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Flüchtlinge
Analytischer Blick auf die Methoden der Panikmache

Zygmunt Baumann widmet sich in seinem Essay über "Migration und Panikmache" einem hoch aktuellen Thema. Präzise analysiert er dabei verschiedene Mechanismen, etwa wie Verpflichtungsgefühle durch Panik narkotisiert werden. Die Frage, was wir dagegen tun können, beantwortet er aber auch nicht.

Von Manfred Schneider |
    Der Soziologe Zygmunt Baumann im Gespräch mit Nana Brink im Studio des Deutschlandradio Kultur.
    Der Soziologe Zygmunt Baumann ein einem Gespräch mit Nana Brink im Studio bei Deutschlandradio Kultur. (Deutschlandradio / Melanie Croyé)
    Die akademische Wissenschaft benötigt gewöhnlich ein paar Jahre, ehe sie ihre Blicke auf Gegenwartsprobleme richtet und dazu etwas Förderliches sagt. Eine Ausnahme bildet der große alte Soziologe Zygmunt Baumann, der eben mit einem kleinen aktuellen Essay über "Migration und Panikmache" hervortritt. Baumann weiß, wovon er spricht, denn als gebürtiger Pole hat er die Erfahrung der Flucht gleich mehrfach gemacht: 1939 floh er vor den Nazis in die Sowjetunion, 1968 emigrierte er aus dem kommunistischen Polen nach Israel. Und eine dritte Zuflucht fand er als akademischer Forscher in England, wo er noch heute lebt.
    Zygmunt Baumann befasst sich aber nicht aus Betroffenheit mit unserer "Angst vor den anderen", wie der Titel seines Essays lautet. Über Asylsuchende und Armutsflüchtlinge, die gegenwärtig die europäische Öffentlichkeit spalten, spricht er als scharfsinniger und unbequemer Beobachter unserer Moderne. In vielen Büchern schrieb er über den globalen Finanzkapitalismus, über Technik und Medien, die unser Leben so nachhaltig verändern: Mit den Arbeitsplatzsorgen, mit Angst vor Flüchtlingen, Terror und erhöhter Überwachung wächst zugleich die Zahl kraftmeierisch auftretender Politiker, die das Rad der Geschichte zurückzudrehen versprechen.
    Tatsächlich, erklärt der Soziologe, ist die Angst vor den Fremden tief in uns verwurzelt. Aber zugleich wollen wir unserer inneren Stimme folgen, die uns zur Hilfe für die Unglücklichen ermahnt. Daraus resultiert eine Haltung, die Psychologen als "kognitive Dissonanz" beschreiben: Wir beobachten voller Mitgefühl das Schicksal der Flüchtlinge und strecken ihnen unsere Hände entgegen.
    Schlechtes Verhalten verbreitet sich im Bewusstsein wie ein Virus
    Zugleich aber nehmen wir gierig alle Nachrichten auf, die diese Flüchtlinge als Gefahr erscheinen lassen. So können wir es ertragen, wenn zu unseren eigenen Landsleuten Räuber und Diebe zählen. Das Bild von uns selbst und unseren Mitbürgern nimmt dabei keinen Schaden. Doch die kleinste Nachricht über das schlechte Verhalten eines einzigen Gastes kann in unserem Bewusstsein wie ein Virus rasch ein ganzes fremdes Volk und dessen Kultur kontaminieren.
    Baumann untersucht dieses moralische Dilemma unserer Zeit, indem er bedeutende Historiker, Soziologen und Philosophen anführt, die diese Ängste mit Argumenten aus der Geschichte und Gegenwart besänftigen. Die Menschheit ist, seit sie einst in Afrika ihre Gattungseigenschaften erwarb, eine Kreuzung von Rassen. Seit Jahrtausenden gehen die Wanderungen über den Globus; unzählige kulturelle Mischungen leben in schönstem Frieden miteinander. Wie auch sonst?
    Von unverminderter Aktualität ist daher eine Bemerkung, die Immanuel Kant 1795 in seiner Schrift vom Ewigen Frieden machte: Ansässige wie Migranten haben ein Recht auf den gemeinschaftlichen Besitz der Oberfläche der Erde, da sie sich als Kugelfläche nicht ins Unendliche vergrößern lässt.
    Zwei Argumente trägt Baumann zur Migrationsdebatte bei: Er weist einmal darauf hin, dass auch in unserer von vielen Skrupeln befreiten Gegenwart die Autorität der Moral intakt geblieben ist. Selbst Diktatoren berufen sich auf moralische Prinzipien. Daher können wir auch heute auf die Kraft moralischer Argumente vertrauen. Zum anderen mahnt er uns mit dem amerikanischen Philosophen Kwame Anthony Appiah, dass wir im Zeichen der Globalisierung ein weltbürgerliches Bewusstsein entwickeln und mit den Fremden das Gespräch suchen müssten.
    Baumann analysiert die Überforderung der Menschen
    Dennoch stehen wir vor der Frage, bis zu welchen Grenzen wir verpflichtet sind, Flüchtigen beizustehen. Hierzu freilich äußern sich die großen Denker nicht, weder Kant noch Hannah Arendt oder der große Emmanuel Levinas. Klug und pointiert beschreibt Baumann die Überforderung der Menschen in den hoch industrialisierten Ländern; genau und weitläufig erklärt er die Pflichten, von denen wir uns nicht abkehren dürfen; überzeugend analysiert er die Mechanismen, mit denen wir, Bürger, Agitatoren, Populisten, Verpflichtungsgefühle durch Panik narkotisieren. Aber wie lösen wir mit diesem Wissen die Konflikte der Gegenwart?
    Denn wir stehen ja nicht in einer Debatte über unsere moralischen Grundsätze, sondern inmitten eines politischen Streits, der die Einigkeit Europas und den Weltfrieden gefährdet. Treiben die Konflikte auf einen empfindlichen Wert zu, dann fühlen sich auch Bürger und Politiker der westlichen Welt berechtigt, Regeln des Zusammenlebens zu missachten. Das zeigt die Abkehr einiger europäischer Regierungen von einer solidarischen und an den Normen der Gemeinschaft orientierten Lösung der Flüchtlingsprobleme. Schon überlegt in Deutschland eine politische Partei der Mitten, nur noch Abendländern den Zuzug zu erlauben. Auch Zygmunt Baumann lässt die Frage offen: Was sollen wir tun?
    Zygmunt Baumann: "Die Angst vor den anderen. Ein Essay über Migration und Panikmache"
    Aus dem Englischen von Michael Bischoff, Berlin, Suhrkamp 2016, 125 Seiten, Preis: 12,40 Euro