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Flüchtlingstragödien
"Deutschland ist nicht ausländerfeindlich"

Der Mehrheit der Deutschen habe Verständnis für die Situation der Flüchtlinge, sagte der Präsident des Deutschen Roten Kreuzes, Rudolf Seiters, im DLF. Die Hilfsbereitschaft der Menschen übersteige die blinden Hassattacken wie in Heidenau. Allerdings sieht der DRK-Präsident ein Versagen der Politik auf ganzer Linie: "Wir brauchen eine europäische Antwort auf die Flüchtlingsfrage."

Rudolf Seiters im Gespräch mit Christine Heuer | 29.08.2015
    DRK-Präsident Rudolf Seiters spricht am 31.10.2013 in der Liederhalle in Stuttgart (Baden-Württemberg) beim Festakt zum 150-jährigen Bestehen des Deutschen Roten Kreuzes (DRK).
    DRK-Präsident Rudolf Seiters (dpa / picture-alliance / Marijan Murat)
    Die meisten Menschen in Deutschland seien nicht ausländerfeindlich, sagte der Präsident des Deutschen Roten Kreuzes, Rudolf Seiters, im Deutschlandfunk. 160 Notunterkünfte betreue die Hilfsorganisation in Deutschland. "Was wir da an Hilfsbereitschaft erleben", sei enorm, so Seiters. Die Fokussierung der Medien auf die "vorhandene hässliche Seite" wie die Krawalle in Heidenau, verzerrten das Bild in der Öffentlichkeit. Nichtsdestotrotz müsse sich Deutschland diesem Rechtsradikalismus stellen.
    Seiters hat aber Versäumnisse in der europäischen Asylpolitik angeprangert. "Wir brauchen eine europäische Antwort auf die Flüchtlingsfrage", forderte der Präsident des Deutschen Roten Kreuzes. Die Absage der Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) an einen gemeinsamen europäischen Flüchtlingsgipfel kann er vor diesem Hintergrund nicht nachvollziehen. Es fehle vor allem ein Notprogramm für die Länder an den EU-Außengrenzen, sagte Seiters. Außerdem gebe es weder eine Einigung zum Thema Drittstaaten noch über eine Quotenregelung zur Verteilung der Flüchtlinge. Es könne nicht sein, dass der große Zustrom von Flüchtlingen in erster Linie von Deutschland, Österreich und Schweden aufgefangen werde. Die Forderung von UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon nach einer gemeinsamen politischen Antwort könne auch als Signal an Europa verstanden werden, betonte der DRK-Präsident.

    Das Interview in voller Länge:
    Christine Heuer: Im sächsischen Heidenau treffen Flüchtlinge nicht nur auf Ressentiments und Anfeindungen jeder Art, sie finden auch Hilfe. Das Deutsche Rote Kreuz betreut die Menschen in der Notunterkunft, vor der sich die rechten Randalierer letztes Wochenende versammelten, um diejenigen fertigzumachen, die besonders unserer Hilfe bedürfen, und die Polizisten gleich mit zu vermöbeln, die diese Menschen beschützen sollten. Rudolf Seiters ist der Präsident des Deutschen Roten Kreuzes, Anfang der 90er-Jahre - da brannte es in Hoyerswerda zum Beispiel und in Rostock-Lichtenhagen -, da war er Bundesinnenminister. Jetzt ist er am Telefon, guten Morgen, Herr Seiters!
    Rudolf Seiters: Guten Morgen!
    Heuer: Sie waren diese Woche nach den Ausschreitungen vom Wochenende mit Angela Merkel zusammen in Heidenau, da hat es wieder Proteste gegeben - wie haben Sie die erlebt?
