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Flucht vermeiden
"Staaten als Völkerrechtsverletzer brandmarken"

Wer trägt die Verantwortung für die große Zahl der aus ihren Heimatländern Vertriebenen? Kann das Völkerrecht souveränen Staaten die Gründe für eine Fluchtbewegung zurechnen? Die Juristin Katja S. Ziegler hat sich intensiv mit diesen Fragen beschäftigt und Ansätze entwickelt, mit denen Staaten, die Menschen zur Flucht zwingen, nach internationalem Recht bestraft werden können.

Katja S. Ziegler im Gespräch mit Karin Beindorff | 30.08.2015
    Hände an einem Zaun.
    Syrische Flüchtlinge hoffen auf Hilfe. (Bulent Kilic / AFP)
    Karin Beindorff: Angesichts der steigenden Flüchtlingszahlen auf der Welt kreist die gesellschaftliche Debatte zurzeit eher um die Aufnahme dieser Menschen, Frau Ziegler, um den Umgang mit ihnen und um wachsenden Fremdenhass, um Flüchtlingspolitik, Einwanderungsmanagement und Asylkriterien wird heftig und kontrovers ja diskutiert. Sie haben sich schon vor Jahren mit einem ganz anderen Aspekt der Flucht befasst, nämlich mit den Ursachen und der Frage, wer eigentlich für diese Ursachen zur Verantwortung gezogen werden sollte und könnte. Warum ist gerade dieser Aspekt der Staatenverantwortlichkeit in Ihr juristisches und völkerrechtliches Blickfeld geraten?
    Katja S. Ziegler: Ich möchte als Ausgangspunkt sagen, dass die humanitären und Aufnahmefragen und die gerechte Verteilung und die Belastungen, die von Flüchtlingsströmen ausgehen, natürlich nicht wegzudenken sind aus der Debatte. Und die Ansätze, die ich hier vorschlage, sollen dem vorgreifen, aber nicht diese ersetzen und auf keinen Fall die Pflichten, die die Staaten in diesem Bereich haben, relativieren. Es gibt Aufnahmeverpflichtungen in Fällen von Verfolgung und subsidiäre Schutzverpflichtungen aus menschenrechtlichen Gründen bei drohender Verletzung wichtiger Rechtsgüter, Leib, Leben, Freiheit, nicht nur diese, aber auch vor allem diese. Also, die Schutzpflichten der Aufnahmestaaten bestehen unter dem Völkerrecht, aber gleichzeitig ist es natürlich ein großes Problem, gerade wenn Massenflüchtlingsbewegungen in Nachbarländer ziehen. Die meisten Fluchtbewegungen finden eigentlich innerhalb der sich entwickelnden Welt statt, und gar nicht so sehr in die Industriestaaten, in die westlichen Industriestaaten. Vor diesem Hintergrund ist mein Ansatz ein rechtlicher Ursachenansatz. Also Ursachenansätze befassen sich natürlich nicht nur mit Recht, sondern auch mit Entwicklungspolitik, wirtschaftlichen und politischen Fragen, sozialen Fragen. Mein Ansatz ist ein rein rechtlicher, der da ansetzt, bei der Verletzung des Völkerrechts durch die Staaten, die Fluchtbewegungen erzeugen. Und jede Verletzung von Völkerrecht stellt ein völkerrechtliches Delikt dar, sodass man hier einen rechtlichen Rahmen hat, mit dem man diesen Sachverhalt fassen kann. Ich möchte den rechtlich fassen, weil die Hoffnung ist, dass, wenn man den rechtlich fasst, eine Präventionswirkung davon ausgeht. Wenn ich einen Staat als Völkerrechtsverletzer brandmarke, Menschenrechtsverletzungen, Souveränitätsverletzungen in anderen Staaten, dann ist da ein Stigma, da hängt eine Stigmatisierung des Staates dran, eine Kritik, die ...
