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Fiskadoro

In ungewissen Abständen ändern sich unsere Vorstellungen von der nordamerikanischen Literatur. In den achtziger Jahren sah sie noch aus wie ein John-Updike-Roman. So ein Roman schilderte die eher unsensationellen Probleme durchschnittlich wohlhabender US-Bürger, widmete sich den kleinen Brüchen im Ehe- und Berufsleben. Für das, was einem der Alltag antat, entschädigte man sich auf dem Golfplatz. In dieses Bild des breiten Mittelstandspanoramas passte schon nicht mehr die Lakonie eines Raymond Carver, so dass dieser Autor erst ein Jahrzehnt nach seinem Tod hierzulande entdeckt werden konnte. Nun sah die amerikanische Literatur plötzlich aus wie eine Kurzgeschichte, die mit spärlichen Worten ein spärliches Leben im Moment des Scheiterns zusammenballt.

Wolfgang Schneider | 14.09.2003
    Mit Carvers Figuren stieg die amerikanische Literatur wieder hinab in die unteren Bereiche des Wohlstandsgefälles, mit Denis Johnson ist sie beim Bodensatz angekommen, dort, wo schrecklich tätowierte Männer in mobilen Wohnwagensiedlungen an hässlichen Stadträndern ungute Pläne schmieden, die sie in kurzer Zeit dahin zurückbringen, wo sie zuhause sind: hinter dicke Gefängnismauern. So jedenfalls im zuletzt auf deutsch erschienenen Roman Engel, einer halluzinatorischen Reise durch die Bezirke von Sucht, Kriminalität und Religion, geprägt von einer schwarzen Romantik der Entzugsdelirien, der Todesangst und des frommen Weltabschieds. Wer hier nicht gerade Pillen einwirft und mit Rotwein kräftig nachspült, kübelweise Bier trinkt oder sich einen Schuss in die Vene jagt, der blättert in dicken Bibeln oder brütet über mörderischen Gedanken. Der missglückte Bankraub, bei dem die Hauptfigur Bill Houston versehentlich einen übereifrigen Wachmann erschießt, ist eine der eindrucksvollsten Verbrechensschilderungen, seit Raskolnikow zur Axt gegriffen hat.

    Johnson erzählt von groben, vulgären, zugleich aber sehr sensiblen Menschen; die metaphysisch flimmernden Landschaften und windigen Straßenschluchten seiner Werke sind bevölkert von verzottelten Althippies und Herumtreibern, "Menschen genau wie wir, nur mit mehr Pech", wie Johnson sagt. Seine finstere Welt ist den Balladen eines Tom Waits oder den spirituell zerknirschten, vom Sensenmann inspirierten "American recordings" des späten Johnny Cash verwandt.

    Johnsons Amerika ist auf einer panischen spirituellen Suche, die vor keinem Wahnwitz, keiner hybriden Mischung aus Christentum und New Age zurückscheut. Im monumentalen Roman Schon tot halten sich die Figuren nicht nur den geladenen Revolver, sondern auch Zarathustra-Zitate und Weisheiten des tibetanischen Buddhismus unter die Nase. Das liest sich oft hochkomisch, auch wenn der Glaube für Johnson eine ernste Angelegenheit ist. Seine Bücher sind mit den Fäden christlicher Symbolik durchwirkt – allerdings ohne jede Aufdringlichkeit, ohne plakative Heilslehre. Vor allem der schwarze Humor und eine Sprache von bizarrer Schönheit machen seine Nachtfahrten zum literarischen Ereignis – in Schon tot verwandelt sich die kalifornische Pazifikküste zu einer mysteriösen Seelenlandschaft voller Nebelschwaden und sturzbachartigen Regenfälle.

