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Flüchtlingspolitik
"Es kann nur eine europäische Lösung geben"

Während die Union heftig über die künftige Asylpolitik streitet, wirbt die SPD-Europapolitikerin Birgit Sippel weiter für eine gemeinsame europäische Flüchtlingspolitik. Es nutze nichts, kurzfristige Lösungen mit einzelnen Ländern zu vereinbaren, sagte sie im Dlf. Es brauche eine Reform der Dublin-Regeln.

Birgit Sippel im Gespräch mit Tobias Armbrüster | 14.06.2018
    Seenotrettung von Bootsflüchtlingen vor der libyschen Küste Zivile Seenotrettung von Bootsflüchtlingen im Mittelmeer vor Libyen - an Bord des Seenotkreuzers Minden der Organisation LIFEBOAT: Havariertes Flüchtlingsboot . Sein Boden ist ausgebrochen, viele Afrikaner trieben im Wasser, mindestens 2 Menschen sind ertrunken. Im Hintergrund zu sehen: Von der Minden ausgebrachte Rettungsinsel. Mittelmeer, vor libyscher Küste, Internationale Gewässer, 20.10.2016.
    "Die geografische Lage eines Landes darf nicht dazu führen, dass wir uns unsolidarisch verhalten und sagen "'da habt ihr jetzt Pech gehabt'," sagte Birgit Sippel (SPD) im Dlf. (imago / JOKER /Alexander Stein)
    Tobias Armbrüster: Angela Merkel und Horst Seehofer, die beiden liegen in diesen Tagen ganz offensichtlich im Clinch. Es geht um die Asylpolitik und um die Frage, ob und in welchem Fall Deutschland Flüchtlinge an der Grenze zurückweisen kann. Aber es geht neben diesen Details auch ums ganz Grundsätzliche: Wer verliert hier sein Gesicht? Wer von beiden kann seine Position halten? Wer muss nachgeben? – Der Streit, der da tobt, der ist so schwer, dass er inzwischen natürlich die komplette Unions-Fraktion mit sich gerissen hat, dass heute deswegen sogar die Bundestagssitzung dafür unterbrochen werden musste – wegen Beratungsbedarf bei CDU und CSU.
    Schwerer Streit in der Unions-Fraktion – ich habe darüber kurz vor der Sendung mit der SPD-Europapolitikerin Birgit Sippel gesprochen. Sie ist Mitglied im Europaparlament und dort Sprecherin ihrer Fraktion im Innenausschuss. Ich habe sie zunächst gefragt: Wenn sich CDU und CSU jetzt so streiten, ist das ein Grund für die SPD, sich zu freuen?
    Birgit Sippel: Ich denke, wir können uns nicht freuen, weil dieser Streit auf dem Rücken von Menschen ausgetragen wird, von denen viele Hilfe brauchen. Von daher ist das ein sehr ärgerlicher Streit und ich glaube auch, dass die beiden Unions-Parteien anstatt sich miteinander zu streiten, sich lieber europäisch dafür einsetzen sollten, dass es eine gemeinsame Regelung gibt. Denn nationale Lösungen werden auf Dauer auf gar keinen Fall funktionieren.
    Armbrüster: Genau so etwas hören wir jetzt als möglichen Kompromiss, dass Deutschland möglicherweise Verträge mit einzelnen EU-Mitgliedsländern über die Rücknahme von Flüchtlingen schließen könnte. Wäre das die Zukunft der deutschen Asylpolitik?
    Sippel: Nein. Wir reden ja bei dem, was offenbar da diskutiert wird, nicht von einer wirklichen europäischen Lösung, sondern von bilateralen Verträgen. Aber wir erleben ja, dass, wenn die Verzweiflung der Menschen groß genug ist, sie sich unterschiedliche Wege suchen. Es nutzt also nichts, ein Abkommen mit einzelnen Ländern zu machen.
    Heute Morgen hat Herr Laschet auch schon davon gesprochen, dass womöglich ankommende Flüchtlinge in anderen Ländern gar nicht mehr registriert werden, wenn das dazu führt, dass wir überhaupt keinen mehr aufnehmen. Sondern was wir brauchen, ist der Einsatz auch der Bundesregierung im Europäischen Rat dafür, dass wir endlich eine Dublin-Reform bekommen. Das heißt: Wenn wir schon erwarten, dass die Staaten an der Außengrenze alle ankommenden Menschen registrieren, dann muss es danach aber möglich sein, dass die Verantwortung solidarisch geteilt wird, das heißt Menschen auch verteilt werden auf alle Mitgliedsstaaten und dort die Asylverfahren durchgeführt werden. Nur so kann eine Lösung tatsächlich nachhaltig funktionieren.