    Beindorff: Und Sie gehen davon aus, dass, wenn diese Staatenverantwortlichkeit sozusagen im Völkerrecht verankert ist, dass diese Prävention dazu führt, dass diese Fluchtbewegungen möglicherweise gar nicht so entstehen. Aber das ist eine juristische Vorstellung, das ist eigentlich - also ich versuche mir das politisch vorzustellen, ob tatsächlich eine Strafandrohung - an wen eigentlich, an die Führung eines Staates - dazu führen würde, dass man die Menschenrechte dort einhält. Das, wenn ich das richtig verstehe, ist Ihre Grundidee?
    Ziegler: Die Grundidee ist, die Völkerrechtsverletzer als solche zu brandmarken, die Völkerrechtsverletzung als solche zu identifizieren und den Diskurs auch rechtlich zu führen, und nicht nur als logistisches, praktisches oder Kooperationsproblem, sondern auch natürlich die Ursachenfrage in Bezug zu nehmen.
    Beindorff: Warum gibt es das bisher nicht? Warum hat es diese Staatenverantwortlichkeit, wie Sie sie gerne als völkerrechtliches Delikt verankert sehen möchten, warum gab es die bisher nicht? Was ist neu daran, gegenüber dem bisherigen Recht in diesem Zusammenhang?
    Ziegler: Das Recht ist nicht neu, und es gibt auch durchaus in der Vergangenheit - es gab ja schon seit Jahrhunderten massive Flüchtlingsströme - Ansätze dazu. Ich denke, es spielt nicht so eine große Rolle in der Debatte, weil das Völkerrecht eine durchsetzungsschwache Rechtsordnung ist, man kann sagen, vielleicht in der Hinsicht noch eine rudimentäre Rechtsordnung, die keine zentrale Durchsetzungsinstanz hat, sodass es erst mal wenig direkte Relevanz hat für einen Verletzerstaat, gebrandmarkt zu werden. Für die Völkerrechtsordnung als solche hat es aber eine große Relevanz, dass man Normverstöße als solche rügt, weil das Völkerrecht von der ständigen Affirmation der Normen lebt. Es ist weitgehend Gewohnheitsrecht und daher ist es wichtig, den Diskurs sozusagen zu führen.
    Ziegler: Staat, der Flüchtlinge verursacht, verletzt völkerrechtliche Regeln
    Beindorff: Sie haben das Stichwort Normen eingeführt. Um eine Verantwortung von Staaten überhaupt dingfest machen zu können, braucht es ja völkerrechtliche Normen, die da geltend gemacht werden können. Welche sind das im Falle von Fluchtursachen? Was sind da aus Ihrer Sicht die wichtigsten völkerrechtlichen Normen, die da verletzt werden?
    Ziegler: Die völkerrechtlichen Normen, die verletzt werden von einem Staat, der Flüchtlinge verursacht - es hängt natürlich sehr auch von dem einzelnen Sachverhalt ab und was die Gründe sind oder die Maßnahmen des Staates - aber die Normen lassen sich in zwei Gruppen einteilen: einmal Menschenrechte, also Normen, die zum Schutz des Individuums bestimmt sind, zum Beispiel das Recht auf Aufenthalt, das Recht auf Einreise und Aufenthalt im eigenen Staat. Das Recht, dass mein Haus nicht zerstört wird, das Recht, dass ich nicht verfolgt werde politisch, Meinungsfreiheit. Im Prinzip wird durch eine Vertreibung, eine Fluchtauslösung, werden eigentlich alle Menschenrechte potenziell verletzt. Das ist die eine Gruppe. Die zweite Gruppe bewegt sich - also die Menschenrechte sind noch eine relativ junge Entwicklung, in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Viel älteres Recht ist - das Völkerrecht ist natürlich klassisch zwischenstaatliches Recht, also nicht das Recht zwischen einem Staat und einem Individuum, sondern das Recht zwischen Staaten. Und in dieser Dimension lässt sich auch eine Rechtsverletzung, eine Normverletzung konstruieren. Zwischen den Staaten gibt es nämlich ein grundlegendes Prinzip, das Souveränitätsprinzip, dass ein Staat nicht die Souveränität des anderen Staates verletzen darf. Das ist ein hochabstraktes Prinzip, lässt sich aber konkretisieren und ist auch in einzelnen Lebenssachverhalten konkretisiert worden. Ein ganz wichtiger, für unseren Bereich, die Fluchtverursachung wichtiger Bereich ist das Umweltrecht, weil es hier auch um grenzüberschreitende, ich sage mal, Belastungen oder Schädigungen, wie es im Umweltrecht heißt. Also es gibt ein Verbot, dass ein Staat den anderen erheblich schädigt im Umweltrecht.