    Johnson wurde 1949 in München als Sohn eines amerikanischen Besatzungsoffiziers geboren. Seine Vita scheint die eines geläuterten Sünders zu sein. Dass sein eigenes Leben der surreal kaputten Welt seiner Bücher lange Zeit sehr ähnlich sah, verschweigt er nicht. Nachdem er als Zwanzigjähriger mit einem Gedichtband in Literatenkreisen Aufsehen erregt hatte, widmete er sich in den Siebziger Jahren zunächst gründlich dem Alkohol und den Drogen; dann bekam er doch noch die Kurve und schrieb sich in das Writers Program der Universität von Iowa ein, wo er auf das verkrachte Short-Story-Genie Raymond Carver traf. In Arizona arbeitete Johnson dann mehrere Jahre als Lehrer in einem Gefängnis, darf also als intimer Kenner gesellschaftlicher Randbezirke und Abgründe gelten.

    Zuhause ist er heute im Hinterland der USA, in den Wäldern von Idaho. Nichts ist ihm fremder als das intellektuelle Ostküsten-Establishment. Zu erleben war das Anfang dieses Jahres, als er bei seiner allerersten Lesung in Deutschland im Literarischen Colloquium Berlin mit Jeffrey Eugenides diskutieren sollte. Zwei Größen der amerikanischen Literatur redeten nach Kräften aneinander vorbei. Eugenides mühte sich, Johnson aus der Reserve zu locken, doch der war bei aller Freundlichkeit gegenüber dem Publikum am geistreichen Smalltalk ebenso wenig interessiert wie an poetologischen Definitionen. Zwei unterschiedliche Autorentemperamente wurden deutlich: hier der intellektuelle, theoretisch versierte Romancier, dort das bärbeißige epische Urgestein, dem mit Kategorien schwer beizukommen ist.

    Nun ist Johnsons Roman Fiskadoro aus dem Jahr 1985 auf deutsch erschienen. Während die Figuren in Schon tot durch die Landschaft tappen, als stünde die Apokalypse kurz bevor, hat sie in Fiskadaro schon stattgefunden. Die Handlung spielt zwei Generationen nach dem globalen Atomkrieg, der fast nichts übrig gelassen hat von der Zivilisation. Die USA sind eine bombenverbrannte Wüste; nur an der Südspitze Floridas siedelt noch ein Häuflein Überlebender. Da war einmal eine ungeheure Katastrophe - aber die Erinnerung daran ist weitgehend ausgelöscht.

    Die meisten wussten ja nicht einmal, dass Twicetown in jener anderen Zeit Key West geheißen hatte. Die Blindgänger, die dort nicht nur einmal, sondern zweimal niedergegangen waren, hatten der Stadt ihren neuen Namen gegeben. Die Geschosse lagen jetzt noch dort, wo sie aufgeschlagen waren, und viele Mitbürger wußten nicht einmal, was sie zu bedeuten hatten. (...)

    Das Trümmergeröll der Beton- und Backsteinhäuser, durch die Eins hindurchgepflügt war, hatte man mit den Jahren an den Rand geräumt und so eine Steinarena geschaffen, in welcher Eins sich eindrucksvoll präsentierte. Dieser freie Platz aus Sand und zerstörtem Asphalt, auf dem eine Atombombe ruhte, war zu einem Treffpunkt bei politischen und religiösen Ereignissen geworden.... Das Geschoss selbst hatte fast den Umfang eines Hauses. Man konnte bis sechs zählen, während der schnellste Läufer Twicetowns von einem Ende zum anderen rannte. Zwei, wie die andere genannt wurde, war nur ein grasüberwachsener Sprengkopf auf einem Feld im Norden der Stadt. Eins hingegen war von Kopf bis Schwanz intakt. Es hieß, sie sei eine amerikanische Bombe, die vom Kurs abgekommen war.

