Die Schutzsuchenden, die in Griechenland festsäßen, seien die "Leidtragenden des Flüchtlingsdeals", die "Opfer einer zynischen Politik", sagte der Europa-Beauftragte von Pro Asyl, Karl Kopp, im DLF. Im Rahmen des Flüchtlingsdeals mit der Türkei habe man aus "offenen Lagern" über Nacht "Haftlager" gemacht. Die Leute könnten nicht vor und nicht zurück und hätten keine Klarheit, ob sie legal nach Westeuropa weiterreisen könnten. "Von daher ist das eine desaströse Situation", zumal die griechische Bevölkerung zunehmend feindlich reagiere.
Europa ist gespalten
"Es sind die falschen Maßnahmen ergriffen worden", kritisierte Kopp. Die EU-Kommission habe massiven Druck auf Griechenland ausgeübt - weil sie glaube, der Deal zwischen der EU und der Türkei müsse "laufen". Das Abkommen fuße aber auf der "irrigen Annahme, die Türkei sei ein sicheres Drittland". Und je deutlicher klar geworden sei, dass bei der Frage nach einer Gewährung von Asyl in Griechenland "immer mehr negative Entscheidungen rauskommen, nämlich, dass die zweite Instanz nicht dem Mantra der Europäischen Union folgt", desto stärker sei der Druck geworden. Dann sei auch noch die Balkanroute dicht gemacht worden. "Wir haben da zwei Politikansätze, die zeigen, dass Europa gespalten ist und dass es keine Gemeinsamkeit im Sinne von Flüchtlingsschutz und Menschenrecht und Menschenwürde gibt."
"An Erdogan zu delegieren, ist keine Lösung"
Es sei aber keine Lösung, die Flüchtlingspolitik der EU an den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan zu delegieren. Gebraucht werde ein gemeinsamer europäischer Ansatz. In Griechenland müsse mehr in menschenwürdige Unterkünfte für die Migranten investiert werden. Und dann brauche man zügige Verfahren der legalen Weiterreise. Angesichts der vielen Toten im Mittelmeer sei klar, so könne es nicht weitergehen. "Wir müssen also legale Wege eröffnen, das ist das Gebot der Stunde."
Das Interview in voller Länge:
Mario Dobovisek: Am Telefon begrüße ich Karl Kopp, er ist der Europabeauftragte der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl. Guten Abend, Herr Kopp!
Karl Kopp: Guten Abend!
"Sie sind die Opfer einer zynischen Politik"
Dobovisek: Noch immer sind rund 50.000 Flüchtlinge in den sogenannten Hotspots in Griechenland, weitere könnten es werden, sollte die Türkei tatsächlich das Flüchtlingsabkommen aufkündigen und die Grenzen wieder öffnen. Wie geht es den Flüchtlingen in Griechenland?
Kopp: Die Leute leben jetzt zum Teil unter elenden Bedingungen in offenen Lagern, aber sie sitzen fest, sie sind sozusagen die Leidtragenden des Flüchtlingsdeals. Sie sind die Opfer einer zynischen Politik.
Dobovisek: Welche Hilfe erhalten sie?
Kopp: Ja, über Nacht hat man sozusagen aus den offenen Lagern Haftlager gemacht – der Papst hat ja auch eins besucht in Moria. Und dann hat man irgendwie angefangen, bezogen auf syrische Flüchtlinge dieses Zulässigkeitsverfahren zu machen, wo man sagt, die Türkei ist sicher für Flüchtlinge – das sagt die Kommission heute immer noch, egal was an Menschenrechtsverletzungen in der Türkei passiert. Und da hat man dieses unfaire Verfahren begonnen in einer Situation, wo die Essensversorgung, die Sicherheit in diesen häufig völlig überfüllten Lagern nicht gewährleistet ist, wo Basisinformationen nicht gewährleistet waren, und in diesem Chaos sollten dann praktisch die schönen europäischen Zulässigkeitsverfahren stattfinden. Das ist natürlich gescheitert, und die Leute leben wirklich in einer Limbosituation, sie wissen nicht vor und zurück. Sie haben kein Asylverfahren, sie haben keine Klarheit, ob sie irgendwie legal weiterreisen können zu ihren Lieben in Westeuropa, in Zentraleuropa, und von daher ist es eine desaströse Situation. Und auf der anderen Seite reagiert natürlich auch die Bevölkerung zunehmend feindlich, auch Bürgermeister sagen, die Leute müssen weg, die können nicht auf Dauer auf den Inseln bleiben, die schädigen uns den Tourismus et cetera. Also die Spannungen steigen, und wie gesagt, die Leidtragenden sind vor allem Schutzsuchende.
"Noch ist Griechenland ein souveräner Staat"
Dobovisek: Das heißt heute, zu wenig Unterstützung käme für die Flüchtlinge aus der EU, zu wenig des versprochenen Personals – welchen Eindruck haben Sie davon?
Kopp: Es sind die falschen Maßnahmen ergriffen worden. Klar fließen Gelder nach Griechenland, und man stellt sich die Frage, was haben die Regierungen zum Teil vorher gemacht an Management, was ist an menschenwürdigen Unterbringungen gelaufen. Und jetzt wird halt zum Teil kritisiert, war zu wenig Frontex geschickt oder zu wenig anderes Personal in den Asylverfahren. Da muss man schon sagen, noch ist Griechenland ein souveräner Staat, auch wenn er unter die Knute genommen wird, auch von Brüssel, aber das heißt, in Griechenland müssen wir Strukturen schaffen, dass griechische Anhörerinnen und Anhörer und Richter und so weiter und Dolmetscher da sind. Das ist nicht ausreichend staatlicherseits gewährleistet.