    Seiters: Also das Wichtige war vor allem der ausgesprochen freundliche Empfang bei den 600 Flüchtlingen. Es gab viel Applaus, es gab viele Gespräche, ich hatte wirklich das Gefühl, dass die Menschen dort dankbar sind, hier zu sein und eine solche Aufnahme in dieser Unterkunft gefunden zu haben und betreut zu sein vom Deutschen Roten Kreuz, vom THW und von anderen Personen, die ehrenamtlich sich engagieren. Anders war natürlich die zum Teil widerliche Aggression bei den 200 Demonstranten draußen. Das sind dann Bilder, die in die Wohnungen hineingehen und ein Bild vermitteln, als wäre Deutschland ausländerfeindlich. Die Wirklichkeit sieht ganz anders aus, denn die ganz überwiegende Mehrheit der Menschen, mit denen wir zusammenkommen, hat Verständnis und Hilfsbereitschaft für Menschen, die politisch verfolgt sind oder die aus diesen schrecklichen Kriegen und Bürgerkriegsregionen kommen. Wir betreuen 160 Unterkünfte bundesweit in Deutschland mit 7.000 ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern, und sie berichten uns aus den Ländern, dass viele Menschen auf sie zukommen, die ihnen Mut zusprechen, oder auch ungebundene Helfer, die sonst mit dem Roten Kreuz gar nichts zu tun haben, die einfach fragen, können wir helfen, bei der Sprache vermitteln oder auch sonst.
    Heuer: Wir müssen leider trotzdem noch mal bei der hässlichen Seite kurz bleiben, Herr Seiters. In Heidenau gab es ja auch Angriffe gegen eben Rot-Kreuz-Helfer - machen Sie sich da auch ein bisschen Sorgen um Ihre eigenen Mitarbeiter?
    Seiters: Ja, erstens ist das beschämend, wenn man Menschen angreift, die anderen Menschen ja nur helfen wollen, also menschlich sein wollen. Und dann fragen wir uns auch, wie wirkt das auf vielleicht junge Frauen oder junge Männer, die beschimpft werden oder auch, wie das ja in zwei Fällen geschehen ist, auch tätlich angegriffen werden. Wir betreuen sie, unsere Helfer werden auch vorbereitet auf solche Einsätze, auch psychologisch betreut, also ich glaube schon, dass da keine bleibenden Schäden entstehen, aber es ist schon schade, dass so etwas passiert.
    "Wir brauchen eine europäische Antwort"
    Heuer: Als Sie Bundesinnenminister waren, da gab es eben Krawalle, zum Beispiel in Hoyerswerda. Man muss auch sagen, das gab es nicht nur in Ostdeutschland, aber doch auch viel in Ostdeutschland. Haben die Menschen dort nichts dazugelernt?
    Seiters: Die Zeit Anfang der 90er-Jahre war in der Tat mit den Anschlägen traurig und dramatisch, und wie gesagt, nicht nur in Ostdeutschland, sondern auch gab es ja einen Angriff mit tödlichem Ausgang in Solingen, also in Westdeutschland. Wir haben damals alles getan, um solche Auswüchse zu verhindern. Ich sehe die Situation in Deutschland im Augenblick ein Stück weit anders. Damals war die deutsche Bevölkerung nicht vorbereitet darauf, dass in einem Jahr 50.000, dann 100.000, dann 200.000 und dann 440.000 Menschen gekommen sind im Jahre 92 und wir damals mit dem Asylkompromiss gemeinsam mit der SPD reagieren mussten. Das hat ja auch dann geholfen, die Zahlen gingen zurück. Heute gibt es verachtenswerte Vorgänge auch, aber nicht in dem Ausmaß, wie das damals der Fall war. Und wie gesagt, die Hilfsbereitschaft, wie alle Umfragen zeigen, in der Bevölkerung ist sehr, sehr groß. Wir differenzieren zwischen den Menschen, die wirklich verfolgt werden, die aus Kriegen und Bürgerkriegen kommen, und denen, die aus durchaus verständlichen Gründen, aber eben nicht aus Asylgründen kommen, sondern aus wirtschaftlichen und sozialen. Deswegen brauchen wir ja eine differenzierte und unterschiedliche Antwort darauf. Wir brauchen eine europäische Antwort und ein europäisches Management zur Lösung oder Milderung der Flüchtlingsfrage. Wir brauchen europäische Solidarität, es fehlt an einer Verständigung in Sachen Drittstaaten, es gibt keine Einigung über eine faire Quotenregelung und es gibt auch kein Notprogramm für diejenigen europäischen Länder, die an der Schengengrenze mit dem Zustrom von Flüchtlingen total überfordert sind. Vor diesem Hintergrund sind die beiden angekündigten Flüchtlingsgipfel in Europa und in Deutschland zwingend notwendig und sie sollten so schnell wie möglich stattfinden.
