Donnerstag, 28. März 2024

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Flüchtlingspolitik und die Türkei
"Sehr unglaubwürdige Politik der EU"

Die EU wolle Schutz für Flüchtlinge - sie selbst wolle ihnen aber keinen gewähren, meint Eckart Stratenschulte von der Europäischen Akademie Berlin. Stattdessen wolle Europa das Problem der Türkei aufbürden. Das sei zynisch und führe nicht dazu, dass die EU in ihrem internationalen Auftreten gestärkt werde, sagte Stratenschulte im DLF.

Eckart Stratenschulte im Gespräch mit Tobias Armbrüster | 09.02.2016
    Syrische Flüchtlingskinder warten an der Grenze zur Türkei hinter einem Zaun
    Syrische Flüchtlinge warten an der Grenze zur Türkei bei Kilis (AFP / Bulent Kilic)
    Tobias Armbrüster: In Deutschland und in ganz Europa wird seit Wochen so viel über Grenzsicherung, über Obergrenzen und Asylpakete diskutiert, dass man manchmal fast übersieht, dass es dabei tatsächlich um Menschen geht, und zwar um Menschen in extremster Notlage. Das wird jetzt aber wieder sehr deutlich angesichts der Bilder und der Informationen, die wir aus dem türkisch-syrischen Grenzgebiet bekommen: Tausende müssen dort seit Tagen warten, in improvisierten Zeltstädten, bei Minusgraden und bei Notrationen an Lebensmitteln. Es sind Flüchtlinge aus Aleppo. Die Stadt liegt zurzeit schwer unter Beschuss. Zehntausende sind deshalb auf der Flucht. Aber die Türkei lässt diese Menschen bislang zumindest nicht ins Land. Aus Europa kommt bereits massive Kritik an diesem Kurs. Die Debatte über Einreisebeschränkungen für Flüchtlinge geht allerdings auch bei uns in Deutschland weiter. Aus Berlin Gudula Geuther.
    (Beitrag von Gudula Geuther: Weiter Streit um Flüchtlingspolitik)
    Gudula Geuther berichtete aus Berlin, und am Telefon ist jetzt Eckart Stratenschulte von der Europäischen Akademie, European Academy in Berlin. Das ist ein Thinktank, der sich intensiv mit aktuellen europäischen Fragen beschäftigt. Schönen guten Tag, Herr Stratenschulte!
    Eckart Stratenschulte: Guten Tag, Herr Armbrüster!
    Armbrüster: Herr Stratenschulte, können europäische Politiker das wirklich machen, die eigenen Grenzen dicht halten und die ganze Zeit über Asylbeschränkungen diskutieren, aber von der Türkei fordern, dass die alle Flüchtlinge aus Syrien reinlässt?
    Stratenschulte: Dass sie es machen können, zeigt sich ja, aber das Verhalten ist natürlich sehr zynisch. Wir wollen Schutz für die Flüchtlinge, aber wir wollen ihnen gleichzeitig keinen Schutz gewähren und der Türkei das jetzt aufbürden, die ja schon weit über 2,5 Millionen Flüchtlinge bei sich beherbergt. Das ist eine sehr unglaubwürdige Politik, mit der die EU ihr internationales Auftreten natürlich nicht verstärkt.
    "Flüchtlinge haben natürlich völkerrechtlich einen Anspruch auf Schutz"
    Armbrüster: Ließe sich diese Position denn irgendwie begründen, politisch?
    Stratenschulte: Sie lässt sich daraus begründen, dass die Flüchtlinge natürlich völkerrechtlich einen Anspruch haben auf Schutz, und der Staat, der ihnen diesen Schutz gewähren kann, das ist der erste Staat, wo sie ankommen, das ist die Türkei. Insofern kann man sagen, völkerrechtlich ist die Forderung, die Türkei möge ihre Grenzen öffnen und die Flüchtlinge aufnehmen, gerechtfertigt, aber politisch ist sie schwer vermittelbar. Wenn wir, die reicheren Länder, die zusammengenommen ja viel größere Gemeinschaft, gleichzeitig sagen, aber behaltet die Flüchtlinge bitte, wir wollen damit dann im Weiteren, nichts zu tun haben.
    Armbrüster: Sie haben ja so etwas die gesamte Debatte in der Europäischen Union und in anderen europäischen Ländern auch im Blick – sehen Sie, dass sich da angesichts dieser aktuellen Situation etwas ändert, dass die Menschen möglicherweise auch in anderen Ländern einen Sinn dafür bekommen, dass offene Grenzen möglicherweise jetzt geboten wären und dass man diese Forderung nicht so ohne Weiteres an Ankara erheben kann, wenn man nicht selbst auch Flüchtlinge ins Land lässt?
