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Flüchtlinge in der Türkei
Türken fordern Syrer zur Rückkehr auf

In der Silvesternacht haben syrische Flüchtlinge ausgelassen auf dem zentralen Taksim-Platz in Istanbul gefeiert. Vielen Türken war das zu viel. Sie fordern ihre Abschiebung und setzen Staatspräsident Erdoğan unter Druck.

Von Susanne Güsten | 05.01.2019
    Der Taksim-Platz in Istanbul - im Hintergrund ein Bild von Präsident Recep Tayyip Erdogan.
    Transparent von Staatspräsident Erdoğan auf dem Taksim-Platz (imago / IP3Press)
    Auf dem Taksim-Platz im Herzen von Istanbul begrüßen feiernde Menschen das neue Jahr. Der Taksim ist jedes Jahr das Zentrum der Neujahrsfeier in Istanbul - doch in diesem Jahr verlaufen die Feiern anders als sonst. Junge Männer aus Syrien singen auf Arabisch, schwenken eine Rebellenfahne und lassen ihr Heimatland hochleben.
    "Suria, Suria" – "Syrien, Syrien" - rufen die jungen Syrer und tanzen dazu im Kreis. Ein Videoclip von der Szene geht wie ein Lauffeuer durch die sozialen Medien der Türkei und wird in den ersten Stunden des Jahres viele tausende Mal geteilt - versehen mit dem Hashtag: "Ich will keine Syrer in meinem Land."
    "Bei uns heißt es: Vaterland oder Tod"
    Am Tag nach den Feiern sind die Polizeisperren am Taksim weggeräumt, die Müllabfuhr hat ihre Arbeit getan und der Alltag hat den Platz wieder. Für die Anlieger am Taksim ist die Angelegenheit aber nicht erledigt. Der Unmut schwelt weiter. Bei der Maklerin Selin in ihrem Büro am Taksim:
    "Wir wollen die Syrer hier nicht. Die sollen in ihr eigenes Land zurückgehen. Unsere Soldaten kämpfen dort und die amüsieren sich hier - sollen sie doch zurückgehen und selbst kämpfen."
    Oder bei Orhan, einem Heizungsmonteur in einem Geschäft am Taksim: "Wir Türken haben kein Verständnis dafür, wenn einer vor dem Krieg in seinem Land flieht. Bei uns heißt es: Vaterland oder Tod. Aber diese Leute sind abgehauen statt zu kämpfen. Und nun sind sie hier, liegen unserem Staat auf der Tasche und halten sich nicht einmal an die Gesetze. Die machen Geschäfte und zahlen keine Steuern, die holen sich jeden Monat unsere Steuergelder von der Bank und unser eigenes Volk bekommt nichts."
    Im Internet verbreitet sich die Meldung, ein Syrer solle in der Neujahrsnacht am Taksim zwei Frauen belästigt haben. Dieser Kommentar eines nationalistischen Kolumnisten zum Beispiel wird hunderttausende Male angeklickt und mit zehntausenden Herzchen geliked.
    "Ich sage zu den Syrern: Ihr habt kein Recht, hier eure Fahnen zu schwenken – macht das gefälligst in Syrien. Unsere Soldaten kämpfen in eurem Land, und ihr schlendert hier herum und pfeift unseren Mädchen nach. Das geht überhaupt nicht."
    "Die Syrer dienen in der türkischen Gesellschaft als Sündenbock"
    Gegenwind für diese Haltung gibt es im Netz natürlich auch, unter dem Hashtag: "Ich will keine Rassisten in meinem Land". Spöttisch weisen liberalere Türken darauf hin, dass gerade türkische Nationalisten ihre Fahnen gerne in Deutschland schwenken. Andere merken an, dass die Syrer die türkischen Soldaten ja nicht darum gebeten hätten, in ihr Land einzumarschieren. Doch statistisch sind solche Ansichten in der Minderheit, wie eine Studie der Istanbuler Bilgi-Universität kürzlich ergab. Demnach sind zwei von drei Türken davon überzeugt, dass die Syrer ihnen die Arbeitsplätze wegnehmen, dass sie kriminell sind und, dass sie die "moralischen Werte" der Türkei gefährden. Nur 13 Prozent sehen die Syrer als Bereicherung für ihr Land.
    Die Migrationsforscherin Doğuş Şimşek spricht im oppositionellen Sender Medyascope-TV von einem alltäglichen Rassismus:
    "Die Syrer dienen in der türkischen Gesellschaft als Sündenbock. Die steigenden Mieten werden ihnen angelastet und die fallenden Löhne, auch die Arbeitslosigkeit. Es wäre hier wichtig, dass die Politik größere Transparenz schafft und die Gesellschaft besser darüber aufklärt, welche Rechte und Pflichten die Syrer in der Türkei haben. Denn das Unwissen und die Fehlinformationen fachen den Rassismus an."
    Die Regierung hat ein anderes Rezept. Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan will die Syrer zurückschicken nach Syrien – so versprach er es seinen Wählern in der grenznahen Stadt Gaziantep schon kurz vor seiner Wiederwahl im Juni vergangenen Jahres:
    "Schritt für Schritt machen wir Syrien zu einem sicheren Land – damit ihr hier in Gaziantep wieder in Ruhe leben könnt und damit unsere syrischen Brüder in ihre Heimat zurückkehren können. Hunderttausende Syrer sind bereits zurückgekehrt. Wenn wir nach Afrin auch in Manbidsch aufgeräumt haben, dann werden noch viel mehr Syrer zurückkehren."
    Inzwischen stehen wieder Wahlen an in der Türkei – Kommunalwahlen im März. Mit einer Militärintervention in Manbidsch will Ankara noch vor der Wahl weitere Schutzzonen im Nachbarland schaffen, um syrische Flüchtlinge dorthin zu schicken und türkische Wähler zu besänftigen.
    Viele Syrer werden auch nach Kriegsende bleiben
    Experten sehen darin keine Lösung. Die wenigsten Syrer würden nach Syrien zurückkehren, selbst wenn der Krieg einmal vorbei ist, prophezeit das Zentrum für Migrationsstudien an der deutsch-türkischen Universität in Istanbul – sie sind schon so lange hier, dass vor allem die Jüngeren keine andere Heimat mehr kennen als die Türkei. Selbst das Präsidentenamt von Erdoğan rechnet deshalb damit, dass die Türkei in zehn Jahren eine syrische Minderheit von fünf Millionen Menschen haben wird, auf eine türkische Bevölkerung von 80 Millionen.
    Zumindest, wenn es beim Flüchtlingsabkommen zwischen der Türkei und Europa bleibt – denn gerne sind die Syrer nicht in der Türkei, sagt Migrationsforscherin Şimşek:
    "Was ich bei meinen Feldstudien mit syrischen Flüchtlingen festgestellt habe, als diese noch von der Türkei nach Europa konnten: Ein wichtiger Grund für ihre Flucht nach Europa war tatsächlich, dass sie dem Rassismus hier entfliehen wollten - der alltäglichen Diskriminierung in Schulen, bei Behörden und auf der Straße."