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Flüchtlinge und Ehrenamt
Drückt sich der Staat vor der Verantwortung?

Viele tausend Menschen helfen ehrenamtlich und freiwillig, damit Flüchtlinge in Deutschland integriert werden. Beruflich freigestellt werden nur wenige. Der rechtliche Anspruch darauf ist begrenzt, meist auf den Katastrophenschutz. Wir haben Politik und Wirtschaft gefragt: Gibt es genug Anreize für Arbeitgeber, Beschäftigte freizustellen? Ein Berliner Unternehmen macht vor, wie es gehen könnte.

Von Jörg-Christian Schillmöller | 09.02.2016
    Man sieht eine Halle mit Regalen voller Kleidung und Helfer, die Kleidungsstücke sortieren.
    Muss der Staat mehr tun, damit ehrenamtliche Helfer entlastet werden? (picture-alliance / dpa / Martin Schutt)
    Ideen entstehen in der Kneipe. Dana aus Köln saß mit vier Freunden zusammen, und alle wollten was tun für Flüchtlinge. Deutschunterricht, Ausflüge mit Kindern, Workshops, es gab viele Vorschläge. Nur: wie sollte man sie umsetzen - und vor allem: wann? Dana arbeitet in einer PR-Agentur. "Das ist kein Job von 8 bis 16 Uhr", sagt sie. "Ich arbeite eher von 9 Uhr bis open end".
    Das ist das Problem: Dana kann nicht regelmäßig weg. Einmal die Woche ein fester Termin für die Flüchtlingsarbeit? Utopie. Geht nicht. "Ich wäre froh, wenn ich jeden Mittwoch um 16 Uhr gehen dürfte", sagt sie. So wie Dana geht es vielen: Sie wollen helfen, sie wollen sich engagieren, aber sie können nicht raus aus dem Job. Und die Freizeit - bei Dana eher später am Abend oder am Wochenende - passt nicht so recht mit den Abläufen in den Flüchtlingsheimen zusammen.
    Werktags helfen, am besten tagsüber - kann man dafür vom Job freigestellt werden? Es gibt viele Möglichkeiten, aber keinen Anspruch - von einigen Ausnahmen abgesehen. Bei einem "öffentlichen Ehrenamt" haben Arbeitnehmer tatsächlich ein Recht auf Freistellung. Zum Beispiel, wenn sie beim Technischen Hilfswerk arbeiten oder bei der Freiwilligen Feuerwehr. Hier gibt es auch Möglichkeiten der Lohnfortzahlung oder Aufwandsentschädigungen. Hinzu kommen Tätigkeiten in der Jugendarbeit und als Prüfer bei der Industrie- und Handelskammer. Die IHK Darmstadt hat das anschaulich zusammengestellt.
    Eine ehrenamtliche Helferin verteilt am Frankfurter Bahnhof Essenspakete an Flüchtlinge.
    Gibt es genug Anreize für Arbeitgeber, ihre Mitarbeiter freizustellen? (imago/Ralph Peters)
    "Eine ähnliche Regelung wie beim THW"?
    Doch was ist mit der freiwilligen Flüchtlingsarbeit? Was ist mit den vielen ehrenamtlichen Helfern? Wäre es nicht sinnvoll, auch für sie eine rechtliche Grundlage zu schaffen? Oder zumindest mehr Anreize für Arbeitgeber, Mitarbeiter freizustellen? Auch das Deutsche Rote Kreuz brachte so etwas ins Gespräch. DRK-Präsident Rudolf Seiters stellte im Deutschlandfunk angesichts der Herausforderungen der Flüchtlingskrise die Frage, Zitat:
    "...ob es dann nicht notwendig ist, eine ähnliche Regelung für unsere Helfer zu finden, wie das beim THW und bei den Feuerwehren der Fall ist, die einen Anspruch haben auf Freistellung und auf Lohnfortzahlung."
    Seiters hat das an anderer Stelle in einem Zeitungsinterview noch deutlicher formuliert: "Bei solchen nationalen Großeinsätzen ist die großzügige Freistellung und die Gleichstellung mit der Feuerwehr unumgänglich."
