Donnerstag, 18. April 2024

Archiv

Flüchtlingspolitik
"Berlin ist immer hinterher"

In Berlin würden schöne Worte geschwungen, aber man fühle sich finanziell nicht zuständig, kritisierte der Landrat von Deggendorf, Christian Bernreiter (CSU), im Deutschlandfunk. Die 500 Millionen Euro vom Bund seien zu wenig. Bernreiter hofft, dass der Asylgipfel einen Durchbruch bringt.

Christian Bernreiter im Gespräch mit Mario Dobovisek | 11.08.2015
    Der Deggendorfer Landrat Christian Bernreiter (CSU).
    Der Deggendorfer Landrat Christian Bernreiter (CSU). (picture alliance / dpa / Sven Hoppe)
    Mario Dobovisek: Flüchtlinge in Zelten mit Feldbetten auf der Eisbahn, die Erstaufnahmeeinrichtung im niederbayerischen Deggendorf. Die Stadt ist nicht weit von der Grenze entfernt. Im Osten befindet sich Tschechien, im Süden Österreich. Viele Flüchtlinge kommen hier über die Grenze. Im Schnitt sind es 200 jeden Tag.
    - Am Telefon begrüße ich den Landrat von Deggendorf und gleichzeitig Präsident des bayerischen Landkreistages, Christian Bernreiter. Schönen guten Morgen, Herr Bernreiter.
    Christian Bernreiter: Guten Morgen.
    Dobovisek: Wie viele Flüchtlinge sind in Deggendorf derzeit untergebracht in der Erstaufnahmeeinrichtung?
    Bernreiter: In der Erstaufnahmeeinrichtung selbst dürften heute Nacht in etwa 600 Personen anwesend gewesen sein. Sie haben im Vorbericht das Eisstadion erwähnt. Das Eisstadion ist seit Ende Juli geräumt. Hier wird das Eis gemacht für die neue Eishockeyliga. Wir haben eine Dependance in Metten in der Klosterturnhalle eingerichtet und das zusammengezählt dürften heute Nacht etwa 600 Menschen bei uns übernachtet haben.
    Dobovisek: Wie sind die Menschen dort untergebracht?
    Bernreiter: Wir haben in der Erstaufnahmeeinrichtung selbst Platz für 500 Menschen. Für die war es ausgelegt. Derzeit ist die Erstaufnahmeeinrichtung für 2300 Menschen zuständig. Das muss man sich mal vorstellen. In der Turnhalle stehen natürlich Betten, die das Rote Kreuz besorgt hat und die auch vorher in der Eishalle waren. Das ist Standard.
    Dobovisek: Der Bayerische Flüchtlingsrat hält das Aufstellen von Zelten und auch der Feldbetten zum Beispiel auf der Eisbahn oder auch in der Turnhalle für eine Inszenierung. Was wollen Sie damit zeigen, Herr Bernreiter?
    Bernreiter: Ich glaube, dass Herr Thal sich nur einmal so geäußert hat. Und als man ihn mit den harten Fakten, nämlich mit den Zahlen konfrontiert hat, habe ich das nicht mehr gehört und nicht mehr gelesen, weil wir gar keine andere Möglichkeit haben. Ich würde es jedem mal wünschen, sich auf die Suche zu machen nach Notunterkünften. Das ist keine vergnügungssteuerpflichtige Aufgabe.
    Dobovisek: Aber eine wichtige!
    Bernreiter: Eine wichtige! Wir machen das, aber wir sind am Limit. Das muss ich ganz klar sagen.
    Dobovisek: Eine recht lange Unterbringungszeit kritisieren auch viele an diesen Erstaufnahmeeinrichtungen. Wie lange bleiben die Menschen im Schnitt in Deggendorf?