    In den letzten Jahren des Wettrüstens vor 1989 entstanden zahlreiche Romane, die eine Welt nach dem Atomschlag imaginierten - "the day after", wie ein spektakulärer Film aus der Zeit der Friedensdemonstrationen und Atomkriegsängste hieß. Die heutigen Achtziger-Jahre-Shows lassen vergessen, dass die fröhliche Harmlosigkeit des Neuen-Deutsche-Welle-Pops eine Gegenbewegung zum seinerzeit grassierenden Endzeitgefühl war, das durch Tschernobyl noch gesteigert wurde. Insofern ist Fiskadoro bei aller Originalität durchaus zeittypisch.

    Der Roman malt zunächst über weite Strecken so etwas wie die postapokalyptische Normalität aus. Die Welt ist untergegangen, aber der Alltag geblieben. Es reizt Johnson, die Regeln, Rituale und Lebensformen einer aufs Archaische zurückgeworfenen Gesellschaft auszudenken. Die kontaminierte Menschheit erinnert sich kaum an ihr Vorleben in der "elektrischen Zeit", Lähmung scheint sich quälend über die Hirne gelegt zu haben, auch eine Kulturtechnik wie die Sprache ist schwer beschädigt, man stammelt ein Gemisch aus verstümmeltem Restenglisch und Spanisch, in einer Umgebung aus zweckentfremdeten Technikschrott.

    Um ihn herum hingen, zur Verschönerung ihres Hauses, Zubehörteile der Automobile des vergangenen Jahrhunderts – unaufhörlich blinkende Notleuchten, das Radio, das sein stetiges gedämpftes Rauschen von sich gab, all diese Dinge mit Kabeln an eine Autobatterie angeschlossen, die auf der Fensterbank stand und dazu diente, das Fenster geöffnet zu halten. Belinda hatte eine besondere Vorliebe für Steuerräder, und gleich mehrere davon waren an die fleckigen Wände genagelt...

    Hier sind wir zuhause bei dem vierzehnjährigen Fiskadoro und seiner Familie: den beiden kleinen Brüdern Drake und Mike, Vater Jimmy, der vom Fischfang lebt, bald auf See tödlich verunglücken wird, und Mutter Belinda, die mit dem Älterwerden hadert, sich dem Kartoffelwein ergibt und schließlich vom Krebs dahingerafft wird. Postapokalyptisches Familienleben mit seinen Sorgen und Nöten, dazu die pubertären Verwirrungen Fiskadoros – all das bestimmt einen guten Teil des Romans.

    Eine weitere Hauptfigur ist Herr Cheung, ein Mann der Hochkultur, sozusagen. Er gehört zu den ganz wenigen, die sich bemühen, die Restbestände der untergegangenen Zivilisation zu bewahren. Er kennt die Melancholie des Geistesmenschen, der sich immer am Abgrund der Barbarei wähnt: "Womit bin ich im Bunde? Mit nichts Realem, außer der Vergangenheit" – so seine Klage. Herr Cheung ist Leiter des "Miami Sinfonieorchesters", einer ziemlich armseligen Kapelle, aber immerhin. Auch Fiskadoro hat seinen Platz darin, einfach deshalb, weil er zu den wenigen Menschen gehört, die überhaupt ein Musikinstrument besitzen, eine Klarinette.

    Ein wichtige Gestalt ist schließlich noch Großmutter Wright, die über hundertjährige Vorfahrin von Herrn Cheung - ein Stück wandelnde beziehungsweise im Schaukelstuhl sitzende Geschichte. "Ich wollte, ich hätte dein Gedächtnis", denkt Herr Cheung. Denn Großmutter Wright hat noch die Zeit vor dem Atomkrieg erlebt, sie ist randvoll mit Erinnerungen, über die sie sich allerdings ausschweigt.

    "Großmutter lebt und lebt und lebt", sagte Herr Cheung stolz. "Allein durch ihr Überleben ist sie zum bedeutendsten Menschen der Welt geworden." - Plötzlich presste er die Hände an den Kopf und sagte: "Irgendwann werden die Kubaner kommen und allem ein Ende bereiten. Die Kubaner haben als ein Staat mit Regierung überlebt... Eines Tages ist die Quarantäne vorbei. Wir sind nicht für immer ansteckend und giftig."

