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Flucht vor religiösem Extremismus
"Pakistan ist ein gescheiterter Staat"

Als "Spiegel"-Korrespondent war Hasnain Kazim vier Jahre lang in Pakistan und hat nun über diese Zeit geschrieben: "Mein Pakistan" ist ein Buch über religiösen Extremismus, Blasphemie-Gesetze und die Flucht vor einem Islamismus, der die Menschenrechte missachtet. Hasnain Kazim resümiert seine Erlebnisse in dem Land, aus dem seine Eltern stammen.

Hasnain Kazim im Gespräch mit Benedikt Schulz | 06.10.2015
    Spiegel-Korrespondent Hasnain Kazim
    Hasnain Karzim zu seinem neuen Buch "Plötzlich Pakistan" (picture alliance / dpa / Foto: Janna Kazim)
    Benedikt Schulz: Hasnain Kazim war von 2009 bis 2013 Spiegelkorrespondent in Pakistan, das Land aus dem seine Eltern stammen und die es in den 1960er, beziehungsweise 1970er Jahren verlassen haben in Richtung Deutschland. Und immer noch suchen Tausende Pakistaner jährlich eine Zukunft außerhalb des Landes. Es ist ein Land, in dem religiös motivierte Terroranschläge zum traurigen wie gefährlichen Alltag gehören. Über seine Zeit als Korrespondent hat er jetzt ein Buch geschrieben. Der Titel: "Plötzlich Pakistan – Mein Leben im gefährlichsten Land der Welt". Und damit ist er derzeit in Deutschland auf Lesereise. Herr Kazim, ich grüße Sie.
    Hasnain Kazim: Guten Morgen.
    Schulz: Ich möchte einfach mal mit dem Ende Ihres Buches beginnen. Sie schreiben ganz zum Schluss einen Satz, der klingt in meinen Ohren fast schon resigniert: "Hunderttausende sind aus Pakistan weggezogen, weil sie hier keine gute Zukunft für sich sahen, und inzwischen verstehe ich warum." Herr Kazim, haben Sie die Hoffnung für das Herkunftsland Ihrer Eltern aufgegeben?
    Kazim: Ich habe sie nicht wirklich aufgegeben, denn es gibt immer eine Rest-Hoffnung. Wenn man zum Beispiel darüber nachdenkt, wie das mit der deutschen Einheit war, das hatte ja vorher auch niemand für möglich gehalten. Insofern – ich glaube schon, dass es vielleicht eine Chance gibt, dass die ganze Entwicklung in Pakistan hin zu radikalem Islam, diese ganze Radikalisierung, dass das aufgehalten werden kann, dass es gestoppt werden kann. Aber im Moment ist es tatsächlich nicht zu sehen. Im Moment ist es eine Entwicklung, die mehr Gewalt bedeutet, mehr Zwist zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen, zwischen religiösen Minderheiten und der Mehrheit, auch zwischen Ethnien. Und insofern sehe ich im Moment keine, habe ich im Moment keine Hoffnung, aber – wie gesagt – ein bisschen Hoffnung bleibt.
    Schulz: Für die Menschen, die aus Pakistan fliehen, was glauben Sie aus Ihrer Einschätzung heraus, welche Rolle spielt denn dabei der religiöse Extremismus?
    Kazim: Ich glaube, das ist der wesentliche Grund oder ein wesentlicher Grund, weswegen Menschen darüber nachdenken, das Land zu verlassen. Denn sie werden unterdrückt, sie können ihren Glauben nicht leben. In Pakistan ist es im Moment so, dass die sunnitische Mehrheit, am besten wahabitisch, bestimmt, wie die anderen zu leben haben – in Teilen des Landes zumindest. Und wer eben schiitisch ist oder einer anderen islamischen Minderheit angehört, seien des Amadis oder Ismaeliten, oder sei es eine ganz andere Religion, Hindus, Christen, Shiks, die es ja auch alle gibt in Pakistan, die müssen um ihren Platz in der Gesellschaft kämpfen. Und das ist teilweise eben mit Lebensgefahren verbunden. Und deswegen flüchten viele.
