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Flucht der Talente

Italiens junge Generation emigriert. Aber anders als in den 50er- und 60er-Jahren Migranten nach Dortmund, Gelsenkirchen und Essen auswanderten, um Kohle zu fördern und Stahl zu kochen, sind es diesmal die Hochqualifizierten, die gehen. Im Schnitt 6500 pro Jahr.

Von Kirstin Hausen |
    Sie sind zwischen 24 und 30 Jahre alt, stammen überwiegend aus Akademikerfamilien, wohnen in Norditalien und haben einen Hochschulabschluss in der Tasche. So das Profil der neuen Auswanderer, wie es eine Studie der Katholischen Universität Mailand skizziert. Anders als ihre Väter suchen sie nicht irgendeine Arbeit im Ausland, sondern eine Beschäftigung in ihrem Fachbereich.

    "Die wollen in die erste Liga und der italienische Arbeitsmarkt ist höchstens zweite Liga"

    Sagt Alessandro Rosina, Professor für Demoskopie in Mailand und einer der Autoren der Studie. In Italien macht sich ein Studium erst ab dem 30. Lebensjahr bezahlt. Der Umfang automatischer Lohnerhöhungen richtet sich allein nach dem Alter. Berufseinsteiger haben das Nachsehen, bemängelt der Volkswirt Giorgio Barba Navaretti.

    "In Italien ist Leistung fast eine Sünde, alle müssen gleich bezahlt werde, niemand darf besser sein und besser bezahlt werden. Wozu führt das? Zum einen dazu, das alles viel kostet, unabhängig von der Qualität und zweitens, dass man keine Elitenförderung betreibt. Sie wäre aber wichtig für die Zukunft."

    So geht ein Teil der zukünftigen Elite ins Ausland. Bei den wissenschaftlichen Mitarbeitern an den italienischen Universitäten waren es 2010 fast zehn Prozent, die ihre Koffer gepackt haben. Fehlende Forschungsmittel und ein starres Hierarchiesystem machen Italien im internationalen Vergleich unattraktiv. In der Privatwirtschaft wird der Anteil der Akademiker, die dem italienischen Arbeitsmarkt verloren gehen, noch höher geschätzt. Die Wirtschaftskrise hat Arbeitsplätze vernichtet, fast eine halbe Million seit 2008, so hat der Industriellenverband Confindustria errechnet. Die jungen Gutausgebildeten verlassen das Land oder bleiben, aber dann wohnen sie oft noch bei den Eltern. Italien ist das Land der Nesthocker par excellence geworden ist. Auch die Architektin Chiara, 34 Jahre alt, lebt noch im Kinderzimmer bei den Eltern. Sie arbeitet von früh bis spät in einem Mailänder Architektenbüro, für 1100 Euro netto im Monat.

    "Ich fühle mich hier wie in Watte gepackt. Auf der Arbeit geht's ganz anders zu, da muss ich mich ständig beweisen. Wenn ich abends nach Hause komme und das Essen schon fertig auf dem Tisch steht, dann genieße ich das einfach."

    Ministerpräsident Mario Monti hat sich die Wut junger Berufsanfänger eingehandelt, als er sagte, sie sollten sich den "Arbeitsplatz auf Lebenszeit" aus dem Kopf schlagen, der sei im Übrigen monoton. Nur Stunden später gründete sich im Internet die Gruppe "Es lebe die Monotonie!" Die Sehnsucht der jungen Generation nach einer sicheren Stelle ist ungebrochen, doch die Zahl der Zeitverträge hat stark zugenommen. 30 Prozent aller neu abgeschlossenen Verträge sind heute auf einige Monate oder maximal ein Jahr befristet. Das heisst, sie bieten nicht den in Italien üblichen Tausch von niedrigem Gehalt gegen hohe Arbeitsplatzsicherheit, sondern ein niedriges Gehalt und keine Sicherheit. Das senkt die Motivation, sagt die 27jährige Seble Woldeghiorgis, Tochter äthiopischer Einwanderer und in Bologna aufgewachsen.

    "Viel positive Energie, die junge Leute in ihre Arbeit, in ein Unternehmen stecken könnten, verpufft, weil ihre Projekte ja sowieso jemand anders zu Ende bringt. Das reizt doch niemanden, intellektuell bleibst du unterfordert in diesen Arbeitsverhältnissen und so wächst eine Generation heran, die nicht nur wirtschaftliche Unsicherheit erlebt, sondern auch persönliche."

    Da kann man besser auswandern, finden Akademiker wie Claudio, der während des Studiums ein Auslandssemester in Dänemark gemacht hat und seit drei Jahren in Kopenhagen arbeitet. Nach Italien zurückkommen will er nicht mehr. Die Mentalität vieler italienischer Arbeitgeber sei zu provinziell.

    "Ich habe viele Erfahrungen gesammelt, auch im Ausland, schon während des Studiums. Leider ist mir dann aber oft gesagt worden, dass zu viel Erfahrung abschreckt, weil sie jemanden vorziehen, der einfach nur hier studiert hat."

    So geht Italien in der Krise viel Know-how verloren. Das könnte sich negativ auf die Innovationsfreude und Wettbewerbsfähigkeit der gesamten italienischen Wirtschaft auswirken. Dabei braucht Italien gerade jetzt kreative Köpfe, leistungsstarke Manager und mutige Unternehmer.