Donnerstag, 18. April 2024

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Flüchtlingspolitik der EU
"Motto: Aus dem Auge, aus dem Sinn"

Der EU-Flüchtlingsdeal mit der Türkei stehe in der Tradition der europäischen Flüchtlingspolitik, sagte der Migrationsforscher Jochen Oltmer im Deutschlandfunk. Von jeher sei es der Staatengemeinschaft darum gegangen, Flüchtlinge von den europäische Grenzen fernzuhalten.

Jochen Oltmer im Gespräch mit Christine Heuer | 18.03.2017
    Jochen Oltmer, Professor am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien an der Universität Osnabrück.
    Jochen Oltmer, Professor am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien an der Universität Osnabrück. (picture alliance / dpa / Soeren Stache)
    Christine Heuer: Angela Merkel, so behaupten es ihre Kritiker seit über einem Jahr unverdrossen, habe im September 2015 die deutschen Grenzen für Flüchtlinge geöffnet. Das stimmt so nicht, aber der Vorwurf hat die Kanzlerin in ihre größte politische Krise gestürzt, von der sie sich vielleicht auch nicht mehr erholen wird. Angela Merkel war es dann auch, die das Abkommen der EU mit der Türkei im Wesentlichen auf den Weg brachte, um die Lage zu entspannen. Seit einem Jahr ist der Vertrag heute in Kraft, nach dem die Türkei Flüchtlinge nicht mehr weiter nach Griechenland reisen lässt. Tatsächlich kommen seitdem und seit der Schließung der Balkan-Route deutlich weniger Flüchtlinge nach Europa. Aktuelle Zahlen dazu gab es in den vergangenen Tagen und fast täglich droht die Türkei damit, dieses Abkommen zu beenden.
    Am Telefon begrüße ich den Migrationsforscher Jochen Oltmer von der Uni Osnabrück, Autor unter anderem des gerade eben veröffentlichten Buches "Migration. Geschichte und Zukunft der Gegenwart". Guten Tag, Herr Oltmer!
    Jochen Oltmer: Hallo, guten Tag, Frau Heuer!
    Heuer: Das EU-Türkei-Abkommen wird ein Jahr alt. Welche Bilanz ziehen Sie denn, ist das ein gutes Abkommen oder ist es doch eher ein schmutziger Deal?
    Oltmer: Na ja, das hängt natürlich am Ende von der Position ab, von den Zielen, die in diesem Zusammenhang entwickelt werden. Also, was mir, denke ich, in diesem Zusammenhang schon mal wichtig ist, ist der Hinweis darauf, dass wir hier von einem Deal beziehungsweise von einem Pakt sprechen, nicht von einem Vertrag sprechen. Das heißt, wir wissen bis heute nicht, was eigentlich Gegenstand dieses Vertrages ist. Wir wissen, dass es damals vor einem Jahr eine Pressekonferenz gegeben hat, dass einige zentrale Elemente dieses Deals verkündet worden sind. Aber wie gesagt: Was ganz konkret vereinbart worden ist, das wissen wir nicht. Und ich finde es doch schon bemerkenswert, dass die EU beziehungsweise Einzelstaaten der EU und die Türkei letztlich hinter dem Berg halten im Blick auf die Ziele und im Blick auf die einzelnen Regelungen innerhalb dieses Pakts.
    EU-Strategie der Externalisierung
    Heuer: Herr Oltmer, jetzt habe ich den Vertrag oder den Pakt oder das Abkommen auch nicht wörtlich vorliegen, aber ich habe das immer so verstanden, dass die Türkei Flüchtlinge aus Europa weghält und die Europäer geben dafür Geld, für die Versorgung dieser Flüchtlinge in der Türkei, und sie versprechen Visa-Freiheit für Türken. Ist ja eigentlich eine klare Verabredung?