    Das war die geringfügig abgewandelte Version der Rede, die er vor einigen Jahren so sorgfältig entworfen hatte, als er für das Bürgermeisteramt kandidierte. Die Leute sollten in der Lage sein, sich ein Bild zu machen von der Zukunft, die sie erwartete, aber auch von Teilen der Vergangenheit.

    ... Herr Cheung suchte unter der Bank nach einem Holzkästchen, das er selbst angefertigt hatte, um seinen Marihuanavorrat darin aufzubewahren. Doch als er den Kasten und seine geliebte Meerschaumpfeife schließlich in der Hand hielt, war er in einem solchen Gefühlsrausch, dass es ihn nach nichts als seiner Klarinette verlangte.

    Herr Cheung spielte Blues, den echten Blues aus dem Europa des achtzehnten Jahrhunderts, als die Menschen es noch verstanden leidenschaftlich traurig zu sein statt hysterisch frustriert und kindisch – er spielte Corellis Concerto Grosso.

    Herr Cheung ist auch Mitglied der Twicetowner Wissensgesellschaft, die sich angestrengt darum bemüht, die Menschheitsgeschichte zu rekonstruieren. Bloße fünf Leutchen zählt die Gesellschaft, darunter ein notorischer Trinker und seine Frau, die zwecks Überwachung seiner nüchternen Stunden mitkommt. Diese "Splittergruppe von Intellektuellen", wie es einmal heißt, liest gemeinsam die wenigen Bücher, welche die zufällige Überlieferung ihnen zugespült hat – Leitfossilien der untergegangenen Kultur.

    "Die Gesellschaft für die Wissenschaften tagt – ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit", verkündete Park-Smith und zeigte die sonnenscheingelben Zähne. - "Heute", sagte er, "beginnen wir mit einem einfachen Buch." Er hielt sich einen grünlichen Band mit der verblaßten Zeichnung eines Comic-Tiers vor die Brust. Herr Cheung beugte sich vor, um den Titel am unteren Rand zu entziffern: Alles über den Dinosaurier. "Diese Tiere haben in tropischen Gebieten wie unseren gelebt. Aber heute sind sie ausgelöscht, es gibt sie nicht mehr." - "Ausgestorben", sagte Frau Calvino genüsslich. - "Einen Moment bitte. Ich möchte, dass wir Fiesta weiterlesen." Maxwell klang gekränkt und beunruhigt. - Ernest Hemingway", erinnerte sich Frau Calvino. - Park-Smith schenkte Maxwell ein steinernes Lächeln. "Mit diesem Buch sind wir letzte Woche fertig geworden. Wieso waren Sie nicht hier?"

    Nun ja. Später unternimmt die Wissensgesellschaft eine Reise zu einer Schwestervereinigung, bei der ein ominöses Buch aufgetaucht ist: der "Text, der das Ende der Welt erklärt". Was immer in diesem Text auch stehen mag - angefangen hat das Ende der Welt, wie noch jedes amerikanische Trauma, in Vietnam. Vietnam, die Mutter aller amerikanischen Demütigungen. Und so ist es nur auf den ersten Blick verwunderlich, dass Johnson das Ende des amerikanischen Imperiums 1975 in Saigon einläutet. Großmutter Wright war dabei, als junges Mädchen, und in ihrem alten, bedeutenden Kopf laufen die Szenen von damals ab wie ein gefilmter Alptraum. Wenn Johnson die Panik kurz vor dem Einmarsch des Vietcong beschreibt, die verzweifelten Versuche, aus der eingeschlossenen Stadt zu entkommen, beweist er sich als Epiker von außerordentlicher Beschreibungskraft, der mit halluzinatorischer Genauigkeit den Schrecken wie in Zeitlupe festhält. Marie, die spätere Großmutter, schafft es gerade noch mit dem Hubschrauber.