    "Katastrophenschutz und Flüchtlingshilfe sind zwei Paar Schuhe"
    Was geht und was nicht? Lässt sich die Vereinbarkeit von Ehrenamt und Beruf fördern, ohne dass Arbeitgebern zu große Nachteile entstehen? Wir haben in der Politik nachgefragt, zum Beispiel bei Carsten Linnemann: Der promovierte Volkswirt ist Vorsitzender der Mittelstandsvereinigung von CDU/CSU. Er zieht in seiner Antwort an uns eine klare Trennlinie.
    Carsten Linnemann (CDU), Vorsitzender der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung der CDU/CSU, spricht in Köln beim Bundesparteitag der CDU
    Carsten Linnemann (CDU) sieht Katastrophenschutz und Flüchtlingshilfe als zwei verschiedene Dinge. (pa/dpa/Kappeler)
    "Katastrophenschutz und Flüchtlingshilfe sind zwei Paar Schuhe. Beim Katastrophenschutz handelt es sich um Fälle kurzfristiger und existenzieller Not. Da macht eine Freistellung und die damit verknüpfte Kompensation für die Betriebe absolut Sinn. Bei der Flüchtlingshilfe kann davon nicht die Rede sein. Da geht es um ehrenamtliche Helfer, die heute schon lange bis zur Belastungsgrenze arbeiten, weil die staatlichen Strukturen nicht im ausreichenden Maße vorhanden sind."
    Hier klingt ein Gedanke an, den auch andere Politiker in ihren Antworten aufgreifen: Das Ehrenamt an sich, so der Tenor, sei gar nicht der Königsweg. Denn damit werde etwas kompensiert, was staatliche Aufgabe sei. Ulla Jelpke von der Linksfraktion wird entsprechend deutlich:
    "Ehrenamtliches Engagement darf nicht die Aufgaben staatlicher Behörden und Einrichtungen ersetzen – wie es im Fall der Flüchtlingshilfe geschehen ist. Hier drückt sich der Staat momentan vor seiner Verantwortung, anstatt neue Stellen für entsprechend qualifiziertes Personal zu schaffen."
    Wann werden neue Stellen geschaffen?
    Ähnlich formuliert es Sabine Poschmann, SPD. Sie ist Beauftragte der Bundestagsfraktion für Mittelstand und Handwerk. Sabine Poschmann schreibt uns, sie sei der Meinung, "dass das Ehrenamt weder kurz-, noch mittel- oder langfristig dazu missbraucht werden darf, Lücken in der staatlichen Versorgung von Flüchtlingen zu stopfen. Die Versorgung und Integration von Asylbewerbern und Bürgerkriegsflüchtlingen ist und bleibt vorrangig eine staatliche Aufgabe, die auch staatlich zu organisieren und zu finanzieren ist."
    Man sieht die SPD-Politikerin Sabine Poschmann
    Die SPD-Politikerin Sabine Poschmann (picture-alliance / dpa / Tim Brakemeier)
    Und noch eine Stimme im gleichen Tenor - die der Grünen-Politikerin Kordula Schulz-Asche. Sie ist Sprecherin ihrer Fraktion für "Bürgerschaftliches Engagement". Sie schreibt uns: "Dieses Engagement kann und darf jedoch nicht dazu führen, dass Freiwillige auf Dauer Aufgaben übernehmen, die originär staatliche Aufgaben sind. Daher müssen die Verwaltungen in die Lage versetzt werden, ihre Aufgaben wahrzunehmen. Die Versorgung der Asylsuchenden muss professionalisiert und durch ausreichendes Personal sichergestellt werden."
    Das wäre das erste Ergebnis - und sicher Anlass für einen weiteren Artikel: Kommt der Staat seiner Verantwortung den Flüchtlingen gegenüber nach? Wann werden neue, professionelle Stellen geschaffen - und wie viele?
    Wir haben auch bei der Wirtschaft nachgefragt. Bei den großen Unternehmen - zum Beispiel bei Bayer - sind Freistellungen für Ehrenamtler leichter möglich und gehören zur CSR. Das Kürzel hören wir öfter am Telefon, es steht für "Corporate Social Responsibiliy", also unter anderem für die Bereitschaft einer Firma, sich sozial zu engagieren. Das geschieht von Seiten der Arbeitgeber freiwillig und in direkter Absprache mit den Arbeitnehmern.