    Im Bereich des Flüchtlingsrechts kann man das jetzt auf die Frage der Belastung sozusagen übertragen. Kann man eine erhebliche Belastung des Zufluchtsstaates als Souveränitätsverletzung des Aufnahmestaates beschreiben. Ich bin der Frage ausgiebig nachgegangen, und man kann erste Anhaltspunkte in der Zwischenkriegszeit finden, dass die Belastung mit Flüchtlingsströmen und die wirtschaftliche Belastung, aber das sind manchmal auch andere Dinge wie politische Spannungen, die im Zufluchtsstaat ausgelöst werden oder politische Spannungen, die aufgrund politischer Aktivität der Flüchtlinge mit dem Herkunftsstaat ausgelöst werden, oder auch soziale Probleme - das kommt häufiger in den Debatten in völkerrechtlichen Gremien, auch des Völkerbunds zum Beispiel in der Zwischenkriegszeit auf.
    Beindorff: Wir kennen diese Auseinandersetzung auch damals aus der Flüchtlingskonferenz in Evian. Das war 1938 in Frankreich. Da ging es um die Flüchtlinge, die aus dem nationalsozialistischen Deutschland geflohen sind und anderswo Zuflucht suchten. Das ist ein ziemlich, auch menschenrechtlich ziemlich düsteres Kapitel, wie wir wissen, weil viele Staaten, auch Staaten, die dort teilgenommen haben, sich ja geweigert haben, diese Flüchtlinge aufzunehmen, aus einer Reihe von Gründen, die Sie eben schon angesprochen haben. Da erhebt sich dann natürlich die Frage, wie widersprechen sich eigentlich Menschenrechte, oder die Schutzpflicht, von der Sie gesprochen haben, das Recht auf Aufnahme widerspricht sich möglicherweise mit diesem Souveränitätsanspruch des Zufluchtsstaates. Das ist ja auch jetzt, in der Debatte spielt das wieder eine Rolle. Auch kann diese Souveränitätsfrage ja benutzt werden sozusagen als Argument gegen die Flüchtlingsaufnahme, als Abwehrargument.
    Ziegler: Genau. Das ist eine große Gefahr, und ich muss mich und möchte mich auch ganz klar von so einer Konsequenz distanzieren. Die Souveränitätsverletzung, die möglicherweise zwischen Zufluchts- und Aufnahmestaat besteht, lässt Verpflichtungen des Zufluchtsstaates gegenüber den Flüchtlingen als Individuen unberührt. Es ist ganz klar, dass...
    Beindorff: Also das Rechtsgut würden Sie höher einstufen, den Schutz eines Flüchtlings höher einstufen als die Verletzung der Souveränität des Zufluchtsstaats?
    Ziegler: Die Verletzung der Souveränität heißt ja nicht, dass ich die Konsequenz ziehe und dem vorbeuge und deswegen einen eisernen Vorhang um meine Grenzen lege. Es gibt völkerrechtliche Verpflichtungen zur Aufnahme von Personen, die schutzbedürftig sind, die politisch verfolgt werden oder die aus anderen Gründen schutzbedürftig sind. Das bleibt unberührt von der Frage, ob eine Rechtsverletzung seitens des Vertreibungsstaates gegen den Zufluchtsstaat besteht. Die Geltendmachung dieser Rechtsverletzung ist vielleicht ein Grund, warum sich ein Vertreibungsstaat in Zukunft überlegt, ob er wirklich die entsprechenden Maßnahmen trifft. Sie sprachen die Konferenz von Evian an, die hochinteressant ist auch in der Hinsicht, die Souveränitätsverletzung zwischen Aufnahme- und Vertreibungsstaat herzustellen. Auf der Evian-Konferenz wurde von mehreren Staatenvertretern auf die massive Belastung durch Flüchtlingsströme hingewiesen, und da lässt sich indirekt ein Konnex zur Souveränitätsverletzung des Zufluchtsstaates herstellen.