    Schulz: An einer Stelle schreiben Sie in Ihrem Buch, die seltsame Vorstellung, alles Unislamische müsse ausgemerzt werden, verbreitet sich in Pakistan, ohne dass sich hier etwas oder jemand entgegen stellt. Und dann schreibt ein pakistanischer Bekannter: Nur eine kleine Minderheit ist so fanatisch. Also, die Extremisten sind in der Minderheit, aber dennoch zwingen sie einer ganzen Gesellschaft die fortschreitende Radikalisierung – was Sie ja gerade auch beschrieben haben – auf. Und gegen die wehrt sich keiner oder kann sich keiner wehren. Wie ist das möglich?
    Kazim: Ich glaube, dass das eine schleichende Entwicklung ist. Also tatsächlich ist es wohl eine Minderheit. Das ist zumindest die gängige Erzählweise. In Pakistan heißt es: Das ist ja nur eine Minderheit; wir müssen uns da keine Gedanken machen; und so schlimm ist es ja nicht. Aber wenn man sich dann anschaut, wie viele Leute vielleicht doch so denken, bin ich mir da gar nicht mehr so sicher, wie klein die Minderheit ist. Eine Minderheit – davon gehe ich nach wie vor aus, aber es ist eine sehr große Minderheit. Es gibt ein Beispiel. Ein Politiker – Salman Taseer – Gouverneur des Punjab – ist von seinem eigenen Leibwächter erschossen worden, weil er sich gegen das Blasphemie-Gesetz ausgesprochen hat. Das ist ein Gesetz, das unter anderem die Todesstrafe vorzieht, wenn man den Propheten Mohammed beleidigt. Und dieser Mann hat sich dafür eingesetzt, das Gesetz zu ändern, und ist erschossen worden von seinem eigenen Leibwächter. Ich habe dann gesehen, wie dieser Leibwächter dem Haftrichter vorgeführt wurde, in Islamabad in der Hauptstadt. Und auf den Weg dorthin zum Gericht, der Weg war gesäumt von Anwälten, teilweise Leute, die ich kannte und von denen ich dachte, es wären gebildete Leute, teilweise auch im Westen studiert, die standen da und warfen Rosenblätter und feierten den Mörder nach dem Motto: Gut gemacht, du hast einen Blasphemisten getötet, weil er gegen das Blasphemie-Gesetz war. Und da kommen denn da, wenn man solche Bilder sieht, einem Zweifel, ob das wirklich nur eine Minderheit, so eine kleine Minderheit ist, wenn wirklich gebildete Leute so handeln.
    Schulz: Wie kann es sein, dass sich so eine Bereitschaft zur Gewalt oder vielleicht sogar eine Bewunderung dieser religiös motivierten Gewalt bis in intelligente, gebildete Kreise etablieren kann?
    Kazim: Ich glaube, es ist eine Vielzahl von Ursachen. Zum einen ist es bei den ärmeren Schichten natürlich Armut. Und Unbildung, dass man sich diesen Radikalen zuwendet, die ja Koranschulen finanzieren und betreiben, die den Kindern auch kostenloses Mittagessen bieten. Also, das ist eine Rundum-Versorgung, wo dann auch diese radikalen Inhalte gelehrt werden. Dann gibt es, glaube ich, bei vielen gebildeteren Pakistanern dieses Gefühl: Wir werden nicht ernst genommen, wir werden schlecht behandelt vom Rest der Welt. Es ist so ein bisschen eine Opferrolle, wo man sehr leicht sagen kann, wenn man sich in einer Opferrolle fühlt, die anderen sind schuld, uns trifft keine Schuld. Das ist ja immer das Problem einer Opferrolle, die – glaube ich – grundsätzlich schädlich ist, wenn man rauskommen will aus dieser Situation.
    Schulz: Sie haben das Blasphemie-Gesetzt gerade selbst angesprochen. Das Gesetz gilt ja bis heute. Wie haben Sie die Auswirkungen dieses Paragraphen erlebt im Alltag?