    "Es kann nur gemeinsam funktionieren"
    Armbrüster: Aber wenn so eine Lösung jetzt mehrere Jahre lang nicht funktioniert hat – und das ist ja der Fall -, wieso soll es dann jetzt auf einmal gehen?
    Sippel: Na ja. Die alte Dublin-Reform sah ja anders aus. Die alte Dublin-Regulierung hat ja gesagt, da wo ein Flüchtling ankommt, muss dann das Asylverfahren stattfinden. Und wenn der Asylschutz gegeben wird, müssen die Menschen auch zunächst in diesen Ländern bleiben. Das heißt, die komplette Verantwortung lag und liegt derzeit dann auch auf den Staaten, die zufällig eine europäische Außengrenze haben.
    Das muss geändert werden. Das wurde zunächst insbesondere blockiert von Herrn Orbán. Inzwischen gibt es auch Bestrebungen der italienischen Regierung, die sich allein gelassen fühlen. Aber es kann nur gemeinsam funktionieren und deshalb muss die Dublin-Verordnung geändert werden. Übrigens geht es ja natürlich nicht nur um die Frage, wie gehen wir mit den Menschen um, die bei uns ankommen, sondern wir haben als Europäisches Parlament schon seit zwei Jahren einen Masterplan. Den könnten sich die Unions-Parteien auch einmal ansehen. Denn natürlich gehört auch dazu, dass wir in den Herkunftsländern, da wo Menschen zu uns kommen, die eine bessere Lebensperspektive suchen, dass wir da besser darüber informieren, wer tatsächlich Asylschutz bekommen kann, und dass wir, wo auch immer Bedarf besteht, natürlich auch Wege öffnen für legale Migration in unseren Arbeitsmarkt.
    "Das Prinzip der Einstimmigkeit muss nicht immer gelten"
    Armbrüster: Frau Sippel, das sind jetzt alles Vorschläge, die haben wir seit mehreren Jahren immer wieder gehört. Sie haben es angesprochen: Auch die Lösung einer gleichmäßigen Verteilung von Flüchtlingen innerhalb der EU ist immer wieder diskutiert worden, stößt immer wieder auf Gegenwehr innerhalb der Europäischen Union. Deshalb noch einmal die Frage: Warum soll das ausgerechnet jetzt funktionieren? Warum sollen sich die EU-Mitgliedsländer tatsächlich auf einmal zusammenraufen zu einer gemeinsamen Lösung, bei der alle mitmachen?
    Sippel: Zunächst einmal: Es gibt ja schon eine interne Verteilungsregelung, die nur langsam funktioniert, die aber funktioniert. Das war ein Verteilungsmechanismus, den wir 2016 beschlossen haben.
    Armbrüster: Moment! Und die funktioniert?
    Sippel: …, um die Länder an der Außengrenze zu entlasten. Da machen nicht alle mit, aber es machen viele mit. Ich glaube, wir haben jetzt eine neue Situation, wo deutlich wird, dass das reine Abschotten, das Dichtmachen von Grenzen keine Lösung darstellt – nicht für die Menschen, die auf der Flucht sind, aber auch nicht für die Mitgliedsstaaten, die nicht planen können, worauf sie sich einstellen müssen, und auch für die eigene Bevölkerung ist das ein unbefriedigender Zustand. Und ich glaube, niemand von uns möchte, dass wir zunehmend die Grenzen versuchen, dichtzumachen, Menschen trotzdem bei uns ankommen, und ich glaube, niemand möchte sich dann die nächsten Schritte überlegen. Und ich glaube, deshalb ist ein neuer Druck entstanden, sich zu einigen.