    Stratenschulte: Die Bundeskanzlerin setzt ja offensichtlich auf diesen Lernprozess bei anderen europäischen Ländern. Ich glaube, der tritt auch ein. Die Frage ist nur, ob wir genug Zeit haben, das abzuwarten, bis er sich wirklich vollzogen hat. Es wird ja deutlich, dass die Grundlagen der europäischen Integration durch diese Krise im Augenblick zerstört werden. Schengen ist zurzeit zumindest Geschichte. Das wird auch den Binnenmarkt betreffen, das wird auch - darauf hat Juncker hingewiesen, der Kommissionspräsident - den Euro betreffen. Die Solidarität leidet sehr stark, und auch die Bundeskanzlerin spricht selbst von der Koalition der Willigen und sagt, wir müssen mit einer kleinen Gruppe vorangehen. Aber eines ist ja leicht voraussehbar: Die Koalition der Willigen in dieser Frage wird sicherlich in anderen Fragen, dann, wenn es um Strukturmittel geht und um andere Hilfen, zu einer Koalition der Unwilligen werden. Hier tritt eine Spaltung ein, die nur dadurch verhindert werden kann, dass die anderen europäischen Staaten in dieser Politik mitmachen, sich überhaupt dem Gespräch nicht verweigern. Das wirkliche Problem ist im Augenblick nicht, dass dieses Land oder jenes Land sagt, wir haben hier Sonderbedingungen, und da müsst ihr Rücksicht drauf nehmen, sondern dass eine ganze Reihe von Ländern sich dem Gespräch überhaupt verweigern.
    Armbrüster: Und sehen Sie da tatsächlich einen Lernprozess?
    Stratenschulte: Nun, ja, in kleinen Schritten. Die portugiesische Regierung hat jetzt beispielsweise gesagt, wir wollen auf keinen Fall, dass Schengen gefährdet wird, wir sind bereit, mehr Flüchtlinge aufzunehmen. Dann wird allerdings eine Zahl genannt von 4.600 pro Jahr, was natürlich nicht gerade sehr hilfreich ist. Aber man sieht, glaube ich, Schritt für Schritt den Zusammenhang jetzt, der zwischen der Lösung der Flüchtlingsfrage auf einer solidarischen europäischen Basis und anderen Errungenschaften der europäischen Integration besteht. Aber, wie gesagt, die Frage ist, haben wir die Zeit, diesen Lernprozess wirklich auszusitzen.
    "Die Gemeinschaft ist nur so stark wie der Wille zur Gemeinsamkeit"
    Armbrüster: Jetzt ist ja gestern, Herr Stratenschulte, die Bundeskanzlerin nach Ankara gereist. Wäre so eine Reise nicht eigentlich ein klassisches Betätigungsfeld gewesen für die Europäische Kommission oder zumindest für einen ranghohen Vertreter der EU?
    Stratenschulte: Die Gemeinschaft ist nur so stark wie der Wille zur Gemeinsamkeit. Und dieser Wille zur Gemeinsamkeit ist nicht da, und deshalb sind die europäischen Spitzenfiguren praktisch handlungsunfähig. Herr Tusk und Frau Mogherini können nicht nach Ankara fahren, weil sie dort nichts zu sagen haben, weil sie ja immer nur sprechen können, wenn die EU sie insgesamt unterstützt. Das führt dann dazu, wie übrigens schon in der Ukraine-Krise, dass einzelne Staatsfrauen und -männer diese Führungsfunktion übernehmen müssen, und das ist nach Maßgabe der Dinge sowohl in der Ukraine-Krise als auch jetzt in der Flüchtlingskrise die deutsche Bundeskanzlerin.
    Armbrüster: Wie wird das denn in Brüssel beobachtet? Ist das nicht ein Zeichen, dass vielen Sorge machen sollte, wenn Deutschland hier sozusagen – was ja ohnehin schon als mächtigstes Land in der Europäischen Union - noch weiteren Einfluss gewinnt?