    Ziegler: Menschheitsverbrechen dürfen vor jedem Staat angeklagt werden
    Beindorff: Nun war die politische Situation, wenn man auf diese Zeit zurückgeht, natürlich eine andere, weil die Auseinandersetzungen stattfanden zwischen europäischen Staaten, auf der einen Seite USA, Australien waren auch beteiligt, aber es waren alles industrialisierte Staaten, während, wenn wir uns heute die UNO-Statistik angucken, aus welchen Staaten die meisten Flüchtlinge kommen, dann sind das Staaten wie im Moment Syrien, vor allem Afghanistan, aber auch Somalia, die stehen ganz oben auf der Liste der Staaten, aus denen eine Massenflucht stattfindet. Da sind die politischen Verhältnisse auch zwischen den Staaten, die jetzt Zufluchtsstaaten sind, und diesen Verursacherstaaten natürlich völlig andere. Lässt sich das denn dann noch in der gleichen Weise anwenden? Kann man solche Staaten wie beispielsweise Afghanistan, oder Somalia ist vielleicht noch ein deutlicheres Beispiel, weil es ein zerfallender Staat ist. Man weiß gar nicht, ob man da wirklich noch von einem Staat reden kann. In Libyen passiert gegenwärtig Ähnliches. Was heißt da noch Staatenverantwortlichkeit in diesem juristischen, völkerrechtlichen Sinne, wie Sie das benutzen?
    Ziegler: Die Staatenverantwortlichkeit setzt natürlich den Staat voraus, ganz klar, einfach weil das völkerrechtliche Delikt, also sozusagen die Rechtsfigur der Staatenverantwortlichkeit, durch die Staatenverantwortlichkeit geltend gemacht wird, setzt zweierlei voraus: nicht nur die Normverletzung, die hatten wir ja jetzt schon ein bisschen besprochen, sondern auch die Zurechnung zum Staat. Wo kein Staat besteht, ist das schwierig, und da fallen wir sozusagen in eine Lücke, aber nur in eine Lücke im Bereich der Staatenverantwortlichkeit. Was immer noch als Rechtsinstrument zur Verfügung steht, es geht dann um nichtstaatliche Akteure, die handeln und deren Handeln nicht einem Staat zuzurechnen ist - die können eigene völkerrechtliche Verpflichtungen haben unter humanitärem Völkerrecht. Das wäre das eine.
    Beindorff: Was heißt das praktisch?
    Ziegler: Sie könnten organisierte, sagen wir mal, Gruppen von Aufständischen oder Milizen...
    Beindorff: Also Paramilitärs.
    Ziegler: Ja, Paramilitärs, die können auch unter dem humanitären oder auch Kriegsvölkerrecht genannt, können auch Verpflichtungen haben. Aber was aus der Durchsetzungsperspektive noch relevanter ist, die können individuell haftbar gemacht werden über die Schiene des Strafrechts, hauptsächlich über die Schiene des nationalen Strafrechts, wenn die die Verbrechen, die Verbrechenshandlungen, die solche Leute begehen, eine Qualität haben, dass die unter das Weltrechtsprinzip fallen.
    Beindorff: Ich glaube, das müssen Sie erklären. Wenn Sie von nationalem Recht reden, dann reden Sie ja nicht vom nationalen Recht Somalias, denn wo es keinen Staat gibt, gibt es in der Regel auch keine funktionierende Justiz, sondern Sie sprechen ein Völkerstrafrecht an, was auch geltend gemacht werden kann in anderen Nationalstaaten. Dafür kennen wir ja auch Fälle. Der Fall Pinochet zum Beispiel oder die Ermittlungen gegen amerikanische Politiker wie Donald Rumsfeld oder Kissinger. Also, wenn Sie von nationaler Gerichtsbarkeit sprechen, dann sprechen Sie von einer solchen nationalen Gerichtsbarkeit.