    Wenn ich auf die schon bestehenden Verteilungsbeschlüsse zurückkommen darf? Ja, da haben nicht alle Mitgliedsstaaten mitgemacht. Aber auch hier gilt, dass wir demokratische Grundprinzipien endlich einmal auch im Europäischen Rat einsetzen müssen. Das heißt, das Prinzip der Einstimmigkeit muss nicht immer gelten. Es würde auch reichen, wenn sich von den derzeit 28 Mitgliedsstaaten vielleicht 20 oder 24 auf einen solchen Weg einigen könnten. Damit wäre schon sehr viel gewonnen.
    Dazu kommt, dass derzeit die Kommission ja auch schon überlegt, Staaten, die sich an Vereinbarungen nicht halten – es gibt ja schon eine Art europäisches Asylsystem -, dass Staaten, die sich an solchen Dingen nicht beteiligen, dann auch möglicherweise finanzielle Mittel gekürzt werden. Denn Solidarität ist immer wechselseitig. Es ist ein Geben und Nehmen. Und wer nicht mitmacht, muss dann auch mit entsprechenden Reaktionen rechnen.
    "Langfristig kommen wir an einer gemeinsamen europäischen Lösung nicht vorbei"
    Armbrüster: Aber wenn da jetzt einige Staaten nicht mitmachen, wenn die sich da raushalten, dann ist ja eigentlich auch der Weg nicht mehr weit zu genau diesen bi- oder auch trilateralen Lösungen, bei denen zum Beispiel Deutschland einfach bestimmte Verträge mit ausgewählten anderen EU-Mitgliedsländern schließen würde, mit solchen Ländern, die sich darauf einlassen.
    Sippel: Noch einmal: Wir haben am 28., 29. Juni einen Rat, wo sich alle Mitgliedsstaaten treffen. Und ich denke, im ersten Schritt muss alles getan werden, damit bei diesem Rat eine große Gruppe, nicht zwei oder drei, sondern eine große Gruppe von Mitgliedsstaaten sich zusammenrauft und tatsächlich eine Lösung findet. Denn wenn wir erst damit anfangen, erst eine kleine Lösung zu finden mit zwei, drei Staaten, dann könnten sich andere wie Ungarn, wie Österreich vielleicht zurücklehnen und sagen, seht ihr, es geht ja auch ohne uns. Und deshalb: Der erste Versuch muss jetzt in einer zunehmend zugespitzten Situation sein, bei diesem Rat Ende Juni tatsächlich eine große gemeinsame Lösung zu finden, bevor wir uns zerspalten in kleine Lösungen, die kurzfristig möglicherweise funktionieren mögen, aber langfristig kommen wir an einer gemeinsamen europäischen Lösung nicht vorbei.
    Armbrüster: Ich habe das allerdings immer noch nicht verstanden. Warum sollte das nicht funktionieren und warum sollte das nicht gut sein auch für Deutschland?
    Sippel: Zunächst einmal ist ja die geltende Dublin-Verordnung gut für Deutschland, wenn sie denn jemals funktioniert hätte. Denn die geltende Regelung sagt: Da wo ein Flüchtling ankommt, wo ein Mensch um Hilfe bittet, da muss er bleiben.
    "Auch Deutschland hat sich der Solidarität in vergangenen"
    Armbrüster: Aber Sie sagen es genau, Frau Sippel: Wenn es funktioniert hätte. Es hat eben nicht funktioniert.
    Sippel: Es hat nicht funktioniert, aber Deutschland hat sich auch nie beklagt. Weil Deutschland wusste: Wenn wir uns darüber beklagen, müssen wir einen neuen Mechanismus einführen. Das heißt: Wenn wir uns über Ungarn beklagen, müssen wir auch selber eingestehen, wir selber haben es uns lange Zeit auch leicht gemacht und haben weggeguckt, dass Lösungen vielleicht nicht so perfekt funktionieren, wie wir uns das vorstellen. Deshalb noch mal: Auch Deutschland hat sich der Solidarität in vergangenen Jahren ein Stück weit entzogen, hat nicht klar gesagt, wo die gemeinsame Verantwortung ist. Deshalb: Jetzt ist es kurz vor zwölf. Wir müssen es jetzt noch einmal in einer gemeinsamen Anstrengung versuchen. Die geografische Lage eines Landes darf nicht dazu führen, dass wir uns unsolidarisch verhalten und sagen, da habt ihr jetzt Pech gehabt, kümmert ihr euch bitte um die Menschen, die in Not sind, wir halten uns da raus. Und deshalb noch mal: Es kann nur eine europäische Regelung geben.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.