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Flüchtlingslage im Nordirak
"Eine übergroße Solidarität"

Im Nordirak sind immer noch zwei Millionen Menschen auf der Flucht. Für sie sei die Nachricht von der Einnahme Kobanes ein wichtiges Signal, sagte Rupert Neudeck von der Hilfsorganisation Grünhelme im DLF. Etwa die Hälfte der Flüchtlinge sei privat untergebracht, es herrsche eine große Solidarität. Eine Mehrheit denke bereits an eine Rückkehr in die Heimat.

Rupert Neudeck im Gespräch mit Friedbert Meurer |
    Rupert Neudeck, Gründer der Hilfsorganisation "Grünhelme"
    Rupert Neudeck, Gründer der Hilfsorganisation "Grünhelme" (dpa / picture-alliance / Britta Pedersen)
    Friedbert Meurer: Die irakischen Kurden melden die Einnahme der Stadt Kobane im Norden Syriens. Vor Monaten haben uns die Bilder und Videos aufgeschreckt. Zigtausende Menschen flohen ja gerade aus dieser Stadt Kobane vor den Terrormilizen des Islamischen Staats. In keiner anderen Region der Welt gibt es im Moment so viele Flüchtlinge wie in Syrien und im Irak. Allein zwei Millionen suchen im Norden des Irak, in Kurdistan nach Hilfe und Schutz. Auch die Hilfsorganisation Grünhelme kümmert sich um diese Flüchtlinge. Ihr Vorsitzender heißt Rupert Neudeck. Guten Morgen, Herr Neudeck!
    Rupert Neudeck: Guten Morgen, Herr Meurer!
    Meurer: Sie waren gerade im Irak. Diese Nachricht jetzt, die wir gestern bekommen haben von der Einnahme Kobanes, helfen diese militärischen Erfolge der Kurden den Flüchtlingen?
    Neudeck: Die helfen ihnen ganz gewaltig, aber nicht wegen der militärisch-strategischen Bedeutung, die das vielleicht haben mag für die Besiegung und Bekämpfung der ISIS im Nordirak und in Syrien, sondern weil für die Hoffnung, die die Menschen brauchen, die Hoffnung, dass sie vielleicht doch einmal zurückkommen, ist das eine gewaltig große Nachricht, weil es zum ersten Mal signalisiert, dass etwas zurückgeht, dass die ISIS zurückgedrängt wird durch die Peschmerga von Barzani im Nordirak. Das ist die wichtigste Nachricht für die Flüchtlinge, die man sich überhaupt vorstellen kann.
    Meurer: Die Kurden, die kurdischen Kämpfer werden ja auch von den Deutschen, von uns Deutschen unterstützt durch Waffenlieferungen. Sie haben schon sehr früh gesagt, dass Sie das begrüßen. Bleiben Sie dabei?
    Neudeck: Unbedingt! Ich glaube, nachdem ich einen Peschmerga getroffen habe und mit ihm gesprochen habe: Der hat uns erklärt - und das ist in ganz Kurdistan bekannt geworden -, dass die ersten deutschen Waffen dafür gesorgt haben, dass jetzt das Gebirge um Sindschar, von dem die meisten Flüchtlinge, wahrscheinlich über eine Million Flüchtlinge nach Kurdistan gekommen sind, dass dieses Gebiet jetzt wieder mehr in den Händen der Peschmerga von Kurdistan ist als in den Händen der ISIS. Ich begrüße das. Ich kann überhaupt nicht anders, als das gut zu finden.
    "Jesiden fühlen sich doppelt verfolgt"
    Meurer: In Kurdistan im Irak, also in einem dieser drei Teile des Irak, leben etwa gut fünf Millionen Menschen - zwei Millionen Flüchtlinge jetzt. Werden diese Flüchtlinge jetzt zum Teil wieder zurückgehen in ihre Heimat, wenn die Peschmerga erfolgreich sind?
