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Flüchtlingscamps
Überlastung in Bosnien-Herzegowina

Ungarn und Österreich haben ihre Grenzen geschlossen - nun versuchen viele Migranten über Bosnien-Herzegowina nach Kroatien und von dort aus weiter in die EU zu gelangen. Das kleine ehemalige Bürgerkriegsland, eines der ärmsten in Europa, ist mit dieser Last völlig überfordert.

Von Sabine Adler | 10.12.2018
    Gary Capshaw an einem Tisch umringt von Menschen
    Wohncontainer des Flüchtlingslagers bei Sarajevo: Aktuelle sind 4.000 Flüchtlinge dort untergebracht (Deutschlandradio / Sabine Adler)
    In einer langen Schlange stehen Flüchtlinge vor dem Speisesaal. Ein Ordner in gelber Weste lässt immer ein Dutzend hinein, dann schließt sich die Tür. Weiterwarten. Es gießt in Strömen, kaum jemand besitzt einen Schirm, einige haben sich Decken umgehängt. Darunter Jacken, die für den Winter in Bosnien-Herzegowina zu dünn sein werden. Drei Pakistaner sprechen deswegen einen Mann in einem auffällig blauen Blouson an. Ein Mitarbeiter von der Internationalen Organisation für Migration, IOM.
    Sie fragen nach Decken, der IOM-Mann zeigt seine leeren Hände, er hat keine. weist aber in die Richtung, wo es welche gibt.
    Enes Kaljanac hat im Moment andere Sorgen. Jeden Tag sollen ein bis zwei Busse mit immer neuen Flüchtlingen aus Bihac hierher nach Ušivak in der Nähe von Sarajewo verlegt werden. Das alte Kasernengelände hat Platz für viele Wohncontainer, hier entsteht ein winterfestes Quartier anders als die Wohnheimruine in Bihac, wo hunderte Migranten den Sommer verbracht haben.
    Flüchtlinge spielen Karten an einem Tisch
    Flüchtlinge beim Kartenspiel im Flüchtlingszentrum Ušivak (Deutschlandradio / Sabine Adler)
    Der Nachteil dieses neuen Flüchtlingscamps ist aus Sicht eines 28-jährigen Algeriers, der sich Bob nennt, dass es viel weiter von der Grenze zu Kroatien entfernt liegt. Im Winter wollen er und seine beiden Begleiter längst in Frankreich sein.
    "Wir sind müde, wollen hier zwei Tage ausruhen, essen, schlafen und dann weiterziehen nach Bihac. Von dort über die kroatische Grenze. Wir versuchen es, wie in dem Film "Catch me if you can."
    Höchststand lag bei 18.000 Flüchtlingen
    Jakob Finci ist Chef der jüdischen Gemeinde von Bosnien-Herzegowina, hat im Krieg vor gut 20 Jahren 2.500 Menschen aus der belagerten Hauptstadt Sarajewo herausgebracht. Das waren damals meist ganze Familien, sagt er, nicht vor allem junge Männer wie heute.
    "Im Moment haben wir nur wenige Flüchtlinge. Der Höchststand lag bei 18.000 in diesem Jahr. Jetzt sind es - warum auch immer - nur noch 4.000. Vermutlich konnten sie mit Hilfe von Menschenschmugglern nach Kroatien und noch weiter kommen. Als 2015 Hunderttausende über die Balkanroute flohen, kursierte bei uns ein Witz: Was passiert, wenn sie alle nach Bosnien kommen? Nichts, wir schließen uns ihnen an, gehen mit nach Deutschland, das ist doch auch unser Ziel."
    Neben dem Speisesaal im sogenannten Kommunikationszentrum können Handys aufgeladen werden, gibt es Kaffee. Sämtliche Plätze sind belegt, um einen Tisch drängen sich auffällig viele Personen, dort wo Garry Capshaw Karten- und Brettspiele ausgibt. Auch Puzzle gehen gut, sagt der 69-jährige Amerikaner von der Aid Brigade.
    "Sie wärmen sich hier auf, sitzen mit ihren Freunden zusammen. Außerdem bieten wir Englischkurse an und vielleicht bald noch eine Sprache. Es geht darum, sie zu beschäftigen. Denn diese Warterei hier ist entsetzlich langweilig. Sie wollen etwas lernen, denn die meisten waren auf Grund von Kriegen schon viele Jahre nicht mehr in der Schule."
    Hilfe aus Texas
    Garry Capshaw, der auch in dem Raum seine schwarze Mütze aufbehält, trägt in einem Heft fein säuberlich ein, wer welches Spiel ausleiht. Der Kontakt mit den vielen jungen Menschen macht dem Texaner sichtlich Freude.
    "Ich bin Rentner. 2015 habe ich in den Nachrichten von den vielen Flüchtlingen in Europa gelesen, das traf mich mitten ins Herz. Deswegen bin jetzt schon das sechste Mal hier, in Bosnien ist es das erste Mal, aber in Griechenland war ich schon fünf Mal."
    Gary Capshaw an einem Tisch umringt von Menschen
    Gary Capshaw, Rentner aus Texas, engagiert sich im Flüchtlingslager (Deutschlandradio / Sabine Adler)
    "Das sind Menschen in Not, man muss ihnen helfen. Ich mache das von meinem Geld. Amerikaner würden dafür nicht spenden."
    Der grauhaarige unrasierte US-Aktivist fuhr sein Leben lang LKW. Wenn ihm ein Migrant seine Geschichte erzählen möchte, hat er dafür ein offenes Ohr. Aber er passt auf. Wenn sie gefährlich weit in die Vergangenheit reicht, kehrt er in die Gegenwart zurück, denn er möchte keine alten Wunden aufreißen, sei schließlich kein Psychologe, sagt er. Ihm breche es das Herz, all die Menschen zu sehen, die im Camp festsäßen, weder nach Europa, noch nach Hause zurückkönnten.
    "Die EU, kein Land kann die Grenzen öffnen und alle einlassen. Aber so wie es jetzt funktioniert, geht es auch nicht: Sie rauszuwerfen oder ohne Perspektive festzuhalten oder wie Kroatien es an der Grenze tut, die Flüchtlinge zu schlagen. Ich habe keine Idee, wie man die Prozedur gestalten sollte. Ich bin ein Rentner, der mal einen Truck gefahren hat, ich kann das Problem nicht lösen, aber als Christ muss ich das helfen, als ein Akt der Nächstenliebe."
    Essensausgaben werden steigen
    Es gebe 65 Millionen Flüchtlinge weltweit und damit jede Menge zu tun. Das Abendessen nebenan im Speisesaal ist vorüber, jetzt wird der Boden gewischt. Über 400 Portionen haben die Küchenhelfer im Flüchtlingszentrum in Ušivak bei Sarajewo heute ausgegeben.
    Menschen warten vor dem Gebäude des Flüchtlingslagers
    Essensausgabe des Flüchtlingslagers Ušivak bei Sarajewo (Deutschlandradio / Sabine Adler)
    In den kommenden Wochen werden es mehr sein, wenn die Provisorien in Bihac und Velika Kladusa geräumt sind. Unhaltbare Zustände waren das dort, sagt Marion Kraske von der Heinrich-Böll-Stiftung in Sarajewo.
    "Ich meine, da haben im Sommer mehr als 600 Leute in einer Ruine ohne Fenster, ohne Türen, ohne Dach geschlafen und dann kamen erst über das Rote Kreuz und IOM langsam eine Struktur da rein."