    Sie konnte nicht ganz fassen, was sie sah; es schien, als ob zerstückelte Menschen – Arme, Beine, halbe Rümpfe, abgerissene Körperteile von Zivilisten und, als die Maschine nicht weit von ihnen landete, sogar die uniformierten Teile verstümmelter Soldaten – im Fahrgestell steckten und von den Flügeln herabbaumelten...

    Und sowie der Helikopter wieder außerhalb des Hangars war und Kapitän Minh den Platz an der Steuerung eingenommen hatte, fiel ein Schwarm weinender, schreiender Menschen ... über die Maschine her und kletterte von allen Seiten das Fahrgestell hinauf. Der Leutnant zog Marie an Bord und verschaffte ihr Platz, indem er einen Mann vor die Brust trat; als ein zweiter nicht vom Eingang wich, zog er seine Seitenwaffe aus dem Holster und schoss ihm ins Gesicht, ein Vorfall, den Marie träumend und wachend wieder und wieder erleben würde. (...) Keuchende wimmernde Fremde waren hinter ihnen zusammengepfercht, Marie spürte etwas im Nacken, das ein Mund sein konnte. Aus leisen Klagen wurden Entsetzensschreie, die im Gedröhn der Propeller fast untergingen, als der Helikopter nur einen halben Meter über der Startbahn schwebte und nach einer Weile endlich höher stieg, wobei er Ketten von Menschen mit sich riss, die einander an Hosen, Hemden, Fußgelenken gepackt hatten, sich gegenseitig hinunterzogen und auf den Asphalt stürzten. (...) Die an den Türen halfen immer noch denen herein, die sich mit den Fingerspitzen an alles klammerten, was nur irgend dazu taugte – die Kanten der offenen Bullaugen, die Kufen des Fahrgestells, sogar die Läufe der beiden Maschinengewehre. Der Helikopter war so schwer beladen, dass er beinahe die Schuppen jenseits des Flughafens streifte... Kapitän Minh war in seinen eigenen berauschten Augen ein strahlender Retter, als er sie alle hoch über diesen Krieg hinaushob und sie diese Welt hinter sich ließen.

    Fiskadoro ist ein düsteres Spiel mit amerikanischen Alpträumen: Vietnam, Atomkrieg und als Gipfel der Verkehrung aller Dinge: dass von der höher zivilisierten Welt nur Kuba übrig blieb. Zwar sagt Herr Cheung seiner Frau gerne die Unabhängigkeitserklärung auf, es entspannt ihn, die Falten auf seiner Stirn verschwinden. Aber ansonsten ergibt sich die verbliebene Menschheit einem wilden Crossover des Aberglaubens und der Heilserwartungen. Mythische Gestalten wie Jimy Hendrix werden vergöttert. Prediger, die sich ihre Weltanschauung aus dem Restmüll der Überlieferung zusammengeramscht haben, ziehen durchs Land, zum Beispiel "Mutter", die als Vorsteherin der "Kirche vom heiligen Feuer" den gütigen Gott Bob Marley preist. Der Halbbruder von Herrn Cheung ist unter dem Namen "Cassius Clay Sugar Ray" auf Seelenfang, andere glauben an den aztekischen Gott Quetzalcoatl oder an Allah; Fiskadoros Mutter betet zu Oberstmajor Overdoze, dem großen Bomberpiloten.

    So entsteht ein nicht unbedingt leicht zu lesendes, aber faszinierendes Tableau der Zeit nach der Zeitrechnung. Das Leben nach dem größtmöglichen Geschehen - dem Untergang der Welt, der Zivilisation - kann eigentlich nur statisch gedacht werden. Denn jede Handlung wäre schon ein neuer Anfang. Und so kriegt Johnsons postapokalyptische Panorama denn allerdings auch in dem Moment Schlagseite, wo so etwas wie Geschehen in Gang kommt.

