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Flucht aus der DDR
"Ich wusste nicht mal, wie ich heiße"

Die Weltmeisterschaft 1974: Drei junge Männer feierten vor 40 Jahren nicht nur den zweiten WM-Titel der deutschen Fußball-Nationalmannschaft, sondern auch ihre erfolgreiche Flucht aus der DDR. Als Hippies verkleidet nutzten sie die Gunst der Stunde und reisten über Bulgarien nach Westdeutschland ein.

Von Karla Engelhard | 29.07.2014
    Der Postenweg entlang der innerdeutschen Grenze am Brocken.
    Im Jahr 1974 während der Weltmeisterschaft gelang Thomas Fritsch und zwei Schulfreunden die Flucht aus der DDR. (dpa / picture alliance / Thomas Lehmann)
    40 Jahre waren sie nicht in Sofia. Nun wollen sich die fünf gut gelaunten Männer in Bulgarien gemeinsam an den Sommer 1974 erinnern. Da wollten die Brüder von Fritsch ihren Vetter aus Thüringen und zwei Schulfreunde von ihm in die Freiheit holen, risikoarm und sicher, als Hippies auf dem Weg in die Türkei mit echten, gefälschten Pässen. Die langen Haare und der Termin waren kein Problem, meinen Rüdiger von Fritsch, heute deutscher Botschafter in Moskau (West) und sein Vetter Thomas (Ost):
    Rüdiger von Fritsch: "Wir hatten aus Westdeutschland entsprechende Kleidung mitgebracht, die Jeans, T-Shirts."
    Thomas von Fritsch: "Damit es wirklich authentisch aussah und man glauben konnte, sie seien westdeutsche Hippies."
    Rüdiger von Frisch: "Es war ja Weltmeisterschaft damals. Das war 1974, ähnliche Konstellation, wie gerade vor Kurzem. Endspiel Holland - Deutschland, wir hatten uns damals gerade diesen Termin ausgedacht, weil wir dachten, na ja, da sind die Zöllner und alle sind da ein bisschen großzügiger. Wir kamen dann zur Weltmeisterschaft, da ging alles ein bisschen leichter und dann redete man über Fußball."
    Thomas von Fritsch: "Unsere Idee war gewesen, dass wir am 7. Juli 1974 um 16 Uhr in Richtung Türkei ausreisen, mitten im Endspiel der Weltmeisterschaft."
    "Das Ausgeben der letzten fünf Mark war für uns das Zeichen"
    Der damals gerade 20-jährige Rüdiger von Fritsch hatte echte Westpässe von gleichaltrigen Bekannten umgearbeitet und aus einem Radiergummi die Stempel der bulgarischen Grenzkontrolle geschnitzt. Alle machten sich nach bundesdeutschem Gesetz strafbar. Die Brüder mussten bei ihrer Einreise nach Bulgarien feststellen: Die bulgarische Stempelfarbe hatte von Blau-Lila überraschend auf Rot-Grün gewechselt. Sie fuhren zurück und die drei ostdeutschen Fluchtwilligen blieben in Bulgarien. Ihre letzten fünf D-Mark gaben sie einem Mann der Kirche in Sofia. Thomas von Fritsch:
    "Das war nett bei ihm und der hat uns auch sehr viel mit Schnaps versorgt. Wir haben die letzten Tage dann ziemlich harte Dinge getrunken. Das Ausgeben der letzten fünf Mark war für uns das Zeichen, jetzt muss es klappen."
    Es klappte. Die Stempelfarbe stimmte und sie fluoreszierte diesmal auch. Dieser Tipp kam von einem Bekannten der von Fritsches, der beim Bundesnachrichtendienst arbeitete. So zogen die Hippies mit gut gefälschten Pässen, falschen Namen und neuer Biografie unbehelligt von Bulgarien über die Türkei, Griechenland, Italien, Österreich bis an die bundesdeutsche Grenze. Übermüdet und verdreckt kamen sie dort an. Der Leipziger Thomas Röthig alias Grille, bekam ein Problem, über das heute alle fünf lachen können:
    "Als ich an der Grenze war und meinen Pass hingab und der Herr Grille war wahnsinnig viel gereist, in Südostasien, in Länder, die ich vorher nie gehört hatte und ich musste alle auswendig lernen und ich reiche meinen Pass hin und ich wusste nicht mal wie ich heiße."
    "Die Dankbarkeit kann man sich gar nicht vorstellen"
    Sein Pass war zudem gerade abgelaufen, doch die deutschen Grenzer waren gnädig. Die fünf Männer sind Freunde geworden und treffen sich regelmäßig. Diesmal erstmals wieder in Bulgarien. Am bulgarischen Grenzübergang werden sie, 40 Jahre nach ihrer Flucht und fast 25 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung, nachdenklich: Rüdiger, Burkhard, Thomas von Fritsch, Thomas Röthig und Hans-Bernd Herzog:
    "Wir haben nur gewinnen können, auch wenn wir zum Beispiel ins Gefängnis gekommen wären und dann nach zwei Jahren freigekauft, aber die beiden lebten in der Freiheit, die haben ihre eigene Freiheit riskiert, während wir unsere Freiheit noch nicht hatten, die hatten ein viel größeres Risiko als wir. Die Dankbarkeit kann man sich gar nicht vorstellen, das ist unglaublich. Was vielleicht gut ist, dass wir noch jung waren und die Risiken gar nicht so gesehen haben damals. Es war so wie, das packen wir an das kriegen wir hin. Erst heute denkt man, Mensch, was sind wir für Risiken eingegangen und sie sozusagen mit hineingezogen, heute hätten wir viel mehr Verantwortung für sie tragen müssen, das haben wir damals nicht so gefühlt und so gespürt. Wir haben schon gewusst, was wir tun, denk ich, aber die Jugend ist der Schutz. Ja es war auch Abenteuerlust dabei, das muss man schon sagen."
    Alle fünf hatten riesiges Glück. Die ostdeutsche und bulgarische Staatssicherheit arbeiteten sehr eng zusammen im Kalten Krieg. Tausende Ostdeutsche wurden bis 1989 an der bulgarisch-türkischen Grenze bei ihrer Flucht festgenommen. Wie viele dabei erschossen wurden, ist noch ungeklärt.