Archiv

Flüchtlingssituation an EU-Außengrenze
Europaabgeordneter Marquart: „Uns fehlt vor allem europäische Solidarität"

Der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko versucht die EU unter Druck zu setzen, indem er Flüchtlinge an deren Außengrenze schickt. Erpressbar sei die EU auf diese Weise nur deshalb, weil es weiter kein robustes europäisches Asylsystem gebe, sagte der Grüne EU-Parlamentarier Erik Marquardt im Dlf.

Erik Marquardt im Gespräch mit Josephine Schulz |
Flüchtlinge aus Afghanistan an der Grenze zwischen Belarus und Polen unter Beobachtung von polnischen Sicherheitskräften
Flüchtlinge an der Grenze zwischen Belarus und Polen unter Beobachtung von polnischen Sicherheitskräften (imago/Maciej Moskwa)
In den vergangenen Monaten haben tausende Migrantinnen und Migranten – überwiegend aus dem Nahen Osten – versucht, aus Belarus in die EU-Länder Polen, Lettland und Litauen zu gelangen. In der Europäischen Union geht man davon aus, dass die Flüchtlingsbewegung vom belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko gezielt gesteuert wird, um die EU unter Druck zu setzen. An der polnischen Grenze sitzen Migrantinnen und Migranten unter kritischen Bedingungen aus, mehrere Menschen sind dort bereits gestorben.
Wer die Schuld für die Zustände an der polnischen EU-Außengrenze trage, sei nicht zu einfach zu sagen, so die Meinung des Grünen Europaabgeordneten Erik Marquardt. Das Verhalten von Belarus und Lukaschenko sei unerhört. "Es geht nicht, dass man Menschen ausnutzt, um Druck zu erzeugen, um die Europäische Union zu erpressen", so Marquardt.
Kommentar: EU muss Druck und Lockungen Lukaschenkos widerstehen
Dass nach dem harten Urteil gegen die belarussische Oppositionspolitikerin Maria Kolesnikowa Protest im Land ausbleibt, bedeutet nicht, dass sich die Lage dort beruhigt hat, meint Florian Kellermann. Die EU muss solidarisch bleiben mit der Oppositionsbewegung gegen Lukaschenko.
Zugleich sei es beschämend wie der EU-Staat Polen mit der Situation umginge. Polen breche an der Grenze zu Belarus derzeit die Menschenrechte, sagte Marquardt. "Man kann nicht Menschen einfach sterben lassen und sich erpressen lassen in dem Sinne, dass man sagt: Uns ist es lieber, dass diese Menschen sterben als dass wir rechtsstaatlich mit dieser Situation umgehen." Damit erreiche Lukaschenko genau das, was er wolle, so Marquardt: "Nämlich zu zeigen, dass Europa selbst mit Menschenrechten nichts am Hut hat."
Jeder der Ankommenden habe grundsätzlich ein Recht auf einen Asylantrag, ein rechtstaatliches Verfahren und eine menschenwürdige Behandlung, auch wenn er zur Erpressung Europas an die Grenze geschickt worden sei, betonte der Europaabgeordnete. Die EU sende das Signal, dass man sich abschotten will und zeige damit, dass man "nicht in der Lage ist mit einer Zahl von wenigen tausenden Geflüchteten rechtsstaatlich umzugehen. Genau das sei der Grund, warum man sich so erpressbar macht.

