ist. Das gilt auch für andere Nicht-EU-Mitgliedstaaten. Aber daraus Vorstellungen abzuleiten, dass die EU hier irgendwelche Absichten hätte, die darüber hinaus gingen, das ist völlig falsch. Letztendlich geht es um die Akzeptanz des Mehrheitswillens des ukrainischen Volkes. Der muss sich wieder finden im Wahlergebnis, und zwar unverfälscht - das ist der Kern. Der Kalte Krieg ist zu Ende. Es geht hier nicht um einen Systemwechsel, der herbeigeführt werden soll.
Labuhn: Sie reisen jetzt nach Israel und in die Palästinensergebiete zu einer Zeit, da die Regierung Scharon gerade zerbrochen ist und die Palästinenser führungslos sind. Mit welchen Erwartungen begeben Sie sich in die Region?
Fischer: Die Regierung Scharon ist nicht zerbrochen. Die bisherige Koalition ist zu Ende, aber das heißt noch lange nicht, dass es einen Wechsel im Premierministeramt gibt nach israelischer Verfassung, sondern es wird versucht, eine andere Koalition hinzubekommen. Premierminister Scharon hat eine klare Priorität, nämlich den Rückzug aus dem Gazastreifen zu erreichen und zugleich jegliche Siedlungen dort aufzulösen, also einen völligen Rückzug vorzunehmen. Wenn dies im Einklang mit den Bemühungen der internationalen Gemeinschaft um die Road Map gelingt, wenn darüber hinaus sich die Palästinenser jetzt eine neue Führung geben, gründend auf Wahlen, und wenn sich gleichzeitig gemeinsam mit Europa und den anderen Quartettmitgliedern die USA ernsthaft engagieren, dann könnte hier in der Tat eine positive Entwicklung, die weit über das bisher Gekannte hinausgeht, eingeleitet werden. Wenn nicht, werden wir sehr schnell wieder da sein, wo wir in den vergangenen Monaten waren, mit all den Tragödien, die das für unschuldige Menschen auf beiden Seiten bedeutet hat.
Labuhn: Abschließend ein Blick auf die Innenpolitik. An diesem Wochenende beginnt der CDU-Parteitag in Düsseldorf und wohl nicht ganz zufällig sind in den vergangenen Tagen wieder Diskussionen entstanden, die sich um Wörter wie Deutsche Leitkultur ranken oder um Vorschläge wie Neubürgern einen Eid auf das Grundgesetz abzuverlangen. Was geht dem deutschen Außenminister durch den Kopf, wenn er das Wort Leitkultur hört?
Fischer: Da fragen Sie besser den Bürger, weil das kein spezifisch außenpolitisches Thema ist. Aber eigentlich finde ich es fast beleidigend. Ich kenne kein anderes vergleichbares Land, in dem man die eigene Kultur als Leitkultur erklären muss. Für mich als Deutschen in Deutschland ist es selbstverständlich, dass wir hier in Deutschland sind, mit unseren guten und auch leider weniger guten Teilen unserer Geschichte und Charaktereigenschaften. Im Übrigen werden wir ab 2010 wirklich Zuwanderungsbedarf in Größenordnungen haben, und darauf müssen wir uns vorbereiten. Spracherwerb ist wichtig, also müssen wir schon im Kindergartenbereich damit anfangen.
Labuhn: Aber da liegt ja vieles im Argen.
Fischer: Aber die Länderfrage, jetzt kommen Sie nicht wieder mit dem Bund. Wir haben gerade vom Bundesverfassungsgericht mitgeteilt bekommen, dass wir da nicht zuständig sind. Nur: Das setzt voraus, dass man da nicht irgendwelche angstbeißerischen Reflexe dann gegenüber Zuwanderung hat. Auch diese Diskussion um Multikulturalität. Nun erzählt die Union überall, Multikulti ist gescheitert, und dann tritt Herr Beckstein zum ersten Mal in seinem Leben als bayrischer Innenminister auf einer muslimischen Demonstration in Köln auf. Genauso wünsche ich mir das. Ich mache mich da überhaupt nicht lustig drüber. Wenn unsere Konservativen so auf die Zuwanderer zugehen, dann bin ich zufrieden, und wenn wir das noch institutionell umsetzen können, wenn wir beantworten, wie wird man Deutscher, also wie bereiten wir uns darauf vor? Nicht nur, dass jemand einen Pass bekommen, sondern dass die Kinder integriert werden, dass die Menschen integriert werden. Wir haben eine wunderbare Kultur. Wir haben ein Grundgesetz, das die Erfahrungen unserer Geschichte reflektiert. Ansonsten sollten wir uns institutionell darauf vorbereiten, dass wir Zuwanderung brauchen.