    Oltmer: Ja, ist eine klare Verabredung, wobei ja in diesem Zusammenhang dann diverse Elemente noch nicht umgesetzt sind. Also, beispielsweise diese Frage der Visa-Freiheit ist nicht umgesetzt. Aber ich denke, wichtig ist in diesem Zusammenhang natürlich, sich vor Augen zu halten, welche Konsequenzen dieser Vertrag ganz explizit hat. Erstens, auch im Beitrag schon deutlich geworden, wir wissen, dieser Vertrag, dieser Pakt hängt zusammen ganz explizit mit dem Schließen der sogenannten Balkan-Route, und das beides passiert ja tatsächlich vor einem Jahr mehr oder minder innerhalb eines relativ engen Zeitraums von wenigen Tagen beziehungsweise wenigen Wochen. Also, da, um diesen Dreh herum, März, April 2016, da werden tatsächlich Wege nach Europa in die EU, auch in die Bundesrepublik Deutschland zugemacht. Wir wissen gleichzeitig ja auch, dass sich im Blick auf die globale Situation von Flüchtlingen, auch im Blick auf die Situation der Flüchtlinge in Syrien oder aus Syrien nichts geändert hat. Das heißt also, wir haben es hier explizit mit einer EU-Strategie der Externalisierung zu tun, es geht darum, dass möglichst wenig oder möglichst keine Schutzsuchenden Europa, die EU erreichen. Und diese Externalisierung bedeutet gleichzeitig auch, dass wir es hier mit einer Strategie, so würde ich argumentieren, zu tun haben, die da zusammengefasst werden kann mit dem Motto: Aus dem Auge, aus dem Sinn. Wir haben tatsächlich heute kaum mehr Berichterstattung etwa über die Situation von syrischen Flüchtlingen in der Türkei, im Libanon, in Jordanien oder in Syrien selbst. Das heißt also, tatsächlich sehen wir, Externalisierung ist nicht nur in gewisser Weise Weghalten von Schutzsuchenden, sondern es ist auch eine Strategie – ein Stück weit scheint es ja zu funktionieren –, dieses Thema einfach schlichtweg auch aus der Diskussion in Europa zu holen.
    "Wissen wenig über Situation der Schutzsuchenden in der Türkei"
    Heuer: Darüber möchte ich gleich mit Ihnen noch sprechen, aber eine Frage noch zu dem Türkei-EU-Abkommen: Sie haben ja auch dargestellt, es funktioniert, es kommen weniger Flüchtlinge, Sie sagen, das Thema verschwindet auch ein bisschen aus der gesellschaftlichen Öffentlichkeit, aus der gesellschaftlichen öffentlichen Wahrnehmung. Was ist denn, wenn der Türkei-Deal platzt? Denn damit droht Ankara ja immerzu.
    Oltmer: Genau. Wir wissen, dass die Drohungen vorliegen, die Drohungen gibt es ja schon seit Langem, dieses ganze Abkommen war von Beginn an umstritten, das wissen wir sehr genau, also, über ein Jahr lang wird schon darüber gesprochen. Und ja gut, niemand kann in die Zukunft schauen, es ist klar, wie gesagt, dieser Deal funktioniert deshalb, weil eben auch gleichzeitig die Balkan-Route zugemacht worden ist. Das heißt also, es steht zu erwarten, dass es ein Mehr an Bewegung gibt, wenn tatsächlich dieser Deal aufgekündigt wird, aber das bedeutet noch bei Weitem nicht, dass tatsächlich mehr Menschen in die Europäische Union beziehungsweise nach Kerneuropa kommen. Und man muss sich eben auch vor Augen halten: Wir wissen relativ wenig über die Situation von Schutzsuchenden in der Türkei, wir wissen allerdings, dass tatsächlich ein sehr großer Teil derjenigen, die tatsächlich in der Lage waren, sich überhaupt in Richtung auf Europa zu bewegen, weil sie beispielsweise die entsprechenden Geldmittel hatten, bis Anfang 2016 in die EU gekommen sind. Das heißt also, es kann sehr gut sein, dass es gar nicht so sehr viel Bewegung gibt, weil einfach schlichtweg die Menschen, diese vielen Millionen Menschen, die die Türkei aufgenommen hat an Schutzsuchenden, gar nicht in der Lage sind, sich zu bewegen, weil ihnen einfach schlichtweg die Voraussetzung – Geld, ein entsprechender Status und so weiter und so fort – fehlt.
    Früher "Mobilitätspartnerschaften", jetzt Flüchtlingsabkommen
    Heuer: Sie haben das Muster, nach dem das alles abläuft, Externalisierung jetzt gerade genannt bei uns im Gespräch. Flüchtlinge und Migranten sollen von Europa ferngehalten werden, jedenfalls von Kerneuropa, ist auch ein interessanter Punkt. Aber ist das nicht im Grunde ein zynisches Kalkül?