    Ein Flickenteppich in Deutschland
    Wir fragen den Bundesverband Mittelständische Wirtschaft, kurz BVMW, der auch kleinere Unternehmen vertritt. Der BVMW stellt zunächst noch einmal klar, dass auch er es für "wenig zielführend" hält, die Flüchtlingsthematik über ehrenamtliche Helfer zu lösen. Der Verband, auch das eine wichtige Info, weist zudem darauf hin, dass die Regelungen für das Ehrenamt Ländersache seien - und das bedeute einen Flickenteppich in Deutschland und keine Aussicht auf eine bundeseinheitliche Lösung.
    Ebenso problematisch laut BVMW: Es gibt eine Reihe von verschiedenen Möglichkeiten der Freistellung: entgeltlich, unentgeltlich, mit Erstattung durch die öffentliche Hand bzw. ohne. Unklar sei auch, wer die Kosten trage, wenn das Ehrenamt eine Aus- bzw. Fortbildung erfordere. Der Bundesverband sagt es deutlich: Vereinzelte Freistellungen, zum Beispiel bei ehrenamtlichen Richtern, verursachen geringere Probleme. Aber:
    "Wenn allerdings Freistellungen regelmäßig erforderlich sind oder häufig, aber unregelmäßig stattfinden, wie z. B. bei kommunalen Wahlämtern, führt dies häufig zu erheblichen betrieblichen Problemen und Unstimmigkeiten. Regelmäßige Ausfälle von Mitarbeitern bedeuten einen kaum planbaren faktischen Teilzeiteinsatz im Betrieb. Dies stört erheblich die betrieblichen Abläufe, da es kaum möglich ist, personellen Ersatz zu organisieren."
    Man sieht eine große Halle mit Kartons voller Kleidung, an Tischen stehen Menschen und sortieren die Spenden.
    Ehrenamtliche Helfer sortieren Kleidung für Flüchtlinge - hier in Leipzig. (picture-alliance / dpa / Jan Woitas)
    Es gibt kaum Anreize für Arbeitgeber
    Wieder stellt sich die Frage des Anreizes: Ist es überhaupt attraktiv für Arbeitgeber, ihre Mitarbeiter freizustellen? Der Bundesverband vertritt eine klare Haltung: Es gebe kaum Anreize, heißt es in der der Mail an uns. Die Zurückhaltung hat handfeste Gründe:" Gerade, wenn man die Diskussion um das Teilzeit- und Befristungsgesetz, die Einführung einer regelmäßigen Teilzeit und den akuten Fachkräftemangel im Mittelstand berücksichtigt, dürfte es extrem schwierig werden, Arbeitgeber zu motivieren, ihre Beschäftigten von sich aus freizustellen."
    Einen Vorschlag hat der BVMW allerdings: "Gegebenenfalls könnte man eine Kostenausgleichsregelung auf Bundesebene etablieren." Das ändert aber nichts an der grundsätzlichen Skepsis des Mittelstandes: "Von einem Anspruch auf Freistellung ist abzuraten."
    Hier hat auch Dana aus Köln ihre Bedenken. "Bei einer gesetzlichen Regelung, da müsste ich schon schlucken. Dann lieber eine Bezuschussung für die Arbeitgeber, ein finanzieller Anreiz. Denn von alleine machen die Firmen nichts." Dana ist ein bisschen ernüchtert. Sie wird nicht freigestellt, und in ihrer Freizeit gibt es noch Hürden für das Engagement: Bei den Flüchtlingsheimen ist am Wochenende oft niemand da, und so bekam sie von den Hilfsorganisationen - den Trägern der Einrichtungen - auch schon zu hören: Wenn sie ein Projekt machen wollen, dann müssen sie sich einen eigenen Raum besorgen, die Flüchtlinge abholen und nachher wieder zurückbringen. Dana will mit ihren Freunden nun unter das Dach ihres Karnevalsvereins schlüpfen und dort eine Untergruppe gründen, damit zumindest versicherungstechnische Fragen geklärt sind. "Wir werden das nun wohl alleine aufziehen", sagt sie.
    Die Samonig AG aus Berlin macht es vor
    Es gibt durchaus kleinere Unternehmen in Deutschland, die für sich entschieden haben, dass das Engagement für Flüchtlinge zum Selbstbild als Betrieb gehört. In Berlin etwa hat die Samonig AG ihren Sitz, ein Unternehmen mit 20 Beschäftigten, das Immobilien saniert und weiterverkauft. Personalchefin Sabine Samonig nimmt sich Zeit am Telefon. Ihr Betrieb fährt eine Doppelstrategie: Auf der einen Seite hat die Firma zwei Flüchtlinge eingestellt. Auf der anderen Seite hat sie Mitarbeiter für Flüchtlingsprojekte freigestellt. Aber eben nicht aus einer gesetzlichen Verpflichtung heraus, sondern freiwillig und aus Überzeugung.