Das Interview in voller Länge:
Josephine Schulz: Wir haben es gehört, es sind Menschen gestorben, andere harren dort unter übelsten Verhältnissen aus. Wer trägt dafür die Verantwortung beziehungsweise die Schuld?
Erik Marquardt: Das ist nicht so einfach zu sagen. Ich glaube, dass man auf jeden Fall festhalten muss, dass das Verhalten von Belarus, von Diktator Lukaschenko unerhört ist, das geht nicht, dass man Menschen ausnutzt, um Druck zu erzeugen, um die Europäische Union zu erpressen. Auf der anderen Seite ist es auch unerhört und aus meiner Sicht auch sehr beschämend, wie dann eben EU-Staaten wie Polen mit dieser Situation umgehen. Man kann nicht Menschen einfach sterben lassen und sich erpressen lassen in dem Sinne, dass man sagt, uns ist lieber, dass diese Menschen sterben, als dass wir rechtsstaatlich mit dieser Situation umgehen – dann hat Lukaschenko genau das erreicht, was er wollte, nämlich zu zeigen, dass Europa selbst mit Menschenrechten nichts am Hut hat.
Schulz: Aber lässt sich Polen nicht gerade nicht erpressen durch den Umgang damit?
Marquardt: Da müsste man wahrscheinlich am besten die Menschen fragen, die jetzt im Grenzgebiet sind, wo Menschen erfroren sind, weil man ihnen keine Unterkunft gegeben hat, wo Hilfsorganisationen keinen Zugang zu diesen Personen bekommen, wo es keine Menschenrechtsbeobachtung gibt, wo man einfach sehen kann, dass Menschen nicht mehr als Menschen behandelt werden.
Aufstand in Belarus - „Wir haben uns vor diesem Sommer nicht gekannt"
Nach Jahrzehnten der Passivität haben die Menschen in Belarus 2020 Staatschef Lukaschenko abgewählt. Doch dieser ließ die Wahlen fälschen und Demonstrationen niederknüppeln. Oppositionelle verfolgt er inzwischen nicht mehr nur im Inland.
Schulz: Also bricht Polen dort die Menschenrechte?
Marquardt: Ja, das ist eindeutig, Polen bricht dort die Menschenrechte, es ist nicht ganz einfach zu sagen, in welchem Umfang. Polen lässt ja keine unabhängige Menschenrechtsbeobachtung zu, Polen lässt nicht zu, dass Hilfsorganisationen dort Menschen helfen, die seit Tagen frierend im Dauerregen sitzen. Die Menschen sind nicht einfach so gestorben, weil sie mit dem Auto verunfallt sind. Sie sind dort erfroren, offenbar gibt es eine Person, die einen Herzinfarkt hatte, nachdem sie dort von den Behörden aufgegriffen wurde. Man geht dort mit den Menschen so um, dass man sagt, uns ist lieber, dass ihr sterbt, als dass ihr einen Asylantrag stellen könnt.

"Jede Person hat erst mal das Recht auf ein rechtsstaatliches Verfahren und eine menschenwürdige Behandlung"