    Nach dem Tod seines Vaters irrt Fiskadoro verstört umher; dabei gerät er schließlich auf den Weg ins Abseitige. Auch diese heruntergekommene Gesellschaft hat nämlich noch ihre primitivere Gegenwelt. Hier sind es die Sumpfleute mit ihren kultischen Ausschweifungen, ihrem schauderhaften Schamanentum. Nicht weit von Twicetown beginnen die Sümpfe, und der Übergang in dieses Dunkelreich gestaltet sich ähnlich unheimlich wie der Eintritt in den Dschungel in "Apocalypse now" :

    Hier hing im Schatten eines Baumes der Kadaver eines Alligators von einem Ast herab, ungefähr drei Meter lang oder länger – es war schwer zu schätzen, da sein Schwanz sich im Staub ringelte; sein Bauch war von oben bis unten aufgeschlitzt, und er baumelte an einem kurzen Kabelstück, das an den zwei Enden einer rostigen Metallspeiche befestigt war, die den Schädel und die weiche Kehle durchbohrte. Die Leute aus den Dörfern überquerten in ihrem vorsichtigen barfüßigen Gang den aufgesprengten Asphaltschotter, um einen Blick auf den Kadaver zu werfen und sich anzusehen, was einmal der Inhalt seines Magens gewesen war und jetzt vor ihm auf dem Boden lag – ein Haufen Eingeweide, ein armlanges Stück Holz sowie eine kräftige Sumpfschildkröte in drei nur leicht verdauten Stücken. Doch niemand traute sich, den Alligator näher zu untersuchen, denn neben ihm stand sein Mörder, ein Schwarzer in Hosen aus bloßen Khakifetzen, von dessen Lippen der Speichel troff; er sang vor sich hin und blutete aus Wunden, die er sich selbst in die nackte Brust gestochen hatte.

    ... Fiskadoro zwang sich, im Bannkreis des stinkenden toten Reptils, in der Arena des Sumpf-Mannes und seines irren Blickes zu bleiben, Schwindel erregenden Ekel, aber auch die Hoffnung verspürend, dass vielleicht hier, im fauligen Atem des Alligator-Killers, die Macht läge, alles zu ändern.

    Das letzte Drittel des Romans schildert, wie Fiskadoro zu den Sumpfleuten geht, dort an Voodoo-Kulten teilnimmt und sich schließlich selbst in Trance, mit einem scharfen Stein, dem Ritus einer scheußlichen Penisverstümmelung unterzieht. Auf die totale Entrückung folgt der totale Selbst- und Gedächtnisverlust. Es ist ein fiebriger Horrortrip - aber keine fesselnde Lektüre, falls man nicht ein ausgesprochenes Interesse für ethnologische Spezialitäten hat. "Die Luft war nicht zu atmen, weil die Schreie von Geistern, die Gegenwart von Geistern, die Geheimnisse von Geistern sie dick wie Sirup machte", heißt es an einer Stelle. Der Leser bringt diese dicke Luft hinter sich, die schrägen Rituale, das Spintisieren und Zungenreden und schließlich auch die Auferstehungssymbolik.

    Der zu den Seinen zurückgekehrte Fiskadoro werde ein großer Menschenführer sein, erfährt man am Ende. Und einst werde die Flotte der Kubaner aus dem Nebel auftauchen. Hier lernt man den Realismus à la Updike doch wieder zu schätzen: wenn da jemand aus dem Nebel auftaucht, ist es der Postbote im Vorgarten. "Fiskadoro" ist ein Frühwerk mit genialischen Zügen und beeindruckenden Beschreibungen, liest sich über weite Strecken aber ziemlich verquält – vor allem in den Dialogen mit ihrer englisch-spanischen Stummelsprache, die nur unter Einbußen ins Deutsche zu übertragen war. Denis Johnson ist ein großartiger Schriftsteller. Aber man sollte vielleicht doch zuerst andere Bücher von ihm lesen: etwa die Geschichtensammlung "Jesus’ Sohn" oder den gewaltigen Roman Schon tot .