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Flüchtlinge aus Syrien
"Was die Türkei macht, ist menschenverachtend"

Die Linken-Politikerin Heike Hänsel hat der Türkei vorgeworfen, syrischen Flüchtlingen Schutz vor der Terrormiliz IS zu verweigern. Dass Tausende Menschen ins Land gelassen würden, habe sie bei ihrem Besuch nicht beobachtet, sagte sie im DLF. Terroristen dagegen könnten die Grenze passieren.

Heike Hänsel im Gespräch mit Jasper Barenberg | 24.09.2014
    Eine Gruppe von Flüchtlingen wartet an der syrisch-türkischen Grenze nahe der Stadt Sanliurfa in der Türkei.
    Nach dem jüngsten Flüchtlingszustrom hat die Türkei nach Angaben der Vereinten Nationen inzwischen mehr Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen als jedes andere Land. (picture alliance / dpa / Sedat Suna)
    Jasper Barenberg: 50 Länder haben zugestimmt, an der Seite der Vereinigten Staaten den Kampf gegen die Terroristen der Miliz Islamischer Staat aufzunehmen. Diesen Erfolg nimmt US-Außenminister John Kerry für sich in Anspruch. Die letzten Wochen hat er vor allem im Flugzeug verbracht, um diese Koalition zu schmieden. Zum zweiten Mal haben in der Nacht Kampfflugzeuge der USA und einiger Verbündeter aus der Region Ziele in Syrien bombardiert, ein Einsatz, den die Staatsduma in Moskau geschlossen verurteilt.
    Rund 140.000 Menschen sollen in den letzten Tagen vor den islamistischen Kämpfern aus Syrien in die Türkei geflohen sein. Das sagt jedenfalls die türkische Regierung.
    Mitgehört hat Heike Hänsel, die entwicklungspolitische Sprecherin der Linkspartei im Bundestag. Schönen guten Tag.
    Heike Hänsel: Ja, guten Tag.
    Barenberg: Sie waren ja, Frau Hänsel, am vergangenen Wochenende eben dort in dem Grenzgebiet unterwegs. Jetzt haben wir gehört, dass es Unstimmigkeiten, Unklarheiten gibt, was die Zahl der Flüchtlinge angeht. Was war Ihr Eindruck, was sind Ihre Informationen?
    Hänsel: Ja, ich kann das eigentlich nur bestätigen, denn ich war genau in der Grenzstadt Soruc, und dann haben wir uns auch durch das Militär vorgekämpft bis direkt an den Grenzzaun zur syrischen Seite. Die Grenze liegt ja genau vor der Stadt Kobani, aus der jetzt viele Menschen fliehen. Und ich habe weder in Soruc diese 100.000 Flüchtlinge gesehen, geschweige denn habe ich überhaupt gesehen, dass Flüchtlinge über die Grenze gingen, und das ist ja auch das große Problem. An dem Grenzzaun, an dem wir waren, hatte das türkische Militär die Flüchtlinge davon abgehalten, dass sie über die Grenze gehen können. Deswegen gab es auch von etlichen kurdischen Abgeordnetenkollegen von mir im türkischen Parlament einen Sitzstreik seit mehreren Tagen, die darauf aufmerksam machen wollten, dass bei weitem nicht die Grenzen offen sind für Flüchtlinge. Es mag einzelne Übergänge geben, die partiell geöffnet werden, aber insgesamt sitzen dort viele Familien mit all ihrem Hab und Gut und ihren Tieren an dem Grenzzaun und kommen nicht über die Grenze.
    Barenberg: Sie sitzen also auf der syrischen Seite fest?
    Hänsel: Sie sitzen immer noch auf der syrischen Seite fest. Sie fliehen unmittelbar von Kobani, denn die IS-Kämpfer dringen weiter vor. Es gibt viele Horrormeldungen und da bricht natürlich auch Panik aus. Diese Menschen saßen jetzt auf der anderen Seite des Zaunes. Ich stand ihnen praktisch direkt gegenüber und zwischen uns das türkische Militär. Dazu kam, dass die Dorfbevölkerung aus Soruc, auch viel kurdische Bevölkerung, dort selbst dann Hilfszelte aufgebaut hatte, Lebensmittel gesammelt hatte und so weiter. Das wurde auch vom türkischen Militär beschlagnahmt. Die Zelte wurden zerstört und mussten wieder mitgenommen werden. Das ist für mich völlig unverständlich. Wenn ich gleichzeitig dort in der Region höre, dass es sehr viele Augenzeugen gäbe, die IS-Kämpfer sehen, die über die Grenze gehen, die behandelt werden in Krankenhäusern, die in der Türkei rekrutieren können, dann frage ich mich, wie kann es sein, dass für Flüchtlinge die Grenze geschlossen ist, aber für diese Terrorgruppen dort es eine Durchlässigkeit gibt.
    Barenberg: Welchen Reim machen Sie sich darauf?
    "Man muss der Türkei Beihilfe zu Massakern vorwerfen"
    Hänsel: Ich denke, das ist auch eine politische Strategie der türkischen Regierung, dass sie nämlich im Hauptfokus die kurdische Bewegung hat und weniger den IS, den Islamischen Staat, und dass es im Gegenteil zumindest auch indirekt Unterstützung gibt aus der Türkei für die IS-Kämpfer, um eben auch gegen die Kurden vorzugehen. Ich halte das für eine verantwortungslose Politik und man muss der Türkei da wirklich auch Beihilfe dann zu solchen Massakern vorwerfen, wenn sie nicht aktiv etwas gegen diese IS-Kämpfer in ihrer Grenzregion unternimmt und gleichzeitig die Flüchtlinge nicht über die Grenze lässt.
    Barenberg: Die Türkei fürchtet, so verstehe ich das jedenfalls, dass der Konflikt mit den Kurden wieder aufflammen könnte, wenn jetzt viele kurdische Kämpfer die Grenze in die eine und in die andere Richtung passieren. Haben Sie Verständnis für diese Sorge der türkischen Regierung?
    Hänsel: Es gibt ja auf der anderen Seite einen Friedensprozess seit mehreren Jahren jetzt mit der PKK auf türkischer Seite. Die Verhandlungen sind ja vorangegangen und es gibt da ja auch viele Angebote, mitzuhelfen, dass es eine friedliche, eine politische Lösung dieses Konfliktes gibt. Und im Gegenteil: Es wäre doch eine Chance, wenn es diese autonomen Regionen auf syrischer Seite gibt, die kurdischen, diese zu entwickeln und sie in einem Autonomiestatus zu belassen. Es geht ja nicht um einen unabhängigen Staat. Es geht um Autonomieregionen. Die könnten gestärkt werden. Die sind im Moment auch Zufluchtsort für viele andere Flüchtlinge in Syrien, und ich denke, das könnte ein wichtiges Zeichen sein. Was die Türkei jetzt macht, ist meines Erachtens menschenverachtend und sie macht sich da auch mitschuldig, dass der IS immer stärker wird.
    Barenberg: Heike Hänsel, die entwicklungspolitische Sprecherin der Linkspartei, bei uns heute live in den "Informationen am Mittag" im Deutschlandfunk. Danke für das Gespräch.
    Hänsel: Ja, danke schön.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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