Schulz: Von der EU-Kommission aus Brüssel hieß es, EU-Staaten müssten effektiv ihre Grenzen schützen, gleichzeitig müssten die Grundrechte respektiert werden. Ist das Kritik an Polen oder ist das auch Unterstützung?
Marquardt: Das ist vor allem erst mal eine Äußerung ohne Folge. Das erleben wir ja seit Jahren, wir haben das in Griechenland erlebt, wir erleben das in Kroatien, die EU-Kommission kann sich nicht hinstellen und einfach Pressekonferenzen halten. Man muss als Hüterin der Verträge, das ist ja die Aufgabe der EU-Kommission, EU-Recht dann auch durchsetzen.
Schulz: Was heißt das konkret in dieser Situation?
Marquardt: Das hieße konkret, dass natürlich Polen das Recht hat, zu kontrollieren, wer ist an diesen Außengrenzen, kann das organisieren. Aber das heißt eben auch, dass wenn man die Außengrenzen schützen will, dass man die Menschenrechte dort schützen will. Natürlich nicht so, dass jede Person das Recht hat, in Europa zu bleiben, wenn sie kommt, aber es ist so, dass jede Person erst mal das Recht auf ein rechtsstaatliches Verfahren und eine menschenwürdige Behandlung hat. Das muss man eben am Ende dann auch Menschen, die zur Erpressung Europas an die Grenze geschickt werden, zugestehen, ansonsten zeigt man der Weltgemeinschaft, dass das, was man von Europa immer behauptet, dass wir zu Rechtsstaatlichkeit, dass wir die Würde jedes einzelnen Menschen achten, in der Praxis nichts wert ist. Und es sind ja nicht Zehntausende oder Hunderttausende Menschen an den Außengrenzen bei Polen, sondern es sind wenige Tausend, die im August versucht haben, dort über die Grenze zu kommen. Dass man sich sofort in eine Krise begibt und sagt, wir lösen jetzt den Ausnahmezustand aus, das ist ja genau der Grund, warum es immer wieder solche, ja, Vorstöße, kann man sagen, von Diktatoren wie Lukaschenko gibt. Die wissen, Europa kann erpresst werden, wenn man nur einige wenige Schutzsuchende an die Grenze schickt.
Schulz: Auf der anderen Seite könnte man natürlich auch argumentieren, wenn man diese Menschen jetzt aufnimmt und versorgt, und sie dann wahrscheinlich auch erst mal in der EU bleiben, sendet man dann nicht möglicherweise ein Signal an andere Autokraten, dass die Strategie von Lukaschenko funktioniert?
Marquardt: Man hat ja in den letzten Jahren vor allem das Signal gesendet, dass man eben abschrecken will, dass man sich abschotten will, dass Europa nicht in der Lage ist, mit einer Zahl von wenigen Hunderttausend Geflüchteten, die regulär nach Europa kommen, rechtsstaatlich umzugehen. Genau das ist der Grund, warum man sich so erpressbar macht. Das haben wir in der Türkei oder an der griechisch-türkischen Grenze gesehen, wo man das Gefühl hat, dass 27 EU-Staaten zittern und Angst haben davor, dass einige Menschen mit Schlauchbooten auf den griechischen Inseln ankommen. Das waren aktive Menschenrechtsverletzungen und das gleiche passiert nun an der Außengrenze in Belarus, wenn man die Probleme nicht mehr rechtsstaatlich lösen will, sondern versucht, alles über Bord zu werfen, was man seit dem Zweiten Weltkrieg gelernt hat, dann muss man sich wirklich nicht wundern, wenn die Diktatoren das ausnutzen.
Kommentar: Nicht nur Litauen, auch die EU hat ein massives Problem
Litauen steht massiv unter Druck, weil Belarus Migranten über seine Grenze schleust. Das kleine Land am östlichen Rand der EU kann diese Krise nicht allein schultern, kommentiert Sofie Donges.
Schulz: Also Sie sagen, man sollte jetzt erst mal alle Menschen, die an der Grenze ankommen, die von Belarus dahin geschickt werden, aufnehmen und auf die Abschottungspolitik verzichten, dann würde Lukaschenko vielleicht irgendwann von selbst damit aufhören?
Marquardt: Es ist ja kein Meinungskampf, den wir jetzt eigentlich zwischen einzelnen Parteien oder politischen Positionen haben, sondern es ist einfach so, dass wir Gesetze haben, dass unser Grundsatz ist, dass wir diese Gesetze achten. Ich meine, ich bin selbst in einem Parlament, wenn irgendwann egal ist, welche Gesetze man hat, weil alle erst mal rufen, was sie für eine Meinung zu der aktuellen Situation haben, und man dann Kompromisse findet, dann können wir den Rechtsstaat auch irgendwie abschaffen. Wir brauchen Lösungen, die rechtsstaatlich sind, wir haben Gesetze, die heißen: Die Menschen haben das Anrecht auf einen Asylantrag. Und dann kann man eben auch schnell entscheiden, wer schutzbedürftig ist und wer nicht, aber man kann nicht einfach Menschen erfrieren und sterben lassen, weil man denkt, wir sind lieber heftig in Panik und lassen uns von einem Diktator eines kleinen Landes an der Grenze Europas so vorführen, dass wir wirklich alles über Bord werfen, was wir jemals gelernt haben.
Schulz: Die EU fordert jetzt von Polen, die Grenzschutzagentur Frontex an diese Grenze zu lassen. Ist das eine sinnvolle Forderung?
Marquardt: Das kann sinnvoll sein, Frontex kann dabei helfen, die Situation zu organisieren, Menschen zu identifizieren, zu registrieren und das wirklich einfach gut zu organisieren. Das muss eigentlich gar nicht so viel Aufmerksamkeit geben, dass wir jetzt hier im Interview sprechen, ist ja schon ein Erfolg von Lukaschenko, dass es so viele andere Interviews gibt darüber, ist noch ein anderer. Lukaschenko kann sich in eine Position bringen, wo man das Gefühl hat, er ist ein starker Mann, der darüber entscheidet, wie Europa …
Schulz: Also sollte man besser nicht darüber reden?
Marquardt: Na ja, man muss darüber reden, dass es diese Menschenrechtsverletzungen gibt, das ist ein großes Problem, man muss darüber reden, dass dort Menschen sterben, das ist ja auch der Anlasse, warum das jetzt viel Aufmerksamkeit bekommt. Aber man sollte eben nicht darüber reden, dass jeder Diktator auf der Welt offenbar einfach fünf Schlauchboote aufblasen kann oder einige Flugzeuge aus dem Irak holen kann, um Menschen an die Grenze zu schicken, und alle sind in heller Panik und rufen den Ausnahmezustand ein. Dann begibt man sich in eine auch geopolitisch sehr schwache Position, wenn man nicht für oder gegen Migration ist, was auch immer, muss man sich auch die geopolitische Dimension dieser Situation angucken. Man hat keine starke Position, wenn man nicht damit umgehen kann, dass einige Tausend Menschen nach Europa fliehen. Da fehlt uns einfach ein robustes europäisches Asylsystem und vor allem europäische Solidarität, man darf die Staaten an den Außengrenzen, auch Polen da eigentlich nicht alleine lassen, man kann aber auch von ihnen erwarten, dass sie – wie gesagt – Probleme rechtsstaatlich lösen.