    Bernreiter: 500 bis 600 Flüchtlinge pro Tag im Landkreis Deggendorf
    Bernreiter: Man muss hier unterscheiden. Es kommen ja bei uns täglich bis zu 500/600 Menschen an. Heute Nacht innerhalb 24 Stunden sind 444 Menschen gekommen. Da bleibt ein Teil in Niederbayern, etwa pro Tag 40 Menschen. Die müssen dann hier bei uns das Verfahren auch abwarten. Alle anderen werden auf andere Erstaufnahmeeinrichtungen in ganz Deutschland verteilt, so wie es das System entsprechend im Computer auswirft.
    Dobovisek: Jetzt haben wir gehört, dass es eine neue Asyl-Bearbeitungsstraße der Bundespolizei gibt. Ist das ein geschickter Begriff für das, was da passiert?
    Bernreiter: Das ist ein technischer Begriff. Diese Abarbeitung, also praktisch die Identifizierung, das Nehmen der Fingerabdrücke, die ganzen Dinge, das hat ja in Passau stattgefunden. Von katastrophalen Zuständen wird hier berichtet. Die sogenannte X-Point-Halle musste geräumt werden. Darum hatte die Bundespolizei ja gar keine andere Möglichkeit, hier einen Verwaltungsablauf aufzubauen. Und in Deggendorf ist nun mal die Einrichtung der Bundespolizei. Darum hat man diesen Standort gewählt.
    Dobovisek: Abarbeitung sagen Sie. Bearbeitungsstraße sagt die Bundespolizei. Wir sprechen aber immer noch über Menschen, oder?
    Bernreiter: Das ist klar. Deswegen muss aber der verwaltungstechnische Aufwand auch entsprechend geregelt werden.
    Dobovisek: Das alles kostet Geld, auch die Erstaufnahmeeinrichtung. Einer - wir sprechen ja über die Bundespolizei - ist der Bund, die eigentliche Registrierung der Flüchtlinge. Dann die Unterbringung, das ist sozusagen Ihre Sache in den Kommunen und auch in den Ländern. Woher kommt das Geld für Sie?
    Bernreiter: Bei uns in Bayern sind wir da Gott sei Dank gut gestellt, weil der Freistaat Bayern seinen Kommunen nahezu 100 Prozent erstattet. Die Erstaufnahmeeinrichtung ist eine Landesaufgabe, eine reine Aufgabe. Hier sind wir nur mit unserem staatlichen Personal involviert. Kostenmäßig ist der Landkreis hier nicht beteiligt.
    Dobovisek: Was wäre Ihre Botschaft an den Bundesinnenminister, wenn er heute nach Deggendorf kommt?
    Bernreiter: Ich bin sehr froh, dass er sich das vor Ort ansieht. Im fernen Berlin hört sich das alles ganz anders an. Und auch ein Blick auf die Zahlen zeigt, dass wir natürlich vor Ort überproportional belastet sind. Nur eine Zahl: In Niederbayern, 1,1 Millionen Einwohner, sind derzeit in etwa 11.000 Flüchtlinge untergebracht, für die Niederbayern zuständig ist mit den unbegleiteten Minderjährigen. Schleswig-Holstein mit 2,8 Millionen Einwohnern hat 6000, nur mal um das im Vergleich darzustellen, von was wir hier reden. Darum ist es wichtig, dass sich Bundespolitiker hier zu uns auf den Weg machen und die Situation vor Ort kennenlernen.
    Dobovisek: Nun haben Sie ja ausdrücklich Ihre Parteikollegen der CSU in München der Landesregierung gelobt für ihre Unterstützung für die Arbeit bei Ihnen vor Ort. Ist das auch ein Lob, das Sie in Richtung Berlin schicken wollen?
    Bernreiter: Berlin ist immer ganz weit weg von den Dingen
    Bernreiter: Das kann ich nach Berlin überhaupt nicht schicken, weil Berlin ist, meine ich, immer ganz weit weg von den Dingen und immer hinterher. Ich kann nur erinnern an die Diskussionen Anfang des Jahres. Im Frühjahr, Februar/März, als wir schon auf die Problematik hingewiesen haben und die Zahlen auch nach oben korrigieren wollten, hatte man lange in Berlin festgehalten an der Zahl 300.000 Flüchtlinge im Jahr 2015. Jetzt hat man sie korrigiert auf 450.000 und vermutlich wird das nicht reichen. So hängt man mit auch mit der Bearbeitung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge der Asylanträge hinterher. Genauso ist das Thema: In Berlin werden schöne Worte geschwungen, aber man fühlt sich finanziell nicht für zuständig.
