Samstag, 27. April 2024

Archiv


Flexibles Lernen für kluge Kinder

Hochbegabte Kinder lernen schneller als andere Kinder, denken über komplexe Themen nach, können sich rasch in andere hineindenken. Das heißt aber lange nicht, dass sie sozial integriert sind. Für 20 Überflieger beginnt nach den Ferien in Hamburg der Schulalltag an einer Schule für Hochbegabte.

Von Verena Herb | 10.08.2011
    Noch herrscht Chaos im Eingangsbereich der Oko Private School in Hamburg: Gerade wurden die Computerbildschirme geliefert, Tische und Stühle stehen kreuz und quer verteilt, es riecht nach Malerarbeiten und die Farbe an den Wänden der Klassenzimmer ist gerade erst getrocknet. Während einige Mütter noch letzte Pinselstriche ziehen, wird in all dem Chaos gerade ein Fernseher auseinandergenommen:

    "Das ist ein Fernseher, der halt kaputt ist. Und da kann man noch Sachen verwerten, wie zum Beispiel das Kupfer. Das Problem ist einfach nur: Da ist ein Druck in diesem Ding. Und wenn das einmal in einer ganz kleinen Sekunde entlöst wird, gibt es einen Ausschuss und das ganze Ding explodiert. Mit 300 Stundenkilometer ungefähr."

    Leopold ist neun Jahre alt. Er wird ab Donnerstag die OKO Private School besuchen. Bis zur vergangenen Woche haben er und seine Eltern gezittert: Es stand nicht fest, ob die Schule öffnen darf. Doch nach einem zähen zweijährigen Verfahren haben die Gründer der Privatschule, Gabriele und Johann Hartl, vergangenen Freitag endlich die Genehmigung der Schulbehörde bekommen. Die neue Privatschule in Hamburg-Barmbek richtet sich an eine bestimmte Schülerschaft, erklärt Gabriele Hartl:
    "Die Schule richtet sich an all die Kinder, die besonders bis hochbegabt sind. Und dann speziell an diejenigen, die Minderleister sind. Das heißt die, die bisher ihre intellektuellen Fähigkeiten – um die geht es ja – nicht in schulische Leistungen umsetzen konnten."

    Auch Leopold ist hochbegabt, so wie die rund 20 anderen Kinder, die ab Ende der Woche über den roten Linoleumboden des Schulflurs laufen werden. Viele von ihnen haben eine aufreibende Schulkarriere hinter sich. So zum Beispiel Erik. Dass ihr Sohn künftig diese Schule besuchen wird – ein Segen, sagt Ute Haupt. Denn:

    "Wir hatten keine andere Wahl. Es ging einfach an der alten Schule gar nicht weiter."

    Hochbegabte Kinder sind hochsensible Kinder – nehmen mehr wahr als andere Kinder, denken über komplexe Themen nach, können sich schnell in andere hineindenken. Das heißt aber lange nicht, dass sie sozial integriert sind. Ute Haupt:

    "Ein typischer Verlauf ist: Ein Kind kommt in den Kindergarten. Ist aber sprachlich deutlich weiter. Das heißt, die Kinder berichten zu Hause: Mama, die Kinder verstehen mich nicht. Das Kind separiert sich also, die Sozialisation der anderen Kinder läuft weiter. Aber das Kind spielt ja immer für sich. Das heißt, da geht eine Schere auf, was Sozialisation ausmacht. Geistig sind sie aber so weit, dass sie sich an Sechst- und Achtklässler dranhängen, was die Sprachfähigkeit zum Beispiel betrifft. Dann kommt das Kind in die Schule. Sozial ist es vielleicht bei vier oder fünf Jahren. Aber geistig vielleicht bei 16, /17 Jahren."

    Die Umwelt empfindet solche Kinder häufig als altklug und anstrengend. Barbara Jüres kennt diese Erfahrungen. Ihr Sohn Ole ist 13 – wird ab Donnerstag die 9. Klasse an der Hochbegabtenschule besuchen:
    "Ole eckte überall an. Bei Erwachsenen. Bei Kindern. Aber er hatte immer den Wunsch dazuzugehören. Er wollte so gerne. Wirklich, ich war verzweifelt."

    Die Leidensgeschichten ähneln sich: So berichtet eine Mutter von ihrem Sohn:
    "Er hat manche Dinge nicht verstanden. Wenn andere Kinder auf bestimmte Art und Weise reagiert haben. Also ein sehr starkes Realitätsbewusstsein, ein sehr ausgeprägtes Gedächtnis. Ein sehr starkes Interesse an allem eigentlich."

    In den ersten Wochen werden die Kinder erst einmal "entschult", so nennt es Gabriele Hartl, die Schulleiterin. Sie sollen ihren Kopf frei bekommen und ihre bisherigen Erfahrungen vergessen. Sich anzupassen fällt Hochbegabten oft schwer, aber genau das verlangt das herkömmliche Schulsystem. Entsprechend flexibel müssen auch die Lehrer sein, die die Kinder an der OKO Private School künftig unterrichten:
    "Wir brauchen Lehrer, die trotz Gymnasialausbildung pädagogisch denken, und die auch bereit sind, sich ein Stück hinter die Schüler zurückzustellen. Denn was die Schüler wiederum brauchen, ist: Die müssen vor allen Dingen eine Anleitung erhalten, zum Lernen. Wie sie lernen, wie sie sich organisieren können und wie sie auch Stoff vertiefend erarbeiten können."

    Beim Start in dieses Schuljahr sind es fünf Lehrkräfte, eine Sonderpädagogin und eine Psychologin, die die Schüler unterrichten werden. Anders, als an herkömmlichen Schulen nicht in Klassen, sondern in Kursen. Jahrgangsübergreifend, teilweise auch fächerübergreifend. Je nach Entwicklungsstand können die Schüler auch Kurse für ältere Schüler besuchen – man nennt das Drehtürmodell:
    "Wenn diese Kinder eines nicht mögen, dann sind es Wiederholungen. Und wenn das Kind nun soweit ist, dass es in Mathe Stufe 7 folgen kann, dann muss ich ihm nicht zwangsläufig noch die Grundrechenarten beibringen, weil er die vermutlich können wird."

    Die richtige Förderung und Forderung für ihr Kind, das erhoffen sich die Eltern:
    "Ich sage nicht, dass es das Paradies auf Erden sein wird. Weil es natürlich schwierig ist, dass alle mit ihren Schicksalen hierher kommen. Die Kinder erkennen sich untereinander, und sie wissen: Hier kann ich Mensch sein. Hier darf ich so sein, wie ich bin. Und das ist eine ganz wesentliche Komponente."