    Heuer: Ja, nun hat Angela Merkel aber gerade eben gesagt, es gebe derzeit gar keine Notwendigkeit für einen EU-Gipfel zur Flüchtlingspolitik. Haben Sie da irgendwie Verständnis für?
    Seiters: Es gab ja auch eine gemeinsame Haltung, allerdings bei dem Westbalkangipfel in Wien, wo Österreich und Deutschland und andere Staaten ja auch gesagt haben, Europa muss handeln. Es kann ja nicht sein, dass dieser Zustrom von Flüchtlingen in erster Linie aufgefangen wird in Deutschland, in Österreich und in Schweden und andere Länder sich heraushalten. Ich nenne das jedenfalls ein Stück weit unhistorischen Egoismus, und ich bleibe dabei ... Ich glaube auch, dass Angela Merkel nicht so zu verstehen ist, dass sie keine europäische Gemeinschaftsleistung haben will, es geht vielleicht auch um den Zeitpunkt. Grundsätzlich müssen wir in Deutschland handeln, und da ist es ganz wichtig, unter Zurückstellung aller parteipolitischen Meinungsverschiedenheiten in der einen oder anderen Frage, gemeinsames Handeln von Bund, Ländern und Gemeinden ganz schnell und dies den Menschen in Deutschland zu versichern, wir ziehen hier alle an einem Strang, um diese Probleme zu lösen.
    Heuer: Herr Seiters, jetzt möchte ich aber doch noch mal ganz kurz bei der EU bleiben, weil Sie es ja auch so ausführlich angesprochen haben: Klar, es gibt eine Ungleichverteilung, und es wird darüber lamentiert, und die Innenminister der EU, die treffen sich alle paar Wochen und müssen sich wieder vertagen. Wie kann es sein, dass in einer entscheidenden Frage wie dieser Flüchtlingskrise - Angela Merkel definiert dieses Thema ja auch so -, wie kann es sein, dass Deutschland als führende Kraft in der EU da keine Lösung hinbekommt?
    Seiters: Ja, ich kann mich nur erinnern an die Jahre 92/93, da war ich auf einem Gipfel, da bestand die Europäische Gemeinschaft aus zwölf Staaten, da hatten wir auch den größten Zustrom von Asylsuchenden und Flüchtlingen, und ich habe damals den Antrag gestellt und auch begründet, gut begründet, dass wir zu einer gewissen fairen Quotenverteilung kommen. Die Abstimmung war eins zu elf. Das heißt also, schon damals war die Solidarität in einer Gemeinschaft, die ja eigentlich eine Wertegemeinschaft sein will, nicht besonders ausgeprägt. Und so etwas kann man auch jetzt in dieser gegenwärtigen Situation nicht erzwingen, ich hoffe aber doch, dass die Realitäten jetzt dazu führen, dass man europäische Antworten gibt. Und wenn ich denke, dass selbst der UNO-Generalsekretär jetzt einen ...
    Heuer: Genau darauf wollte ich gerade zu sprechen kommen.
    Seiters: ... Flüchtlingsgipfel fordert, ist das doch auch ein Signal an Europa: Nun einigt euch auf ein Programm, das wirklich trifft.
    Heuer: Ban Ki Moon, Herr Seiters, hat ja auch gefordert, den Zuzug von Flüchtlingen nach Europa zu legalisieren, schon um den Schleppern das Handwerk zu legen. Sind Sie auch dafür?
    Seiters: Also das DRK hat seit Langem gesagt, dass wir auch suchen müssen nach sicheren und legalen Zugangswegen für Schutzsuchende nach Europa, damit eine lebensgefährliche Flucht über die Meere nicht die einzige Fluchtmöglichkeit bleibt. Ich weiß, dass das eine schwierige, unter Umständen schwierige Situation ist, denn der Vorschlag zum Beispiel, in Libyen Einrichtungen zu schaffen, Asyleinrichtungen zu schaffen, von wo aus dann die Anträge gestellt werden können, ist ja bei der kriegerischen Situation und bei der militärischen, bei der Situation in Libyen nicht ganz einfach. Wie weit man hier die deutschen Botschaften einschalten kann, das muss geprüft werden, aber ich glaube, die Zielsetzung ist richtig.
