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Flüchtlingslager in Griechenland
"Teil des EU-Türkei-Deals ist es, Leute erst mal festzusetzen"

In den überfüllten griechischen Flüchtlingslagern warteten noch Tausende Menschen, 40 Prozent davon Kleinkinder, sagte die Grünen-Europaabgeordnete Barbara Lochbihler im Dlf. Dem Migrationsminister sei bedeutet worden, die Lager aufrechtzuerhalten. Dabei seien dort Personen, die zu ihren Familien nach Deutschland oder andere EU-Länder dürften.

Barbara Lochbihler im Gespräch mit Christiane Kaess | 10.11.2017
    Die Grünen-Europaabgeordnete Barbara Lochbihler
    Die Grünen-Europaabgeordnete Barbara Lochbihler (AFP / John Thys)
    Christiane Kaess: Seitdem nicht mehr so viele Flüchtlinge nach Deutschland und nach Europa kommen, bekommen auch diejenigen nicht mehr viel Aufmerksamkeit, um die es immer noch geht. Vor allem in Griechenland hängen viele Schutzsuchende fest, weil ein europäischer Verteilungsmechanismus nach wie vor nicht funktioniert, aber auch, weil der Familiennachzug ausgesetzt ist oder nicht so durchgeführt wird, wie geplant.
    Ein Beispiel: Seit Tagen protestieren rund 100, überwiegend syrische Flüchtlinge in Athen. Sie wollen nach Deutschland zu Angehörigen ausreisen. Die Bewilligung des Bundesinnenministeriums dazu haben manche seit Monaten in der Tasche; ausreisen dürfen sie dennoch nicht.
    Unterdessen ist die Situation vieler Flüchtlinge in den Lagern auf den griechischen Inseln weiterhin katastrophal. Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen, die sprach zuletzt von einem psychosozialen Notstand. Immer öfter behandeln die Ärzte Patienten nach Selbstmordversuchen, Selbstverletzungen oder psychotischen Episoden. Der Grund: Gewalt und Vernachlässigung in den Camps.
    Barbara Lochbihler von den Grünen ist Vizepräsidentin des Menschenrechtsausschusses im Europaparlament und sie ist im Moment in Griechenland, um sich über die Lage der Flüchtlinge ein Bild zu machen. Guten Morgen, Frau Lochbihler.
    Barbara Lochbihler: Guten Morgen.
    "Schmutzig, gefährlich, kalt"
    Kaess: Was können Sie uns sagen über die Zustände der Flüchtlinge in Griechenland?
    Lochbihler: Insbesondere auf den Inseln hier, auf der Insel Lesbos in dem Lager Moria, ist es sehr extrem und sehr besorgniserregend. Die Zahl der Flüchtlinge, die neu ankommen, ist gestiegen, im Oktober über 2000. Im Juli waren es im Monat noch 1000. Der Winter steht an und wir wissen, dass schon letztes Jahr sechs Personen gestorben sind aufgrund der Winterkälte. Es liegt kein guter Plan vor von griechischer Seite, was sie da tun wollen. Ich habe gestern mit einer Ärztin gesprochen. In diesen Lagern sind 40 Prozent der Menschen unter fünf Jahre alt, also Kinder, die extrem auch unter der Kälte leiden werden. Die Lager sind, wie Sie schon gesagt haben, vollkommen überfüllt. 5800 Personen in Moria, das für 2000 angelegt ist. 1500 leben in Sommerzelten, schmutzig, gefährlich. Der Zustand kann so nicht weitergehen. Wir debattieren darüber die nächste Woche im Parlament. Die EU hat Griechenland Geld gegeben, das zu verbessern, und es gilt hier auch nachzufragen, was sie konkret und sofort tun werden.
    "Weigerung, Flüchtlinge außerhalb des Lagers unterzubringen"
    Kaess: Das ist genau meine Frage, Frau Lochbihler. Wir berichten ja seit Monaten über diese schlechten Zustände in den Lagern. Warum tut sich da nichts?
    Lochbihler: Ich denke, es gibt eine Weigerung, die Flüchtlinge außerhalb des Lagers unterzubringen, auch auf dem griechischen Festland, und dies muss eigentlich gewährleistet werden.
    Kaess: Von den griechischen Behörden?
    Lochbihler: Von den griechischen Behörden. Und ich vermute, auch wenn das öffentlich nicht gesagt wird, dass die EU das auch nicht gerne möchte, weil das ist auch Teil eigentlich dieses EU-Türkei-Deals, dass man die Leute, die durch die Türkei nach Griechenland kommen, erst mal auf den griechischen Inseln festsetzt.
    "Ich frage konkret nach"
    Kaess: Das ist ja ein ziemlich harter Vorwurf, Frau Lochbihler, an die EU. Wie können Sie das belegen?
    Lochbihler: Nun, ich frage nach. Wir haben ja nächste Woche eine Debatte dazu. Ich frage konkret nach, ob sie angeraten haben, dass man die Leute auch aufs Festland verlegt und nicht nur einen Notfallplan macht, oder wird angeregt, über die Europäische Asylbehörde zum Beispiel, dass die Menschen in feste Behausungen kommen über den Winter. Ja, das kann ich nachfragen.
    "Nur 70 Personen im Monat bearbeiten"
    Kaess: Aber bisher ist das eine Vermutung, dass das eventuell auch so gewollt sein könnte. Stellen Sie auch eine Überforderung der griechischen Behörden fest?