    Ziegler: Ich spreche von der Gerichtsbarkeit von jedem Staat auf der Erde. Natürlich, normalerweise - und das ist auch Ausdruck des Souveränitätsprinzips - kann ein Staat nicht so ohne Weiteres Leute, Personen für Taten, die in einem anderen Staat begangen wurden, vielleicht auch noch, wo die Opfer Ausländer sind oder Staatsbürger dieses Staats, vor seine eigenen Gerichte zerren. Es braucht immer einen Anknüpfungspunkt für die Ausübung einer solchen Hoheitsgewalt. Aber bei bestimmten schwerwiegenden Straftaten, bei Menschheitsverbrechen, also Folter, Völkermord, Crimes against Humanity. Die dürfen, so hat sich das Völkerrecht entwickelt, die dürfen vor jedem Staat angeklagt werden, die können von jedem Staat durchgesetzt werden, aufgrund des hohen Wertes, den die Staatengemeinschaft diesen Normen beimisst. Das wäre das eine. Also solche Leute, Milizen und Paramilitärs, die sind nicht - also bei Paramilitärs stellt sich natürlich auch immer noch die Zurechnungsfrage. Aber angenommen, deren Handlungen sind nicht zurechenbar, die fallen dann immer noch unter das Individualstrafrecht nationaler Staaten. Dann gibt es das Völkerstrafrecht auf internationaler Ebene, unter engen Voraussetzungen wäre es vielleicht auch denkbar, dass solche Personen vor den internationalen Strafgerichtshof kommen könnten.
    "Der internationale Strafgerichtshof hat nichts mit Staatenverantwortlichkeit zu tun"
    Beindorff: Danach wollte ich Sie gerade fragen: Wie passt dieser internationale Strafgerichtshof, vor dem ja eine Reihe afrikanischer Potentaten angeklagt werden, auch Kriegsverbrecher aus dem Balkan - das ist aber ein Strafgerichtshof, zu dessen Konstitution sich ja nicht alle Staaten bekannt haben. Also bekanntermaßen haben die USA ja die entsprechende Konvention nicht unterzeichnet, auch Israel übrigens nicht, ich glaube, China nicht, auch Russland gehört nicht dazu. Welche Rolle spielt der internationale Strafgerichtshof für die Verbrechen, über die wir jetzt gesprochen haben, und für das, was Sie eben als Staatenverantwortlichkeit sehen. Welche Rolle kann der da spielen?
    Ziegler: Der internationale Strafgerichtshof hat erst mal gar nichts mit Staatenverantwortlichkeit zu tun. Das ist ein komplementärer Mechanismus für Fälle, wo die Staatenverantwortlichkeit nicht greift. Er kann aber auch als Instrument überlappend eingesetzt werden, also wo können die den Staat dafür verantwortlich machen, also sie können Staatenverantwortlichkeit auslösen, aber auch sich individuell strafbar machen. Das sind im Prinzip zwei verschiedene Ansätze des Rechts, mit solchen Handlungen umzugehen. Die Individualstrafbarkeit trägt zwar dem Rechnung, dass es hier um massive und extreme Verbrechen geht, sie trägt aber nicht dem Rechnung, dass es vielleicht staatlich angeordnete, systemische Verbrechen sind. Und natürlich ist - die Strafbarkeit führt erst auch mal zunächst nicht zu irgendwelchen Rechtsfolgen der Staatenverantwortlichkeit wie Wiedergutmachung, Reparationen, Entschädigungszahlungen.
    Beindorff: Wo würde denn diese Staatenverantwortlichkeit verhandelt, also was wäre der Gerichtshof, vor dem im Vorfeld ermittelt würde, dann Beweis erhoben würde und Staaten wirklich in die Verantwortung im strafrechtlichen, im völkerstrafrechtlichen Sinne genommen werden? Was wäre die Gerichtsinstanz dafür?