    Kazim: Man erlebt, dass die Menschen Angst haben, irgendetwas zu sagen, was als Blasphemie aufgefasst werden könnte. Also, es gibt diesen ganz gerühmten Fall der Asia Bibi, eine Christin, die von ihren Kolleginnen – sie war eine Landarbeiterin, hat also Obst gepflückt – ist also von ihren Kolleginnen beschimpft worden und sie sind in einen Streit geraten und letztlich tauchte dieser Blasphemie-Vorwurf auf. Sie – Asia Bibi – hätte den Propheten Mohammed beleidigt. Sie wurde zum Tode verurteilt. Da haben sich zwei Politiker für sie eingesetzt. Die haben gesagt, das kann man so nicht machen, sie hat es nicht getan - und es war ein Streit unter Kolleginnen. Beide Politiker – den einen erwähnte ich schon – Salman Taseer – und der andere Shahbaz Bhatti, der Minderheitenminister – beide sind ermordet worden, weil sie sich für sie, die Blasphemistin, eingesetzt haben. Und seither traut sich niemand mehr, irgendetwas gegen dieses Blasphemie-Gesetz zu sagen. Wenn überhaupt, sagt man ganz vorsichtig, man müsse gucken, dass das nicht missbraucht wird. Manche sagen, wir müssen es ein bisschen ändern. Tatsache ist eigentlich: Dieses Gesetz – es ist ein Teil des Strafgesetzbuches – ist Unsinn. Das muss man abschaffen. Aber das traut sich niemand zu sagen, denn allein diese Forderung ist lebensgefährlich.
    Schulz: Aber so wie Sie die Anwendung dieses Gesetzes – oder – um im anderen Sprachgebrauch zu bleiben – den Missbrauch dieses Gesetzes beschreiben, für mich klingt es wie nach den Denunziationsmechanismen eines totalitären Staates, oder nicht?
    Kazim: Absolut. Das ist so ein Mechanismus. Das Erstaunliche ist ja, dass dieses Gesetz zwar schon zu mehreren Todesurteilen geführt hat, die aber noch nie vollstreckt wurden. Es ist noch nie jemand wegen des Blasphemie-Gesetzes hingerichtet worden. Aber wenn es dann irgendwann herauskommt, ja, es war ja keine Blasphemie, es war Nachbarschaftsstreit oder Streit unter Freunden oder wie auch immer, wo es dann hitzig zuging und dann warf der eine dem anderen Blasphemie vor, wenn das dann herauskommt und diese Person, die verurteilt worden ist, das Urteil rückgängig gemacht wird und diese Person rauskommt aus dem Gefängnis, dann kommt der Mob. Dann kommt es zu Selbstjustiz, und dann stirbt dieser Mensch, weil der Makel der Blasphemie, der bleibt haften, wenn das einmal behauptet wurde. Es gibt viele Fälle von Selbstjustiz, wo Menschen gestorben sind, weil irgendjemand sie umgebracht hat, weil's ja Blasphemisten sind.
    Schulz: Politiker werden ermordet, und die überlebenden Politiker ducken sich – aus Selbstschutz, wenn man so will – weg und geben ihren Widerstand gegen das Blasphemie-Gesetz auf. Ist der Staat Pakistan auf diese Art und Weise ein gescheiterter Staat, der sozusagen das Gewaltmonopol nicht mehr inne hat?
    Kazim: Natürlich, denn der Staat kommt seiner Aufgabe, seine Bevölkerung zu schützen und ein Recht gelten zu lassen, das demokratischen, rechtstaatlichen Prinzipien entspricht, nicht nach. Wenn er das also nicht durchsetzen kann, dann ist er gescheitert. Er schafft es also nicht, seine eigene Bevölkerung zu schützen.
    Schulz: "Plötzlich Pakistan – Mein Leben im gefährlichsten Land der Welt" – so der Titel des Buches von Hasnain Kazim, erschienen im Deutschen Taschenbuch Verlag, 280 Seiten für 14,90 Euro. Herr Kazim, vielen herzlichen Dank.
    Kazim: Vielen Dank auch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.