Polen in dieser Situation nicht alleine lassen

Schulz: Wenn Polen das jetzt nicht macht, wenn auch Polen weiterhin Frontex nicht an die Grenze lassen will, welche Hebel hat die EU denn überhaupt gegenüber Polen in dieser Situation?
Marquardt: Man kann ein Vertragsverletzungsverfahren durchführen, man kann …
Schulz: Aber da gibt es ja schon eins gegen Polen, das hat ja nicht so viel gebracht in der Vergangenheit.
Marquardt: Genau, man kann eben dann dafür sorgen, dass EU-Recht dort möglichst eingehalten wird, man hat in der Vergangenheit dann zum Beispiel darauf verzichtet, dass Polen strafen muss, das ist jetzt vielleicht etwas zu kompliziert. Aber man könnte dort die Hebel etwas stärker anziehen, man kann aber vor allem sagen, dass man Polen nicht alleine lässt in dieser Situation, es ist ja nicht schwarz-weiß, man kann eben auch als Mitgliedsstaat wie Deutschland sagen, okay, wir unterstützen Polen jetzt in dieser akuten Situation, es fängt jetzt der Winter an, bevor dort Hunderte Menschen sterben, dann nehmen wir eben einige auf. Dann nehmen noch andere Staaten einige Personen auf, die dann ihre Asylanträge stellen können, dann prüft man rechtsstaatlich, wer ist schutzbedürftig und wer ist nicht schutzbedürftig und nutzt eben die Stärke, die die Europäische Union haben sollte.
Schulz: Aber setzt sich Polen dann nicht durch mit seiner Haltung, wenn am Ende wieder Länder wie Deutschland und Frankreich die Menschen aufnehmen?
Marquardt: Es ist so, dass sich am Ende die Unmenschlichkeit und das Unrecht durchsetzt, wenn man jetzt keine Situation findet … Man kann ja nicht einfach jetzt Polen erpressen und sagen, entweder haltet ihr die Menschenrechte ein oder die Menschen sterben, das funktioniert so nicht. Es geht dort um Menschenleben, wirklich viele Menschen, die dort akut vom Tod bedroht sind. Ich würde mir wünschen, dass man wieder die Menschen in den Fokus setzt bei der Asylpolitik – und nicht irgendwelche geopolitischen Interessen oder wer jetzt gerade am stärkeren Hebel sitzt.
Schulz: Die EU kann sich immer noch nicht auf eine gemeinsame Flüchtlingspolitik einigen – im Grunde setzt also Polen dort den einzigen gemeinsamen Nenner durch: Abschottung. Oder?
Marquardt: Man lässt sich dort in dem Sinne auch eine Politik von Polen aufzwingen. Polen lässt sich eine Politik von Belarus aufzwingen, das macht am Ende eigentlich, das muss man sagen, wirklich keinen Sinn, sich nur auf einzelne Staaten der EU zu beziehen und zu sagen, gegen den haben wir keine gemeinsame Politik. Jetzt müssen einige Staaten vorangehen und zeigen, dass man Asylpolitik rechtsstaatlich organisieren kann.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.