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Flüchtlingskinder in Griechenland
"Viele von ihnen haben ein Elternteil tot gesehen"

Sie kommen aus Kriegsgebieten, haben Bomben explodieren sehen und manchmal sogar ihre Familien verloren: 22.000 Kinder leben in Flüchtlingscamps in Griechenland. Sie werden oft nur mit dem Allernötigsten versorgt. Vor allem fehlt es an psychologischer Betreuung.

Von Michael Lehmann | 02.08.2017
    Das griechische Flüchtlingslager Idomeni am 19.3.2016. Tausende Interviews stecken hier fest.
    Flüchtlingskindern mangelt es wie hier in einem Flüchtlingslager griechischen Grenzdorf Idomeni nicht nur an Spielmöglichkeiten, sondern an psychologischer Betreuung. (AFP / Louisa Gouliamaki)
    Es sind etwa 22.000 Flüchtlingskinder, die in Griechenland so leben, wie Kinder eigentlich nicht leben sollten: In Lagern, in Camps, hinter Stacheldraht und sehr oft in Zelten, Hütten oder Containern. 2.300 dieser Flüchtlingskinder in Griechenland leben ganz ohne Eltern hier, so wie Nazir, ein 14-Jähriger aus Afghanistan.
    "Es ist für mich schwer, ganz alleine hier sein zu müssen. Ich denke oft daran, wie es war, als mir meine Mutter Essen gebracht hat. Ich konnte immer zu ihr gehen, sie hat mich getröstet."
    Kaum psychologische Betreuung
    Kinder, die ohne Eltern auf der Flucht sind, brauchen gute psychologische Betreuung. In Griechenland gibt es nur sehr wenige Spezialisten, die sich um die hohe Zahl unbegleiteter Kinder kümmern können. Und in Ruhe zuhören, wenn Kinder wie Nazir über ihre Gefühle reden.
    "Ich fürchte mich vor dem Krieg. Vor ein paar Tagen fand in Kabul schon wieder ein Selbstmordattentat statt. Jemand hat sich in die Luft gesprengt. Das macht mir Angst."
    Nazir hat Glück - um sein Leid und das Leid einiger anderer unbegleiteter Flüchtlingskinder kümmert sich die Psychologin Sanela Manjic.
    "Viele von ihnen haben einen Teil ihrer Eltern tot gesehen. Sie haben Kälte erlitten, sie waren auf engstem Raum mit anderen Menschen auf der Flucht. Sie haben ihre Sachen verloren im Meer. Sie sehen vor ihrem inneren Auge, daß eine Bombe eingeschlagen hat. Sie sehen die Körperteile um sich herum. Von so etwas berichten sie."
    Hohe Dunkelziffer von Missbrauchsfällen
    Dimitri Tzitzikou ist UNICEF-Präsidentin für Griechenland. Sie fordert, daß der Staat und private Organisationen eine flächendeckende psychosoziale Betreuung aufbauen. Laut einer Studie der Harvard-Universität erleiden minderjährige Flüchtlinge neben den alltäglichen Fluchtstrapazen auch häufig körperliche und sexuelle Gewalt auf der Flucht. Die Unicef-Präsidentin glaubt an eine hohe Dunkelziffer von betroffenen Kindern, will allerdings nicht spekulieren.
    "Das ist ein stilles Problem, wir können von uns aus nicht die wahren Dimensionen überblicken. Wir sind aber fest davon überzeugt, daß soundso viele Kinder mißbraucht werden. Damit meine ich nicht nur sexuellen Missbrauch. Es gibt viele andere Formen. Die Kinder sprechen das nicht offen aus. Und genauso wenig sprechen sie offen über die Menschen, die ihnen das angetan haben."
    Betreuung und Versorgung muss verbessert werden
    Dringend nötig wäre eine humanitäre Geste, eine Geste aller europäischer Länder, gerade für Familien und speziell Flüchlingskinder, die sich in Europa ausgegrenzt fühlen müssen, sagt die Unicef-Präsidenten, und so fordert es auch der Ombudsmann für Kinderrechte in Athen, George Moschos.
    "Es ist eine wichtige Aufgabe für den Staat, die Betreuung schnell zu verbessern. Besonders für die unbegleiteten Minderjährigen, aber auch für die, die mit ihren Familien in Camps leben. Die brauchen einfach regelmäßig Besuche durch Sozialdienste."
    Im Moment sorgen sich Betreuer in den Camps eher, daß es noch weniger Versorgung geben könnte, wenn einige Nichtregierungsorganisationen wegen umgelenkter Geldflüsse und auch ein stückweit aus Frust sich von ihrer Arbeit in den Flüchtlingslagern zurückziehen.
    "Ihnen die schlimmste Last von den Schultern nehmen"
    Europa muss hin- und nicht wegschauen, sagt Achilleas Tzemos. Er koordiniert für Ärzte ohne Grenzen auf der Insel Lesbos die Flüchtlingshilfe. Auf Lesbos harren immer noch rund 4.000 Flüchtlinge im momentan umstrittensten Lager Griechenlands aus.
    "Moria ist für sie das Ende einer sehr langen Reise. Auf der Flucht sind viele Gewalt, auch sexueller Gewalt ausgesetzt gewesen. Sie kommen also hier in sehr schlechtem Zustand an. Und leben dann hier zusammengepfercht in diesem Lager. Von uns bekommen sie dann die nötige medizinische Versorgung. Das muss schnell gehen, auch bei psychosozialer Betreuung, um ihnen die schlimmste Last von den Schultern zu nehmen".
    Das griechische Migrationsministeriums verspricht regelmäßig, daß sich der Staat um Verbesserungen bemühe. Ende Juli hat der verantwortliche Minister Mouzalas in Athen gemeinsam mit dem Flüchtlingshilfswerk UNHCR und EU-Vertretern ein millionenschweres Sonderprogramm angekündigt, mit dem mehr Familien ein festes Dach über dem Kopf bekommen sollen. Von zusätzlicher Betreuung für Flüchtlingskinder war dabei nicht die Rede. Allen Verantwortlichen in Griechenland müsse klar sein, sagt Ombudsmann Moschos, daß ein Großteil der momentan 62.000 in Camps und Lagern wartenden Flüchtlinge für lange Zeit in Griechenland bleiben werden.
    "Wir glauben daß etwa 10.000 in andere Länder weiterreisen dürfen - der Rest muss bleiben."