Labuhn: Täuscht nicht der Eindruck, dass zumindest Teile, vielleicht auch noch Minderheiten der muslimischen Bevölkerung eben daran nicht interessiert sind, die Werte des Grundgesetzes als die ihren zu akzeptieren?
Fischer: Ich würde es nicht generell an der muslimischen Bevölkerung festmachen. Ich meine, wir haben hier Rechtsradikale, die lehnen die Werteordnung des Grundgesetzes ab. Wovor ich warne, ist, dass wir das als ein muslimisches Problem darstellen, oder diese Rede von den Parallelgesellschaften. Ich meine, ich wohne in dem alten jüdischen Viertel in Berlin. Dort war in den zwanziger Jahren auch eine Parallelgeselschaft, wo wir zu Recht heute das Andenken sehr hoch halten. Wo Zuwanderung ist, wird es immer auch ein Stückweit Parallelgesellschaften geben. Ich finde auch gar nichts schlimm daran, solange die Integrationsmechanismen funktionieren. Wichtig ist, was aus der nächsten Generation wird, und da haben wir enorme Defizite. Ich kann nur sagen, dass aus meiner Sicht es ganz wichtig ist, dass wir vielleicht ein bisschen mehr Selbstvertrauen haben. Wenn Frau Merkel aus innerparteilicher Schwäche meint, sie müsse jetzt das Patriotismusthema fahren, dann sehe ich das mit großer Gelassenheit. Also auf diesen Wahlkampf freue ich mich schon. Ich glaube, es ist ein ganz großes patriotisches Thema, dass wir verhindern, dass solche Leute die Mehrheit bekommen, aus Liebe zu Deutschland.
Labuhn: Könnte der Fall Ukraine zu einer Belastung des europäisch-russischen Verhältnisses führen?
Fischer: Darüber will ich gar nicht spekulieren, sondern entscheidend ist, dass es nicht so ist, dass die EU hier irgendwelchen Interessen nachgeht, die im Widerspruch stünden zu unseren guten nachbarschaftlichen und strategischen Beziehungen mit Russland. Ich glaube, da gibt es Perzeptionsprobleme auf der anderen Seite. Die EU hat in den Wahlkampf nicht eingegriffen. Die Europäische Union arbeitet sehr erfolgreich, um diese Krise zu bewältigen. Die EU möchte, dass eine unabhängige, demokratische Ukraine eine gedeihliche Entwicklung wahrnimmt, weil sie ein wichtiger Partner ist. Das gilt auch für andere Nicht-EU-Mitgliedstaaten. Aber daraus Vorstellungen abzuleiten, dass die EU hier irgendwelche Absichten hätte, die darüber hinaus gingen, das ist völlig falsch. Letztendlich geht es um die Akzeptanz des Mehrheitswillens des ukrainischen Volkes. Der muss sich wieder finden im Wahlergebnis, und zwar unverfälscht - das ist der Kern. Der Kalte Krieg ist zu Ende. Es geht hier nicht um einen Systemwechsel, der herbeigeführt werden soll.
Labuhn: Sie reisen jetzt nach Israel und in die Palästinensergebiete zu einer Zeit, da die Regierung Scharon gerade zerbrochen ist und die Palästinenser führungslos sind. Mit welchen Erwartungen begeben Sie sich in die Region?
Fischer: Die Regierung Scharon ist nicht zerbrochen. Die bisherige Koalition ist zu Ende, aber das heißt noch lange nicht, dass es einen Wechsel im Premierministeramt gibt nach israelischer Verfassung, sondern es wird versucht, eine andere Koalition hinzubekommen. Premierminister Scharon hat eine klare Priorität, nämlich den Rückzug aus dem Gazastreifen zu erreichen und zugleich jegliche Siedlungen dort aufzulösen, also einen völligen Rückzug vorzunehmen. Wenn dies im Einklang mit den Bemühungen der internationalen Gemeinschaft um die Road Map gelingt, wenn darüber hinaus sich die Palästinenser jetzt eine neue Führung geben, gründend auf Wahlen, und wenn sich gleichzeitig gemeinsam mit Europa und den anderen Quartettmitgliedern die USA ernsthaft engagieren, dann könnte hier in der Tat eine positive Entwicklung, die weit über das bisher Gekannte hinausgeht, eingeleitet werden. Wenn nicht, werden wir sehr schnell wieder da sein, wo wir in den vergangenen Monaten waren, mit all den Tragödien, die das für unschuldige Menschen auf beiden Seiten bedeutet hat.