"Wir haben da zwei Politikansätze, die zeigen, dass Europa gespalten ist"
Dobovisek: Aber auf der anderen Seite, Herr Kopp, hat sich ja Griechenland alleingelassen gefühlt und eben nach dieser internationalen Unterstützung gerufen und darum gebeten.
Kopp: Ja, das heißt aber nicht, dass man so einen Druck entfacht, wie es geschehen ist. Ich meine, Sie wissen, dass die Europäische Kommission, die Hüterin der Verträge, massiven Druck auf Griechenland ausgeübt hat, als man festgestellt hat, dass in der zweiten Instanz in Griechenland immer mehr negative Entscheidungen rauskommen, nämlich dass die zweite Instanz nicht dem Mantra der Europäischen Union folgt, die Türkei sei ein sicheres Drittland. Und dementsprechend war dann Druck: Ihr müsst das verändern, wir brauchen neue Komitees. Es gab also einen massiven Druck in dem Sinne, der Deal muss laufen, und der Deal fußt auf dieser irrigen Annahme, die Türkei sei ein sicheres Drittland. Und diesen Irrsinn vertritt die Europäische Kommission immer noch. Die anderen, die Konservativen, die Hardliner, die sagen, okay, was interessiert uns Erdogan, was interessiert uns Griechenland, wir machen einfach die Balkanroute dicht. Also wir haben da zwei Politikansätze, die zeigen, dass Europa gespalten ist und dass es keine Gemeinsamkeit im Sinne von Flüchtlingsschutz und Menschenrecht und Menschenwürde gibt. Das ist das Kernproblem. Der ganze Deal wird unter diesem Aspekt betrachtet: Wir müssen gucken, egal was in der Türkei passiert, für Flüchtlinge ist die Türkei sicher.
Dobovisek: Welche Alternative gäbe es denn zu dem Flüchtlingsabkommen, dem zynischen Experiment, so wie Sie es nennen, dass ja möglicherweise schon im Oktober zur Geschichte zählen könnte?
Kopp: Was ist die Alternative? Die Alternative ist das, was wir eigentlich immer gesagt haben, wir brauchen eine europäische Lösung – das klingt jetzt wohlfeil, weil Europa heillos zerstritten ist, ein Klub der Unwilligen, aber es gibt keine Alternative dazu, wir brauchen einen gemeinsamen Ansatz.
Dobovisek: Da beißt sich die Katze ja wiederum in den Schwanz, weil eine gemeinsame Lösung nicht absehbar ist, also brauchen wir den Weg zum Beispiel über Abkommen mit der Türkei.
Kopp: Das heißt doch nichts anderes – wir reden seit 1999 von einem gemeinsamen Asylrecht, und wenn dann Flüchtlinge kommen, nennen wir es dann Flüchtlingskrise, weil vorher waren die Krisen woanders und Europa konnte sich abdrehen und aussitzen. Und dann kommen sie, und dann sagt Europa, die Lösung ist, weil wir so uneinig sind, wir delegieren die ganze Geschichte an den Flüchtlingsbeauftragten Europas, an Erdogan. Das kann keine europäische Lösung sein. Das heißt, wir brauchen weiterhin einen gemeinsamen Ansatz – die Menschen in Griechenland, wir müssen mehr investieren in menschenwürdige Unterbringungen in Griechenland –, und dann brauchen wir zügige Verfahren der legalen Weiterreise aus Griechenland, die können nicht auf Dauer in Griechenland bleiben. Das ist klar, das ist allen klar, und das wäre eine europäische Lösung.
"Wir haben das tödlichste Jahr in der Geschichte der europäischen Flüchtlingspolitik"
Dobovisek: Eine europäische Lösung ohne die Türkei?
Kopp: Wir haben immer gesagt, ob es Türkei, Jordanien, Libanon und andere Drittstaaten, die die meisten Flüchtlinge aufnehmen, ihr müsst die Schutzsuchenden dort besserstellen. Wenn die Leute an der Armutsgrenze leben oder an der Hungergrenze, dann ist das kein Schutz. Ihr müsst dort was machen und müsst zeitgleich diesen Ländern ein Signal geben, wir sind bereit, organisiertes Resettlement, organisierte Aufnahme, unseren Anteil zu übernehmen. Das muss weiterhin laufen, das war auch vor dem Deal, den wir nie wollten, weil wir ihn menschenrechtlich kritisieren, notwendig, und auch das müssen wir weiterhin machen. Also man muss investieren in der Türkei, in Jordanien, im Libanon und anderswo, dass die Leute nicht kaputtgehen, die Schutzsuchenden, die dort aufgenommen wurden, und man muss auch legale und gefahrenfreie Wege eröffnen. Wir wissen, wir haben momentan das tödlichste Jahr in der Geschichte der europäischen Flüchtlingspolitik, in sieben Monaten über 3.000 Tote im Mittelmeer – so kann es nicht weitergehen. Wir müssen also legale Wege eröffnen, das ist das Gebot der Stunde, das ist schon lange das Gebot, und dafür werden wir weiterhin eintreten.
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