    "Wir machen das jetzt vor", sagt Sabine Samonig. Zwei ihrer Mitarbeiter haben an der London School of Economics Menschenrechte studiert. "Bei einem von ihnen piepste dauernd das Handy. Er bekam immer Botschaften von syrischen Flüchtlingen, weil er vor Jahren ein Praktikum gemacht hat in einem UNO-Camp." In der Firma kam die Idee auf, für die Branche herauszufinden: Wer sind die Menschen, die herkommen? Was bringen die für Fähigkeiten mit? Die Samonig AG machte ein Projekt daraus.
    "Grillpartys sind ja nett, aber Integration ist mehr"
    Die beiden Mitarbeiter wurden von ihrer normalen Tätigkeit freigestellt, blieben aber bei voller Bezahlung im Betrieb und begannen, ein Netzwerk aufzubauen. "Ja, in der Immobilienentwicklung fehlen die beiden uns, keine Frage", räumt Sabine Samonig ein. Die neue Aufgabe der Freigestellten wurde es nicht nur, Flüchtlinge zu betreuen, ihnen bei Wohnung und Jobsuche zu helfen. Sie zu coachen. Sondern eben auch, Flüchtlinge mit handwerklicher Ausbildung und ähnlichen Kenntnissen zu erfassen. Damit so etwas wie ein Pool entsteht.
    "Grillpartys sind ja nett", sagt Sabine Samonig. "Aber Integration ist eben mehr. Das läuft eben auch über Arbeit." Und dann sagt sie diesen Satz, der ein Appell sein kann für die deutschen Arbeitgeber: "Wir haben 3,6 Millionen Unternehmen in Deutschland. Die Hälfte sind Kleinstbetriebe, die lassen wir mal raus. Wenn die andere Hälfte, die kleinen und mittleren Betriebe, jeweils einen Flüchtling einstellten, dann hätten wir ein Problem weniger.
    Man sieht die Hände von Menschen, einen Teller Suppe und ein Stück Brot.
    Die Grünen-Politikerin Schulz-Asche warnt davor, das Engagement für Flüchtlinge zu bevorzugen gegenüber anderen Formen ehrenamtlicher Hilfe. (picture-alliance / dpa / Klaus-Dietmar Gabbert)
    Zurück zur Freistellung von Ehrenamtlern. Im Moment scheint der kleine Dienstweg die gängigste Lösung zu sein. Die Bedenken gegen eine gesetzliche Regelung sind groß und aus Arbeitgebersicht auch verständlich. Letztlich, schreibt uns die Grünen-Politikerin Schulz-Asche, darf das Engagement für Flüchtlinge nicht bevorzugt werden gegenüber anderen Formen des ehrenamtlichen Einsatzes, sei es im Sportverein oder in der Arbeit mit Menschen mit Behinderungen.
    "...da bitten wir die Länderinnenministerkonferenz zu prüfen, was geschehen kann"
    Dennoch: Wo der Staat aber sicherlich aktiv werden könnte: bei den Anreizen. Bei finanziellen Zuschüssen, bei möglichen Ausgleichszahlungen. Rudolf Seiters vom DRK sagte in unserem Programm: "Bei so exorbitanten – ich wiederhole dieses Wort – Herausforderungen über viele Monate, da bitten wir die Länderinnenministerkonferenz zu prüfen, was in dieser Frage geschehen kann."
    Ein realistisches Modell wäre also: Die Freistellung im Katastrophenfall ist Pflicht und wird ausgeglichen. Die Freistellung für die Flüchtlingshilfe geschieht freiwillig, aber sie geschieht - weil die Firma sie für wichtig und nachhaltig hält. Der Staat schafft dafür Anreize, damit das Engagement in gewisser Weise honoriert wird. Und der Staat schafft mehr reguläre Stellen für die Flüchtlingshilfe. Damit letztlich eben nicht die Versorgung von Schutzsuchenden ausschließlich von Ehrenamtlern übernommen werden muss.