Labuhn: Abschließend ein Blick auf die Innenpolitik. An diesem Wochenende beginnt der CDU-Parteitag in Düsseldorf und wohl nicht ganz zufällig sind in den vergangenen Tagen wieder Diskussionen entstanden, die sich um Wörter wie Deutsche Leitkultur ranken oder um Vorschläge wie Neubürgern einen Eid auf das Grundgesetz abzuverlangen. Was geht dem deutschen Außenminister durch den Kopf, wenn er das Wort Leitkultur hört?
Fischer: Da fragen Sie besser den Bürger, weil das kein spezifisch außenpolitisches Thema ist. Aber eigentlich finde ich es fast beleidigend. Ich kenne kein anderes vergleichbares Land, in dem man die eigene Kultur als Leitkultur erklären muss. Für mich als Deutschen in Deutschland ist es selbstverständlich, dass wir hier in Deutschland sind, mit unseren guten und auch leider weniger guten Teilen unserer Geschichte und Charaktereigenschaften. Im Übrigen werden wir ab 2010 wirklich Zuwanderungsbedarf in Größenordnungen haben, und darauf müssen wir uns vorbereiten. Spracherwerb ist wichtig, also müssen wir schon im Kindergartenbereich damit anfangen.
Labuhn: Aber da liegt ja vieles im Argen.
Fischer: Aber die Länderfrage, jetzt kommen Sie nicht wieder mit dem Bund. Wir haben gerade vom Bundesverfassungsgericht mitgeteilt bekommen, dass wir da nicht zuständig sind. Nur: Das setzt voraus, dass man da nicht irgendwelche angstbeißerischen Reflexe dann gegenüber Zuwanderung hat. Auch diese Diskussion um Multikulturalität. Nun erzählt die Union überall, Multikulti ist gescheitert, und dann tritt Herr Beckstein zum ersten Mal in seinem Leben als bayrischer Innenminister auf einer muslimischen Demonstration in Köln auf. Genauso wünsche ich mir das. Ich mache mich da überhaupt nicht lustig drüber. Wenn unsere Konservativen so auf die Zuwanderer zugehen, dann bin ich zufrieden, und wenn wir das noch institutionell umsetzen können, wenn wir beantworten, wie wird man Deutscher, also wie bereiten wir uns darauf vor? Nicht nur, dass jemand einen Pass bekommen, sondern dass die Kinder integriert werden, dass die Menschen integriert werden. Wir haben eine wunderbare Kultur. Wir haben ein Grundgesetz, das die Erfahrungen unserer Geschichte reflektiert. Ansonsten sollten wir uns institutionell darauf vorbereiten, dass wir Zuwanderung brauchen.
Labuhn: Täuscht nicht der Eindruck, dass zumindest Teile, vielleicht auch noch Minderheiten der muslimischen Bevölkerung eben daran nicht interessiert sind, die Werte des Grundgesetzes als die ihren zu akzeptieren?
Fischer: Ich würde es nicht generell an der muslimischen Bevölkerung festmachen. Ich meine, wir haben hier Rechtsradikale, die lehnen die Werteordnung des Grundgesetzes ab. Wovor ich warne, ist, dass wir das als ein muslimisches Problem darstellen, oder diese Rede von den Parallelgesellschaften. Ich meine, ich wohne in dem alten jüdischen Viertel in Berlin. Dort war in den zwanziger Jahren auch eine Parallelgeselschaft, wo wir zu Recht heute das Andenken sehr hoch halten. Wo Zuwanderung ist, wird es immer auch ein Stückweit Parallelgesellschaften geben. Ich finde auch gar nichts schlimm daran, solange die Integrationsmechanismen funktionieren. Wichtig ist, was aus der nächsten Generation wird, und da haben wir enorme Defizite. Ich kann nur sagen, dass aus meiner Sicht es ganz wichtig ist, dass wir vielleicht ein bisschen mehr Selbstvertrauen haben. Wenn Frau Merkel aus innerparteilicher Schwäche meint, sie müsse jetzt das Patriotismusthema fahren, dann sehe ich das mit großer Gelassenheit. Also auf diesen Wahlkampf freue ich mich schon. Ich glaube, es ist ein ganz großes patriotisches Thema, dass wir verhindern, dass solche Leute die Mehrheit bekommen, aus Liebe zu Deutschland.