    Ziegler: Sie sprechen eines der wesentlichen Probleme des allgemeinen Völkerrechts an, nämlich die fehlende zwingende Gerichtsbarkeit. Es gibt im Völkerrecht nicht eine allumfassende Gerichtsbarkeit, wo ein Gericht wie der internationale Gerichtshof automatisch zuständig wäre. Staaten müssen sich entweder in allgemeiner Hinsicht vorab oder für einen speziellen Fall der Gerichtsbarkeit unterwerfen. Das ist natürlich, wenn ein Streit, ein Disput auftritt, unwahrscheinlich, dass sich dann ein Staat freiwillig der Gerichtsbarkeit unterwirft, sodass es letztlich - also es kann vielleicht mal eine Konstellation geben, wo zwei Staaten sich vorab allgemein unterworfen haben der Gerichtsbarkeit des IGH und dann so ein Fall zum IGH kommt, es ist aber extrem unwahrscheinlich. Also Staatenverantwortlichkeit ist eine Rechtsmaterie, die anderen Streitbeilegungsmechanismen unterliegt, also wenn ein - nehmen wir an, zwei Staaten streiten jetzt über die Souveränitätsverletzung oder auch Menschenrechtsverletzungen aufgrund von Fluchtbewegungen, dann gibt es andere Mechanismen. Die könnten zum Beispiel ein Schiedsverfahren einberufen. Aber es gibt keine zwangsläufige Gerichtsbarkeit.
    Beindorff: Also das kann man sich vorstellen vielleicht parallel zu den Nürnberger Prozessen oder Nachkriegsprozessen, die es gegeben hat, ja auch, wenn wir etwa an das Jugoslawien‑Tribunal oder so etwas denken, dem ja aber immer so ein bisschen die Kritik anhaftet, dass es sich um eine Siegerjustiz handelt. In Nürnberg ist das ja ganz offensichtlich gewesen. Das beeinträchtigt jetzt nicht unbedingt die Gerechtigkeit des Urteils, aber es ist eine Tatsache, dass die Staaten, die dort über Nazi-Deutschland zu Gericht gesessen haben, sozusagen die Alliierten waren, die den Krieg gewonnen hatten. Wäre so was als Staatenverantwortlichkeit - ist ja kaum denkbar in Zukunft, weil wenn man sich die jetzt aktuellen Fälle vorstellt, etwa, wie gesagt, Afghanistan, Somalia, aber auch der Krieg im Irak, ist schwer vorstellbar, dass es dort eines Tages ein Tribunal geben wird. Was bedeutet das dann für diese Staatenverantwortlichkeit? Sie haben das ja schon angedeutet, es ist sehr schwierig, das politisch wirklich durchzusetzen. Heißt das, dass dann letztlich nur zwischenstaatlich solche Fragen wie Reparationen, Wiedergutmachungen und so weiter verhandelt werden?
    Ziegler: Also in Friedenslösung oder Post Conflict Settlements ist wahrscheinlich die Staatenverantwortlichkeit noch am ehesten operationalisierbar. Wir haben in verschiedenen, sagen wir mal, Friedensregelungen wie den Pariser Friedensverträgen ...
    Beindorff: Nach dem Zweiten Weltkrieg.
    Ziegler: ... nach dem Zweiten Weltkrieg Entschädigungsregelungen, auch Abkommen zwischen Deutschland und Israel, um die Ansiedlung von jüdischen Flüchtlingen zu unterstützen.
    Ziegler: Staaten halten sich zurück, sich zwingender Gerichtsbarkeit zu unterwerfen
    Beindorff: Und das würden Sie auch als Rechtsnachfolge oder als Rechtsfolge einer Staatenverantwortlichkeit sehen?
