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Flucht vor Trump
Rübermachen nach Kanada

In den USA leben Zehntausende Haitianer illegal. Die meisten sind nach dem schweren Erdbeben 2010 aus Haiti dorthin geflüchtet. Jetzt machen sich wegen Trumps Einwanderungspolitik und aus Angst vor einer Deportation viele auf den Weg nach Kanada. Doch ein Grenzübertritt ist schwierig - mit einer ungewissen Zukunft.

Von Kajetan Dyrlich | 12.08.2017
    Ein Bus mit Aslysuchenden am 4. August 2017 im Olympic Stadium in Montreal, Quebec, Kanada. Die Zahl der Flüchtlinge hat sich in Quebec seit Mai pro Tag verdreifacht. 70 Prozent von ihnen sind aus Haiti. Bisher haben 6.500 von ihnen in Kanada Asyl beantragt.
    Bus mit Aslysuchenden am 4. August 2017 im Olympic Stadium von Montreal: Viele sind Haitianer, die die USA aus Angst vor einer härteren Gangart gegenüber illegalen Einwanderern verlassen haben. (imago stock&people)
    Es ist eine einsame Straße – mitten im Nirgendwo. Ihr Name: Roxham Road. Im nördlichsten Zipfel des US-Bundesstaates New York.
    Der 40-jährige Haitianer Rones Marcellus ist aus Boston hierhergekommen. Er will mit seinem Rollkoffer nach Kanada – weg aus den USA, wo er vier Jahre lang gelebt hat. Die letzten Meter geht es entlang der Roxham Road. Es sind auch seine letzten Meter auf US-amerikanischem Territorium.
    "Wir haben Angst, aus den USA deportiert zu werden. Wir sind illegal hier, wir sind auf der Suche nach einem besseren Leben und einer besseren Ausbildung. Die jetzige US-Regierung will uns diese Chance verwehren. Deshalb verlassen wir die Vereinigten Staaten."
    Er ist nach dem schweren Erdbeben 2010 aus seinem Heimatland in die USA geflohen. Zurück nach Haiti will er auf keinen Fall. Zu gefährlich, sagt er.
    "Nach dem Erdbeben wurde es immer schlimmer. Nichts hat sich verändert. Sie haben viel Geld ausgegeben, aber es hat nichts gebracht."
    Taxis mit Flüchtlingen fahren im 10-Minuten-Takt
    Er ist einer von hunderten Haitianern, die zurzeit allein an diesem unscheinbaren Grenzübergang die USA Richtung Norden nach Kanada - ins französischsprachige Québec - verlassen. Aus Angst vor der angekündigten harten Gangart gegenüber illegalen Einwanderern in den USA.
    "US-Präsident Trump hat angekündigt, er wolle den vorübergehenden Sonderstatus der Haitianer nach dem Erdbeben aufheben", sagt Josef Berville aus Indiana. "Das ist der Grund, warum wir hier sind, um nach einem besseren Ort zum Leben zu suchen."
    Im 10-Minuten-Takt kommen neue Taxis mit immer mehr Flüchtlingen die Roxham Road entlanggefahren. Der Grenzübergang platzt aus allen Nähten. Einige müssen warten, es ist nicht genug Platz für alle da. Ein Taxifahrer behauptet, er mache mit dem Transport der Flüchtlinge zurzeit 1.500 Dollar – die Woche!
    Grenzübergänge am Limit - die Lage spitzt sich zu
    Die amerikanischen Grenzbeamten arbeiten inzwischen im Schichtbetrieb – alles wirkt geordnet. Normalerweise ist es ihnen strengstens untersagt, mit Medienvertretern zu sprechen. Doch hinter vorgehaltener Hand erzählen sie: Seit zwei Wochen spitze sich die Situation hier zu. Von Schichtbeginn zu Schichtbeginn kämen immer mehr Haitianer, um über die Grenze nach Kanada zu kommen. Über soziale Netzwerke und YouTube spricht sich herum, dass dies der beste Ort sei, die USA zu verlassen – auch wenn das kanadische Einwanderungsministerium noch Anfang des Monats vor illegalen Grenzübertritten gewarnt hat.
    Ist die Grenze einmal übertreten – werden die Flüchtlinge von der kanadischen Polizei verhaftet und anschließend registriert. Dann werden sie mit Bussen Richtung Montreal in eine der Unterkünfte gebracht, die bereits auf die Neuankömmlinge warten. Unter anderem ins Montrealer Olympiastadion, das zur Flüchtlingsunterkunft umfunktioniert wurde. Das sorgte weltweit für Schlagzeilen.
    Demonstration für die Flüchtlinge vor dem Olympiastadium
    Und rief die ersten Demonstranten auf den Plan. Erst vor wenigen Tagen fand vor dem Stadion die erste größere Kundgebung statt. Unter den hunderten Demonstranten war auch Marie Deckers. Die Deutsche lebt seit sieben Jahren in Montreal. Kanada habe sich sehr gastfreundlich gezeigt, als es zehntausende Syrer aufnahm. Doch das sei jetzt in Teilen der Bevölkerung anders.
    "Aber jetzt, da es nicht reguliert ist oder abgesegnet ist durch die Regierung. Dadurch, dass die Leute einfach irregulär die Grenze überschreiten. Ich glaube deshalb ist es hier eine große Sache, dass hier das Olympische Stadion als das Symbol von Montreal jetzt umgewandelt wird zu einer Asylunterkunft."
    Organisiert hat die Demonstration der Aktivist und Musiker Jaggi Singh. Er plädiert dafür, die Grenze für die Flüchtlinge – gerade auch aus Haiti – Richtung Kanada zu öffnen.
    "Die Entwicklung ist sicher nicht mit der auf dem Mittelmeer in Europa vergleichbar. Aber trotzdem ist es ein Thema hier in Kanada. Wir müssen vernünftig handeln, auch wenn es nicht so viele Tote und Verletzte gibt, wie an anderen Orten auf der Erde."
    Zukunft der Flüchtlinge in Kanada immer noch unklar
    Doch die wichtigste Frage bleibt: Wie wird die kanadische Regierung unter dem liberalen Justin Trudeau mit den illegalen Einwanderern und Asylsuchenden umgehen? Schließlich haben die wenigsten von ihnen in den USA Asyl beantragt. Das kann jetzt zu ihrem Nachteil ausgelegt werden.
    Mireille Paquet von der Concordia Universität in Montreal forscht zum Thema Migration. Sie ist skeptisch, dass die Haitianer in Kanada bleiben können.
    "Es sieht eher danach aus, dass sie wieder nach Haiti zurückmüssen. Die Situation ist nicht schön dort, aber Kanada hat bereits in den vergangenen Jahren Menschen dorthin zurückgebracht. Aber… wir wissen es nicht genau. Vieles kann passieren. Die kanadische Regierung könnte anders entscheiden. Aber das wäre doch sehr überraschend, wenn sie es tun würden."
    Zurück an der Grenze will ich von Josef Berville wissen, ob er Angst habe, dass er Kanada wieder verlassen müsse.
    "I don’t think so. I don’t think so."
    Er glaubt das nicht. Viele Flüchtlinge hier sind überzeugt: Kanada werde sie schon aufnehmen. Im vergangenen Jahr wurden nach Behördenangaben immerhin noch knapp über die Hälfte der Asylgesuche aus Haiti akzeptiert. Doch am Ende könnte die Roxham Road für die vielen Haitianer nicht der Weg in die persönliche Freiheit, sondern der Weg zurück in ihr Heimatland Haiti bedeuten. Den Ort, an den sie alle nicht mehr zurückwollen.