Donnerstag, 25. April 2024

Archiv

Flüchtlingskrise
EU-Sozialistenchef: Länder belohnen statt bestrafen

Der Chef der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament, Gianni Pittella, hat mehr Solidarität in der Flüchtlingskrise gefordert. Es bestehe die Gefahr, dass die EU zerfalle, sagte er im DLF. Sanktionen gegen "widerspenstige" EU-Mitglieder lehnte er aber ab, er denke eher an Belohnungen für engagierte Länder.

Gianni Pittella im Gespräch mit Christoph Heinemann | 22.01.2016
    Gianni Pittella, Chef der Sozialdemokraten im EU-Parlament
    Sc (picture alliance/dpa/Christophe Petit Tesson)
    Pittella sagte im Deutschlandfunk, einige osteuropäische Länder wie Ungarn oder Slowenien müssten sich von der Illusion verabschieden, dass sie das Problem durch Grenzschließungen oder den Bau von Mauern lösen könnten. Statt Sanktionen gegen "widerspenstige" EU-Mitglieder würde er Belohnungen für jene Länder präferieren, die sich in der Flüchtlingskrise engagierten. Denkbar sei, dass sie die Kosten von den Vorgaben des Stabilitätspaktes abziehen könnten. Gianni Pittella forderte zugleich die EU-Kommission auf, konkrete Vorschläge für die Zukunft Europas vorzulegen. Ansonsten drohe die Gefahr, dass die EU angesichts von Ängsten, Nationalismen und der Handlungsunfähigkeit scheitere.