    Ziegler: Ja, auf jeden Fall. In einer Regelung nach einem Krieg geht es um die Schäden und um die Verantwortlichkeit, und das würde ich als eine Form der Anwendung von Staatenverantwortlichkeit sehen. Der zweite Punkt, den man hier machen muss eigentlich, ist ein Trend in der Völkerrechtsordnung, sozusagen im Rahmen eines allgemeinen Konstitutionalisierungstrends des Völkerrechts, das Individuum mehr in den Mittelpunkt zu stellen. Das Individuum, und das ist eine rasante Entwicklung seit 1945, das Individuum hat mehr und mehr eigene Rechte bekommen. Erst einmal Primärrechte, Menschenrechte vor allem, aber verknüpft mit Menschenrechtsverletzungen auch Rechte auf Entschädigung für Menschenrechtsverletzungen. Und ich denke, dass hier heutzutage viel mehr, sagen wir mal, drin ist für die Durchsetzung von Rechtsnormen, die im Sachverhalt Flucht verletzt werden, als auf der zwischenstaatlichen Ebene. Und es besteht die Chance hier auch, dass die, die unmittelbar betroffen sind und die Schäden haben, auch ein Interesse haben, ihren Fall sozusagen zu bringen, dass die Verfahren betreiben entweder vor nationalen Gerichten in einer Post Conflict Situation, oder auch zum Beispiel im Rahmen des Europarats über den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, der im Rahmen von Urteilen auch just satisfaction, also eine Entschädigungsregel treffen kann.
    Beindorff: Aber praktisch noch mal nachgefragt, Frau Ziegler: Nehmen wir die syrischen Flüchtlinge, die jetzt beispielsweise in Deutschland hier sind. Wenn die ihre Ansprüche geltend machen wollten gegen den syrischen Staat - wo würden sie das tun? In Deutschland? Würden sie das vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof tun? Und wer würde diese Ansprüche, mal vorausgesetzt, dass Syrien in Jahren überhaupt noch in der Lage ist, diese Ansprüche zu erfüllen, wer könnte diese Ansprüche durchsetzen, wie muss man sich das praktisch vorstellen?
    Ziegler: In Deutschland vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof leider nicht, außer, wenn es jetzt um eine vielleicht Strafbarkeit von Individuen für Menschheitsverbrechen oder ähnliche Akte ging. Die könnten dann strafrechtlich eventuell ahnden. Aber Entschädigungsregeln vor deutschen Gerichten gegen staatliches Verhalten von Syrern, syrischer Staatsgewalt, nehme ich mal an, da würde keine deutsche Gerichtsbarkeit bestehen.
    Beindorff: Und welche Gerichtsbarkeit würde sich dessen annehmen?
    Ziegler: Da gibt es im Moment keine. Man kann nur hoffen, dass in einem Post-Konflikt-Szenario dann die innerstaatlich syrischen Gerichte sich dessen annehmen, oder dass im Rahmen einer Friedensregelung vielleicht ein internationales Forum, ein internationales Gremium so wie die UN Compensation Commission geschaffen würde, die sich mit der Abwicklung des Unrechts, das durch die Besetzung Kuwaits durch Irak erfolgt ist Anfang der Neunziger, dass so was eingerichtet wird.
    Beindorff: Sehen Sie, diese Frage zum Schluss, sehen Sie Chancen, dass es in einer absehbaren Zeit einen Gerichtshof, einen Völkerrechtsgerichthof geben wird, der solche Ansprüche von Flüchtlingen auch angesichts der ja ständig steigenden Zahl von Flüchtlingen, der solche Fälle verhandeln wird und der auch helfen wird, solche Ansprüche und Interessen durchzusetzen. Sehen Sie da eine Chance, in absehbarer Zeit? Oder wird das in den Mühlen politischer Interessen zermahlen werden?
    Ziegler: Also ehrlich gesagt, dass es in absehbarer Zeit so etwas geben wird, halte ich eigentlich für ausgeschlossen, einfach weil die Staaten sich zurückhalten, sich einer zwingenden Gerichtsbarkeit zu unterwerfen. Und das sieht man ganz deutlich auch beim internationalen Strafgerichtshof. Und in einem so sensiblen Bereich vorab eine Unterwerfungserklärung abzugeben, halte ich für unwahrscheinlich.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    Katja S. Ziegler studierte in Mainz, Oxford und Bonn, war an den Universitäten in Bielefeld und Oxford tätig. Sie hat die Sir Robert Jennings Professur für International Law an der Universität Leicester inne. Sie war Beraterin des Europäischen Parlaments und beriet als Expertin das britische House of Lords Constitution Committee.