    Oltmer: Ja, aber kein neues Kalkül. Tatsächlich sehen wir seit Anfang der 1990er-Jahre genau diese Strategie. Wenn wir uns erinnern an die sehr heftigen Debatten über die Änderung des Asylgrundrechts 1992/1993, dann sehen wir, dass in diesem Kontext tatsächlich eben diese Strategie der Externalisierung schon angelegt war. Seit Anfang der 1990er-Jahre haben Staaten der Europäischen Union, die Europäische Union versucht, mithilfe von Mobilitätspartnerschaften, jetzt neuerdings Migrationspartnerschaften, mit Abkommen mit diversen Staaten, jenseits der Grenzen Europas eben einen Beitrag dazu zu leisten, dass ganz konkret möglichst wenige Schutzsuchende europäische Grenzen erreichen können und von daher auch nur wenige Menschen Asyl beantragen konnten. Und zwischenzeitlich, insbesondere 2015, Anfang 2016 ließ sich dieses System nicht mehr umsetzen. Aber jetzt seit vielen Monaten sehen wir auf ganz unterschiedlichen Ebenen, dass es wieder darum geht, ganz explizit dieses System zu reetablieren, egal ob wir uns dieses Abkommen mit der Türkei anschauen oder die Schließung der Balkan-Route oder den Besuch der Bundeskanzlerin in Ägypten, in Tunesien vor wenigen Tagen.
    Heuer: Ja, genau. Also, da soll ja sozusagen dieses Muster Schule machen, in den nordafrikanischen Staaten. Gleichzeitig macht die EU den USA schwerste Vorwürfe wegen Donald Trumps Abschottungspolitik. Sitzen wir im Glashaus und sollten vielleicht weniger fleißig mit Steinen werfen?
    Oltmer: Also, ich denke schon, dass wir im Glashaus sitzen in diesem Zusammenhang. Das, was die Europäische Union in diesem Kontext aufgebaut hat, ist zwar keine Mauer, keine Mauer aus Zement, aber es ist eine Mauer aus Verträgen und ist eine Mauer, die im Mittelmeer verläuft. Also, von daher, so erheblich sind in diesem Kontext die Unterschiede nicht.
    Großer Teil der Menschen bleibt in ihrer Region
    Heuer: Kann es sein, Herr Oltmer, dass wir im Moment ohnehin nur die Spitze des Eisbergs erleben? Wir erleben Flüchtlinge, die vor Krieg und Armut fliehen und vor Terror, wir könnten aber im Zuge des Klimawandels ja tatsächlich richtige Völkerwanderungen hier erwarten. Also, beginnen wir erst mit dem Thema und werden das nicht mehr in den Griff bekommen? Wie ist da Ihre Einschätzung?
    Oltmer: Na ja, also, ich denke, wir haben eine heftige Diskussion im vergangenen Monat in diesem Zusammenhang erlebt, die Diskussion hat jetzt deutlich an Fahrt abgenommen, nachgelassen. Was die Perspektive für die Zukunft angeht, ich wäre da ein bisschen vorsichtiger. Wir müssen uns im Klaren darüber sein, dieses Phänomen, Flucht, Fliehen vor Gewalt ist ja wahrlich überhaupt nichts Neues, hat es immer gegeben, in den vergangenen Jahrzehnten waren die Zahlen der Menschen, die unterwegs waren, immer ähnlich hoch. Also, keineswegs in diesem Zusammenhang Neuigkeiten. Und was die Perspektive des Ausweichens vor Katastrophen, vor Umweltkatastrophen und so weiter und so fort angeht, ist klar, dass solche Phänomene zunehmen, wir sehen aber allerdings auch gleichzeitig, dass ein sehr, sehr großer Teil der Menschen, die vor solchen Katastrophen ausweichen, in der Region bleiben. Sie bleiben in der Region auch deshalb, weil sie im Kontext eben solcher Umweltkatastrophen, solcher Folgen des Klimawandels sehr viel verloren haben und von daher gar nicht in der Lage sind, sich zu bewegen über große Distanzen. Also, von daher würde ich vorsichtig sein mit solchen Perspektiven, über Völkerwanderung über große Distanzen zu sprechen. Aber natürlich haben wir damit neue globale Probleme, neue globale Probleme, die vor Ort, wo auch immer, in Afrika, in Lateinamerika, in Asien beispielsweise angegangen werden. Und da, denke ich, ist Europa auch durchaus gefordert, ganz explizit seinen Beitrag zu leisten.
    Heuer: Der Migrationsforscher Jochen Oltmer von der Uni Osnabrück, ich danke Ihnen für das Interview, Herr Oltmer!
    Oltmer: Vielen Dank!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.