    Lochbihler: Der griechische Migrationsminister hat vor einigen Jahren ja deutlich gesagt, dass er dieses System auch nicht gut findet. Ihm ist aber auch bedeutet worden, dass man genau diese Lager aufrecht erhalten will. Zum Beispiel es ist ja so, dass es Personen gibt in den Lagern, aber auch außerhalb, die berechtigt sind, zu ihren Familien zum Beispiel nach Deutschland oder in andere EU-Länder zu kommen. Da hat er dann gesagt, er wird das so verlangsamen, dass er im Monat nur 70 Personen bearbeitet. Er verschleppt auch diese Sachen und ich denke, es wird ihm auch ja gesagt, er soll das so machen. Wir haben in Deutschland die Entscheidung, ja auch den Familiennachzug für Menschen mit subsidiärem Schutz – das sind meist Syrer – auszusetzen und zu verlangsamen.
    "Durchschnitt der Wartezeit ist 18 Monate"
    Kaess: Genau das, was Sie gerade angesprochen haben, dieser Vorwurf steht im Raum, es soll angeblich eine Vereinbarung zwischen Athen und Berlin geben, den Familiennachzug zu verlangsamen. Das soll aus einem Brief des griechischen Migrationsministers, den Sie gerade angeführt haben, an den deutschen Innenminister belegt werden. Das hat die Bundesregierung aber zurückgewiesen. Ist dieser Vorwurf damit nicht erledigt?
    Lochbihler: Nun, ich werde den fragen. Ich sehe den heute nachmittag. Aber es ist ja nach wie vor so.
    Kaess: Den griechischen Migrationsminister? Von dem sprechen Sie jetzt?
    Lochbihler: Von dem griechischen Minister, ja. Er hat gesagt, er kann das jetzt steigern bis auf 300 Personen im Monat. Sie müssen sich das so vorstellen: Es ist so, dass nach diesem Dublin-III-Verfahren circa 4500 Menschen das Recht haben, zu ihrer Kernfamilie nach Deutschland zu kommen. Davon sind auch wieder 3000 Kinder. Da hat auf deutscher Seite ein Verwaltungsgericht im September entschieden, dass das BAMF diese Fälle innerhalb von sechs Monaten bearbeiten muss von deutscher Seite aus, und die Griechen entsprechend auch. Der Durchschnitt, sagen mir hier die Flüchtlingsorganisationen, von Wartezeit ist 18 Monate. Und das erklärt auch unter anderem, neben dem bevorstehenden Winter den Druck, den die Menschen in diesen Lagern haben, weil sie denken, es wird nicht abgewickelt und vielleicht, wenn diese sechs Monate verstreichen, verfällt ihr Anspruch wieder und sie werden dann in die Türkei zurückgeschickt.
    "Wenn die deutsche Seite das nicht möchte..."
    Kaess: Frau Lochbihler, da möchte ich noch mal kurz einwerfen, genau was Sie gesagt haben. Da gibt es heute noch mal eine Nachricht dazu in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu diesem Vorwurf an die Bundesregierung beziehungsweise in dem Fall an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Da würde man den Familiennachzug nicht schnell genug regeln. Es gibt eine Reaktion von der Bundesregierung beziehungsweise vom BAMF darauf. Da heißt es, das Kontingent liegt bei 70 Personen im Monat, und Kranke, zum Beispiel suizidale Personen, werden bevorzugt. Das war das, was die Frankfurter Allgemeine Zeitung heute berichtet hat. Das ist der Vorwurf. Und das Bundesinnenministerium hat widersprochen und sagt, es gibt keine mengenmäßige Begrenzung, sondern Verfahrensabsprachen zur besseren Planbarkeit. Macht eine bessere Planbarkeit nicht auch beim Familiennachzug Sinn?
    Lochbihler: Planbarkeit und Ordnung ist immer gut. Nur man muss sich dann auch mal vorstellen, was das für die einzelnen Problempersonen heißt. Wenn die griechische Seite jetzt ankündigt, der Minister, dass er bis zu 300 im Monat abfertigen kann, dann ist auch das planbar und geordnet. Aber wenn die deutsche Seite das nicht möchte und gar nicht darauf drängt, dann ist das schwierig.
    Wir haben ja auch in der politischen Debatte jetzt die Debatte zu dem Familiennachzug. Dieses Aussetzen für Menschen mit subsidiärem Schutz, das ist ja begrenzt für März 2018. Da sagt jetzt schon die CSU, sie möchten, dass das noch weiter verlängert wird.
    "Wir wollen eigentlich über legale Wege Schutz gewähren"
    Kaess: Aber, Frau Lochbihler, Sie wissen ja selber, wie sehr dieses Thema Familiennachzug politisch – das haben Sie gerade selber gesagt – als auch gesellschaftlich auf Widerstand stößt. Ist es denn klug von Ihrer Partei, von den Grünen, in den Sondierungsgesprächen da so stark dran festzuhalten?
    Lochbihler: Sowohl von Regierungsseite wie auch innerhalb der deutschen Bevölkerung wird doch gesagt, dass man legale Wege braucht, damit Flüchtlinge bei uns Schutz finden. Das ist fast der einzige legale Weg für die zum Beispiel jetzt 3000 Kinder sind davon in Griechenland betroffen, zu ihrer Kernfamilie, zu ihren Eltern zu kommen. Das ist die einzige legale Möglichkeit für die Flüchtlinge, hier herzukommen. Und wir wollen ja eigentlich, Regierung wie auch mehrheitlich die Bevölkerung, dass über die legalen Wege Schutz gewährt wird.
    Kaess: Frau Lochbihler, wir müssen einen Punkt machen an der Stelle, denn wir laufen auf den Programmtipp und die Nachrichten zu. – Barbara Lochbihler war das von den Grünen, Vizepräsidentin des Menschenrechtsausschusses im Europaparlament. Wir haben sie in Griechenland erreicht. Danke für das Gespräch heute Morgen.
    Lochbihler: Ich danke Ihnen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.