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Flüchtlinge
Debatte um angeblich falsche Herkunftsangaben in Wien dauert an

Sind tatsächlich alle Menschen, die über die Grenze von Ungarn nach Österreich kommen, syrische Bürgerkriegsflüchtlinge? Das hatte ein marokkanischer Dolmetscher aus Wien in einem DLF-Beitrag in Frage gestellt. Seinen Aussagen widersprechen Behörden und Wissenschaftler.

13.09.2015
    Helfer, die in Wien im Einsatz sind, glauben, dass eine beträchtliche Anzahl der Einreisenden falsche Angaben zu ihrer Herkunft machen. Sie gäben sich als Syrer aus, obwohl sie etwa aus Algerien, Pakistan oder Bangladesch stammten. So etwa der Marokkaner Merouane Missaoua gegenüber Ralf Borchard, dem ARD-Korrespondenten in Wien.
    Missaoua dolmetscht in seiner Freizeit am Wiener Bahnhof für die Flüchtlinge, die von Ungarn aus ankommen und zumeist weiter nach Deutschland reisen. Er berichtet in dem Beitrag, mindestens ein Viertel der Menschen, denen er begegnet sei, stammten nicht aus Syrien, obwohl sie dies behaupteten. Das hätten viele auf seine Nachfrage hin zugegeben. Es sei eine Chance, nach Europa zu gelangen nach dem Motto "Jetzt oder nie".
    Politikwissenschaftler widerspricht
    Thomas Schmidinger, Politikwissenschaftler an der Universität Wien, widerspricht. Er sagte dem Deutschlandfunk am Sonntag, er sei die ersten zwei Tage nach der Grenzöffnung permanent auf dem Westbahnhof in Wien gewesen. Er habe dort bei der Organisation geholfen und sein Arabisch sei gut genug, um die verschiedenen Dialekte zu erkennen. Die Einschätzung des marokkonischen Dolmetschers, dass ein Viertel der Menschen falsche Angaben mache, sei bisher nicht mit Beweisen belegt und er halte sie für stark übertrieben.
    Neben den Syrern auch andere Kriegsflüchtlinge
    Schmidinger meinte, die meisten Ankommenden seien eindeutig Syrer. Andere kämen aus dem Irak oder Afghanistan, seien also auch Kriegsflüchtlinge. Der Wissenschaftler betonte, nach seiner Erfahrung würden die meisten Fälle vorgetäuschter Identität spätestens im Anerkennungsverfahren für Asylbewerber aufgedeckt.
    Innenministerium in Wien: Gefälschte Identitäten nur in Einzelfällen
    Zuvor hatte schon das österreichische Bundesinnenministerium gesagt, man habe keine Erkenntnisse, die die Aussage des Dolmetschers deckten. Im Rahmen von Asylverfahren würden zwar immer wieder gefälschte Identitäten aufgedeckt, sagte der Pressesprecher des Ministeriums in Wien, Karl-Heinz Grundböck, dem Deutschlandfunk. Grundböck sprach aber von Einzelfällen. Eine statistische Erfassung dazu gebe es allerdings bislang nicht.
    "Kontrollen finden nachgelagert statt"
    Der Ministeriumssprecher räumte ein, dass es am Wiener Bahnhof keine lückenlosen Personenkontrollen gebe. Die Personalien würden aber später durchaus erfasst. Dabei habe sich gezeigt, dass der überwiegende Teil der Ankömmlinge tatsächlich aus Syrien beziehungsweise aus Afghanistan und dem Irak stammten. Untersucht werde das anhand der mitgeführten Papiere. Fehlten diese, würden stichprobenartig Plausibilitätsprüfungen vorgenommen. Es würden etwa Sprachkenntnisse überprüft.
    Dem Wiener Innenministerium zufolge haben bis Ende Juli dieses Jahres 37.000 Menschen in Österreich einen Antrag auf Asyl gestellt. Davon stammten 10.000 Personen aus Syrien, 8.500 aus Afghanistan und 5.000 aus dem Irak. Die übrigen Antragsteller kämen etwa aus Pakistan, Iran, Eritrea oder vielen weiteren Ländern. Grundböck bestätigte, dass die Zahl der Migranten aus dem Kosovo seit März stark rückläufig sei.
    Ralf Borchard: Das deckt sich mit Beobachtungen vieler Kollegen
    Nach den Reaktionen in den Sozialen Medien auf seinen Beitrag sagte Ralf Borchard im Deutschlandfunk, die Äußerungen des Innenministeriums in Wien widersprächen seiner eigenen Darstellung nicht. "Das ist kein wirkliches Dementi." Der überwiegende Teil der Menschen stamme tatsächlich aus den Bürgerkriegsregionen. Es gehe aber darum, "ob möglicherweise rund ein Viertel - genau kann man das natürlich nicht überprüfen, das ist eine Einschätzung - eben keine Flüchtlinge sind." Österreich führe eben keine lückenlosen Personenkontrollen durch und sei "natürlich ganz froh, dass diese Leute weiter nach Deutschland reisen" und die Bundesrepublik damit "das Problem mit den allermeisten Flüchtlingen am Ende hat". Das müsse man ehrlicherweise so sagen.
    Borchard betonte: "Wenn es diese Einschätzung gibt (...), dann darf man die auch nicht verschweigen." Er habe nicht nur mit Merouane Missaoua, sondern auch mit vielen anderen Dolmetschern sowie mit Kollegen über das Thema gesprochen. Er sei selbst auf der Westbalkan-Route der Flüchtlinge unterwegs gewesen. "Und das deckt sich eben mit den Beobachtungen vieler Kolleginnen und Kollegen - Mitarbeiter der ARD in diesen Ländern -, dass es eben auch Menschen gibt, die sich anhängen an diesen Flüchtlingszug."
    Das sei nur ein Aspekt von vielen. Und der sei natürlich heikel in der aktuellen politischen Diskussion in Deutschland, räumte Borchard. Er habe damit gerechnet, dass diese Aussagen in seinem Beitrag auch kontroverse Reaktionen hervorrufen würden. Doch er sei der Ansicht, dass alle Aspekte des komplexen Flüchtlingsthemas beleuchtet werden müssten.
    Borchard berichtete des Weiteren von sehr vielen positiven Reaktionen auf die deutsche Flüchtlingspolitik. Es gebe aber auch viele Stimmen, die warnten, man dürfe nicht naiv sein. Man müsse hinschauen, wer da ins Land komme. Und auch die Bundesrepublik könne nicht endlos Flüchtlinge aufnehmen. Deutschland und die Europäische Union müssten wieder "zum Normalzustand" zurückkehren.
    Deutscher Zoll entdeckte Pakete mit syrischen Pässen
    In der vergangenen Woche hatten die deutschen Zollbehörden Pakete mit syrischen Pässen abgefangen. Darunter waren sowohl echte als auch gefälschte Papiere, wie eine Sprecherin des Bundesfinanzministeriums in Berlin bestätigte.
    Die EU-Grenzschutzbehörde Frontex hatte kürzlich gewarnt, dass es in der Türkei einen gut organisierten Fälschermarkt für syrische Pässe gebe.
    (mb/kis/bn)