    Neudeck: Nach dem, was die Flüchtlinge uns erzählen, sind die Mehrzahl dieser Menschen oder zumindest die Hälfte dieser Menschen unbedingt dabei, wieder an die Rückkehr in ihre Heimatgebiete im Irak zu denken. Der große Vorteil dieser Flüchtlingsbewegung, wenn ich das mal so platt sagen darf, ist, dass es fast alles Kurden sind. Wir haben auch Araber, aber das ist hier eine Minderzahl. Das heißt, die fühlen sich in dem nordirakischen Kurdistan, in der ersten kleinen Heimstätte, in der Kurden auch eine Selbstverwaltung organisieren, sie fühlen sich da auch in ihrer Heimat. Und deshalb ist es wahrscheinlich so, dass ein Teil von denen, zumal auch die religiösen, die Jesiden zum Beispiel, die würden, glaube ich, gerne ein Angebot der Regierung in Erbil annehmen, wenn es dazu käme - und es kann dazu kommen in der nächsten Zeit -, dass man in Kurdistan eine Ansiedlung dieser Menschen im eigenen Lande vorsieht, weil die Agrarwirtschaft in Kurdistan ist so heruntergekommen durch die Zerstörung von Saddam Hussein von über 300 Dörfern, dass man das sehr gut gebrauchen könnte.
    Meurer: Und den Jesiden ist es zuhause zu gefährlich, auch jetzt noch.
    Neudeck: Ja, ganz sicher ist das so. Die fühlen sich noch doppelt verfolgt. Sie sind eigentlich die Verfolgten innerhalb der Verfolgten. Die Kurden sind schon verfolgt und als Nation auch immer wieder betrogen worden. Die Jesiden fühlen sich auch innerhalb der kurdischen Volksgemeinschaft noch als eine Gruppe, die weder zum Christentum, noch zum Islam zugerechnet wird, und deshalb sind sie eine besonders schwierige Gruppe.
    Meurer: Die Zahl von zwei Millionen Flüchtlingen, Herr Neudeck, eine unvorstellbar hohe Zahl. Sie waren in den Flüchtlings-Containern. Was haben Sie da beobachtet?
    Neudeck: Es gibt zwei große Gruppen. Es gibt einmal die Hälfte dieser zwei Millionen, die sind in riesengroßen, feldstabsmäßig organisierten Lagern untergebracht. Es gibt eine andere Hälfte - das ist vielleicht die noch überraschendere Zahl. Etwa eine Million sind im Lande untergekommen, in kleinen Flüchtlingslagern, die privat organisiert sind, die mit an Dörfer angebunden sind, sogar in kleinen Dörfern, wo nur die Hälfte der Häuser von Kurden Kurdistans bewohnt werden, werden die aufgenommen. Ich habe eine Solidarität von Menschen zueinander erlebt, die ich in anderen Flüchtlings-Agglomerationen bisher in meinem Leben nicht erlebt habe.
    "Kurden sind ein verspätetes Volk"
    Meurer: Wieso ist das so? Ist ja eine gute Nachricht.
    Neudeck: Es ist eine unglaublich gute Nachricht, weil die brauchen wir auch, denn wir leben in einer Welt mit 50 Millionen Flüchtlingen, die in der Regel in den Gebieten, in die sie hineingeflohen sind, nicht willkommen sind. Also wir haben hier eine Situation, dass Menschen erst mal aufgenommen werden aufgrund ihrer nationalen Zugehörigkeit. Die Kurden fühlen sich als ein Volk. Sie haben es bewiesen durch die letzten Jahrzehnte. Nach dem Versailler Friedensvertrag wurde ihnen ein Staat versprochen, sie sind betrogen worden, sie sind meistens betrogen worden. Sie sind ein verspätetes Volk, wie wir Deutschen auch, und ich glaube, das hat die Folge, dass jetzt eine übergroße Solidarität da stattfindet.
    Meurer: Was tun Sie mit Ihrer Hilfsorganisation Grünhelme in Kurdistan?
    Neudeck: Wir versuchen, in den kleineren Flüchtlingslagern die Toiletten und sanitären Einrichtungen herzustellen, die Zelte - in den letzten Wochen war das ein Kampf gegen die Zeit - winterfest zu machen, weil der Winter war zum Beispiel vor einer Woche ausgebrochen bis hin zu Schnee und Temperaturen von minus null. Ich habe zu meiner Freude erlebt, dass die meisten dieser Lager jetzt wirklich winterfeste Zelte haben, in denen sogar kleine Kerosinöfchen für Wärme sorgen können, sodass wir in diesem Winter ganz sicher, das würde ich als Prognose wagen, keine Bilder von erfrierenden kurdischen Kindern aus Flüchtlingslagern in Kurdistan bekommen werden.
    Meurer: In Kurdistan im Nordirak haben sich zwei Millionen Flüchtlinge mittlerweile eingefunden, die allermeisten Kurden, und für sie sind die Nachrichten, etwa dass die Stadt Kobane befreit worden ist, eine gute Nachricht. Rupert Neudeck, Vorsitzender der Hilfsorganisation Grünhelme, danke schön für den Besuch im Studio.
    Neudeck: Danke auch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.