    Das Interview mit Gianni Pittella in voller Länge:
    Christoph Heinemann: Wieso sind so wenige Länder der Europäischen Union bereit, Flüchtlinge aufzunehmen?
    Gianni Pittella: Weil ein Gefühl der Angst und der Abgeschlossenheit vorherrscht. Das ist genau das Gegenteil von dem, was benötigt würde. Die europäische Strategie ist klar: Aufnahme, Kontrolle der Außengrenzen, Identifizierung der Flüchtlinge und ihre Verlegung in alle europäischen Länder. Das ist eine intelligente Strategie, die dieses Phänomen der Flüchtlingsbewegung eindämmen könnte, das leider nicht in den nächsten Monaten, vielleicht nicht einmal in einigen Jahren enden wird.
    Heinemann: Sind im Augenblick alle zufrieden, dass sich Österreich und Deutschland mit diesem Problem beschäftigen?
    Pittella: Damit beschäftigen sich nicht nur Österreich und Deutschland. Zur Wahrheit gehört, dass einige etwas widerspenstige Länder sich von der illusorischen Idee verabschieden müssen, dass sie das Problem durch Grenzschließungen oder den Bau von Mauern lösen könnten. Sie müssen verstehen, dass ein großes Europa von 500 Millionen Einwohnern mehr als eine Millionen Flüchtlinge aufnehmen kann.
    "Die Menschen, die kommen, kommen nicht zum Spaß"
    Heinemann: Welche Länder mit illusorischen Ideen meinen Sie?
    Pittella: Einige osteuropäische Länder: Ungarn, Slowakei, Polen, Slowenien. Länder, die meinen, dass Allheilmittel bestehe darin, sich einzuigeln. Ohne zu verstehen, dass diese Menschen, die zu uns kommen, nicht zum Spaß kommen, sondern weil sie vor Krieg fliehen.
    Heinemann: Warum sind die sogenannten Hotspots, die Aufnahme-Zentren in den Ankunftsländern, noch nicht fertiggestellt?
    Pittella: Die werden aufgebaut, drei sind inzwischen fertig. Und weitere werden folgen. Ich unterstützte das.
    Heinemann: Warum diese Verspätung, die müssten längst funktionieren?
    Pittella: Einige funktionieren doch schon. In Italien mindestens schon zwei.
    Heinemann: Es müssten aber schon sechs sein ...
    Pittella: Wir sind jetzt bei fast dreien, wir schaffen auch noch sechs. Das Problem ist nicht der Aufbau der Hotspots, das wird klappen. Problematisch wird es, wenn die fertig sind, und die Flüchtlinge dann nicht in alle europäischen Länder verteilt werden. Wenn die Flüchtlinge nach Italien oder Griechenland kommen, und wir sie in die Lager einweisen, dann muss auch sichergestellt sein, dass sie in die anderen europäischen Länder gelangen. Sie können nicht in den Hotspots in Italien oder Griechenland bleiben.
    "Der Abbau der Personenkontrollen ist eine große humanitäre Errungenschaft in Europa"
    Heinemann: Sollten die Schengen-Regeln der Freizügigkeit in Europa aufgehoben werden?
    Pittella: Nein, auf keinen Fall. Der Abbau der Personenkontrollen ist eine große humanitäre Errungenschaft in Europa. In die Vergangenheit zurückzukehren hieße, eine der Säulen der europäischen Union in Frage zu stellen. Und wie Kommissionspräsident Juncker intelligent gesagt hat: wenn wir in die Zeit der Grenzen zurückkehren, wäre dies ein harter Schlag für den Binnenmarkt und die Wirtschaft. Dies führte zu enormen Kosten. Die Verspätung der Züge, der LKW, der Busse kostete etwa drei Milliarden Euro. Also Vorsicht mit einfachen Therapien und einfachen Schlagworten.
    Heinemann: Sollten den Ländern, die sich weigern, Flüchtlinge aufzunehmen, rechtliche oder finanzielle Sanktionen drohen?
    Pittella: Der Königsweg ist ein politisches Bewusstsein. Das wäre viel stärker als Sanktionen.
    Heinemann: Aber das funktioniert ja bisher nicht ...
    Pittella: Deshalb resigniere ich aber nicht. Ich habe die Ratspräsidenten Tusk und Rutte aufgefordert, dass sie eine Sitzung der Staats- und Regierungschefs einberufen, damit man auf einen gemeinsamen Weg zurückfindet, um dieses Problem anzupacken. Und zwar vor dem Frühjahr. Denn im Frühjahr werden wieder mehr Menschen kommen, und alles wird schwieriger, wenn man die Hindernisse jetzt nicht überwindet.
    "Wir haben uns nie gefragt, was es bedeutete, wenn wir Europa nicht hätten"
    Heinemann: In Deutschland fragen sich Menschen: wieso sollen wir weiter für diese Europäische Union zahlen, die uns im Stich lässt. Was antworten Sie?
    Pittella: Ich antworte mit einer Gegenfrage: Wieviel kostete es, wenn es Europa nicht gäbe? Das haben wir uns nie gefragt. Was bedeutete es, wenn wir Europa nicht hätten? Was bedeutet es, ohne Krieg leben zu können. Mit einem funktionierenden Binnenmarkt, ohne Zollabgaben. Ohne Grenzen, mit freiem Warenaustausch und Personen-Freizügigkeit. Das ist ein hoher Wert. Sollte man das nicht bedenken? Sollte man stattdessen an die Kosten einer Tasse Kaffee pro Tag denken, denn dieser Betrag entspricht dem Beitrag der Bürger zum Europäischen Haushalt. Das wird nie erwähnt.
    "Die Kosten für Flüchtlinge sollten von den Haushaltsvorgaben des Stabilitätspaktes abgezogen werden können"
    Heinemann: Wenn sich einige Länder weiterhin im Stich gelassen fühlen, sind Sanktionen als ultima ratio dann nicht notwendig?
    Pittella: Ich denke eher an Belohnungsmechanismen. Die Länder, die dazu beitragen, die Flüchtlingskrise anzupacken, sollten die Kosten von den Vorgaben des Stabilitätspaktes abziehen können. Ich denke außerdem an einen großen europäischen Sicherheitsplan, mit dem die Sicherheitsvorkehrungen der Länder und die Kontrolle der Außengrenzen gestärkt werden könnte. Für Schul- und Erziehungsprogramme, für Integration, Maßnahmen gegen Radikalisierung, für Arbeitsplätze. Das wäre ein positiver Ansatz, den ich einem negativen, auf Sanktionen beruhenden vorziehe.
    "Es besteht die Gefahr, dass das europäische Projekt in einer Welle von Ängsten und Nationalismen untergeht"
    Heinemann: Besteht die Gefahr, dass die Europäische Union zerfällt?
    Pittella: Ja. Es besteht die Gefahr, dass das europäische Projekt in einer Welle von Ängsten, Nationalismen, Egoismen und der Handlungsunfähigkeit untergeht und endet. Deshalb habe ich Kommissionspräsident Juncker aufgefordert, seine ganze Autorität einzusetzen, und konkrete Vorschläge auf den Tisch zu legen. Vorschläge, die nicht nur die Einwanderung betreffen, sondern auch die wirtschaftliche Krise, Wachstum, Arbeitsplätze und die soziale Frage in Europa. Die ist für uns wesentlich. Wir wollen die Schwachen, die, denen es schlecht geht, stärken. Auch das kann Europa retten. Europa muss von den Bürgern geliebt werden.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.