    Stratenschulte: Alle verlangen nach deutscher Führung, aber keiner will von den Deutschen geführt werden. Ich glaube, so kann man die Situation in der Europäischen Union beschreiben. Auf der einen Seite sagt man, ihr seid doch groß und stark, ihr müsst vorangehen, ihr müsst das machen. Aber gleichzeitig sagt man auch, aber ihr dürft auch keinerlei Führungsfunktionen uns gegenüber ausüben. Und das ist ein Widerspruch, der vielleicht – und ich könnte mir vorstellen, dass die Kanzlerin das sehr klar sieht – durch eine solche Koalition der Willigen – früher hat man das Kerneuropa genannt – aufgebrochen werden kann, dass eben nicht Deutschland allein versucht, den Kurs vorzugeben, sondern in einer Gemeinschaft mit anderen Staaten, um genau diesen Eindruck, die Deutschen wollen Europa dominieren, abzufedern. Aber wenn die Bundeskanzlerin jetzt auch zu Hause geblieben wäre, was würde denn dann geschehen?
    Armbrüster: Ja, was würde dann geschehen?
    Stratenschulte: Dann würde gar nichts geschehen, und dann würden alle zarten Versuche, diese Krise irgendwie in den Griff zu kriegen, unterbleiben. Damit kann ja auch keiner zufrieden sein. Deswegen, da die europäischen Spitzenpersönlichkeiten nicht aktionsfähig sind, muss das aus den Nationalstaaten geschehen. Aber das ist natürlich die zweitbeste Lösung.
    "Die Türkei lässt sich ihre Haltung in der Flüchtlingskrise bezahlen"
    Armbrüster: Dann lassen Sie uns kurz über die Situation in der Türkei und in diesem Grenzgebiet sprechen. Wieso lässt Ankara die Grenzen denn eigentlich dicht, zumindest bislang. Wir hören ja jetzt, dass der türkische Premierminister gesagt hat, das soll nicht grundsätzlich dicht bleiben. Aber bislang müssen die Menschen dort ausharren in diesem Niemandsland. Ist der Grund dafür, dass das Land, die Türkei wirklich überfordert ist langsam, oder ist das auch ein Fingerzeig in Richtung EU, so nach dem Motto, wenn ihr eure Grenzen wirklich dichtmachen wollt in Europa, dann sind das, was ihr hier seht, die Konsequenzen?
    Stratenschulte: Die Türkei hat sich ja in den letzten Monaten vom politischen Paria zu einem zentralen Spieler entwickelt. Es wird ja ganz deutlich, auch durch die Besuche der Bundeskanzlerin, dass die Türkei jetzt wiederum zu einem wichtigen Partner geworden ist. Die Türkei lässt sich ihre Haltung in der Flüchtlingskrise bezahlen, und zwar nicht nur in Geld, sondern auch in Politik. Und um diese Bezahlung einfordern zu können, muss man natürlich auch die Instrumente zeigen, über die man verfügt. Ich glaube, es geht der Türkei jetzt nicht so sehr um diese 50.000 Menschen, die da vielleicht noch vor der Grenze stehen, sondern – die sie ja auch versorgt, aber auf syrischem Gebiet –, sondern es geht vor allem darum, zu zeigen, wir haben Druckmittel in der Hand, ihr müsst auf unseren Druck eingehen, und wenn ihr das nicht tut, dann können wir euch auch ärgern. Das heißt, die Flüchtlinge sind eigentlich die Spielmasse in diesem Machtspiel.
    Armbrüster: Aber mehr als finanzielle Zusagen hat Ankara ja bislang nicht bekommen.
    Stratenschulte: Nun ja, die Kritik an der Kurdenpolitik der Türkei ist weitestgehend verstummt. Die Bundeskanzlerin hat gestern in der Pressekonferenz noch gesagt, na ja, man hätte schon auch über kritische Themen gesprochen - also, die Türkei erbittet sich da Ruhe und bekommt die auch weitgehend. Die Türkei möchte eine stärkere Annäherung an die Europäische Union. Wir reden da über die Visumfreiheit, und auch das ist ja ganz offensichtlich jetzt in der intensiven Diskussion. Da gibt es schon auch einen politischen Preis, und vor allem - ich glaube, das ist auch Herrn Erdogan als Person sehr wichtig. Die Türkei ist wieder ein geachteter Partner und Mitspieler, wird mit allen Ehren überall empfangen und spielt damit die Rolle, die sie für sich als Regionalmacht sowieso sieht.
    Armbrüster: Eckart Stratenschulte war das von der Europäischen Akademie in Berlin. Vielen Dank, Herr Stratenschulte, für diese Einschätzungen!
    Stratenschulte: Bitte sehr! Wiederhören.
    Armbrüster: Wiederhören.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.