    Dobovisek: Aber man hat auch Hunderte neue Mitarbeiter eingestellt im Bundesamt für Migration.
    Bernreiter: Aber es sind 240.000 Anträge auf Halde. Man hat sich zum Beispiel im April oder Mai gerühmt, man hat 30.000 abgearbeitet. Und 40.000 Anträge wurden gestellt, also der Berg wurde höher. Man hinkt hier hinterher und man beteiligt sich auch finanziell nur mit den 500 Millionen pro Jahr. Das ist eigentlich eine Hausnummer, die nicht mehr zu halten ist. Und ich hoffe, dass der Asylgipfel hier jetzt endlich einen Durchbruch schafft.
    Dobovisek: Jeder, der politisch, religiös oder aus sonstigen Gründen in seinem Land verfolgt wird, muss bei uns Aufnahme finden, haben Sie im Dezember 2013 gesagt, Herr Bernreiter. Sie behaupteten dann auch, dass mindestens 90 Prozent, wenn nicht sogar 99 Prozent keinen solchen Grund nachweisen könnten. Würden Sie also die meisten der Flüchtlinge in Deggendorf am liebsten wieder nachhause schicken, ausweisen?
    Bernreiter: Nein! Man muss das ganz klar trennen. Mit meiner Aussage habe ich nach wie vor Recht. Wenn Sie den Bericht des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge ansehen, dann haben nach dem im Grundgesetz verankerten Asylrecht 1,8 Prozent eine Anerkennung gefunden. Ein Drittel insgesamt hat ein Bleiberecht, weil es ein Abschiebehindernis gibt, aber zwei Drittel haben überhaupt keinen solchen Grund. Im letzten Jahr sind 202.000 Menschen gekommen, 140.000 hätten also zurückgeführt werden müssen. Die reine Zahl waren 10.800. Und das überfordert uns. Darum kann das so nicht bleiben.
    Dobovisek: Was bedeutet das?
    Bernreiter: Wir müssen schnell zu Ergebnissen kommen und müssen die Menschen, die nicht bei uns bleiben können, auch zurückschicken. Und irgendwann muss auch die Frage erlaubt sein: Wir müssen ein Konzept haben, wie viele Menschen will Deutschland überhaupt aufnehmen. Sogar Herr Gysi hat jetzt am Wochenende im Sommerinterview erkannt, dass er auch weiß, dass nicht alle zu uns nach Deutschland kommen können.
    Dobovisek: Aber es ist ja unstrittig, dass wir Einwanderer brauchen, auch gut qualifizierte Einwanderer, die wir dann auch entsprechend integrieren und auch arbeitstechnisch nutzen müssen.
    Bernreiter: Das ist klar und es braucht mich, glaube ich, auch niemand belehren. Ich habe gerade in Ihrem Sender auch mein Bulgarien-Projekt vorgestellt, das ich als einer der ersten vor vier, fünf Jahren ins Leben gerufen hatte in ganz Deutschland. Das ist mir klar, dass wir qualifizierte Fachkräfte brauchen, die wir auch aus dem Ausland brauchen. Aber jeder, der dann eine Ausbildung hat - das ist ja dann Fakt und die Praxis -, der wird sowieso nicht abgewiesen. Der darf mit Sicherheit auch hier bleiben. Ich kenne keinen Fall, wenn jemand eine feste Arbeitsstelle hat, dass der dann zurückgeführt werden musste.
    Dobovisek: Christian Bernreiter, Landrat des Kreises Deggendorf und Präsident des bayerischen Landkreistages, über die steigende Zahl von Flüchtlingen. Ich danke Ihnen für das Interview.
    Bernreiter: Gern geschehen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.