    Heuer: Die Grünen fordern ja jetzt zum Beispiel, Syrern grundsätzlich das Asylverfahren zu ersparen, weil eindeutig ist, dass diese Menschen gute Fluchtgründe haben. Das wäre ja auch schon mal ein erster Schritt, zu sagen, wenigstens die können legal kommen. Sind Sie dafür?
    Seiters: Ich hab ja auch gehört, was Ministerpräsident Kretschmann zu dieser Frage gesagt hat, dass er trennen will zwischen denen, die aus Syrien, aus Kriegsgebieten kommen, und denen, die aus dem Westbalkan kommen. Also das müsste organisatorisch regelbar sein, dass wir ganz schnelle Verfahren haben mit Blick auf Menschen, die aus sicheren Drittstaaten kommen, auf der einen Seite, aber dann auch schnelle Verfahren - das wird auch teilweise schon angewandt -, was die Syrer anbetrifft.
    "Es ist ganz wichtig, die Menschen von Anfang an zu betreuen"
    Heuer: Jetzt sind Sie ja Präsident des Deutschen Roten Kreuzes, ich möchte mit Ihnen noch kurz über die Flüchtlinge sprechen - also wirklich über die Flüchtlinge, nicht darum, wie man mit denen umgeht. Wenn jemand aus Eritrea oder aus Syrien nach Europa kommt und hier anlandet, in welchem Zustand ist er dann?
    Seiters: Ja, wir erleben da, wir sehen, dass es viele menschliche Tragödien gibt und dass es ganz wichtig ist, die Menschen von Anfang an zu betreuen, und das geschieht auch bei uns. Wir haben bundesweit in allen unseren Kreisverbänden versucht, bei den Erstaufnahme- und Gemeinschaftsunterkünften die Flüchtlinge zu betreuen. Wir haben Flüchtlingsberatungsstellen, wir haben bundesweit 80 Migrationsberatungsstellen für Zuwanderer und vier Jugendmigrationsdienste sind für alle Migranten eingerichtet. Wir haben einen Suchdienst, der mit den Menschen spricht, die von Familienangehörigen getrennt sind, und denen wir dann mit unserem erfahrenen Suchdienst helfen. Wir sind eine Organisation mit 400.000 aktiven ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern. Wir sind erprobt im Ausland und auch im Inland, was die Frage von Flüchtlingen anbetrifft. Wir können nicht alles leisten, aber einen wichtigen Beitrag leisten wir schon für einen menschlichen und humanitären Umgang mit Flüchtlingen.
    "Wir haben eine sehr, sehr große Unterstützung von Auswärtigen Amt"
    Heuer: Herr Seiters, ganz kurz zum Schluss: Fühlen Sie sich dabei genug unterstützt von der deutschen Regierung?
    Seiters: Wir haben eine sehr, sehr große Unterstützung von Auswärtigen Amt, wir haben, wenn ich die Zahl richtig in Erinnerung habe, in den letzten zwei Jahren, glaube ich, den Syrischen Roten Halbmond mit 45 Millionen Euro unterstützt im ganzen Lande, also auch in allen Gebieten. Der Rote Halbmond hat 45 Helfer schon im ehrenamtlichen Einsatz verloren. Wir helfen dort, wir haben Delegierte nicht nur in Damaskus, sondern auch im Libanon und in anderen Bereichen. Wir haben jetzt die Unterstützung bekommen, auch vom Auswärtigen Amt, um auf der Insel Lesbos und in Attika 20.000, 19.000 Flüchtlinge zu versorgen mit großen Hygienepaketen, um auch die Ausbreitung von Krankheiten zu verhindern, und jetzt auch die Zusage, dass wir mit mehreren 100.000 Euro in Mazedonien tätig werden können.
    Heuer: Rudolf Seiters, Präsident des Deutschen Roten Kreuzes. Vielen Dank für das Gespräch heute Morgen, Herr Seiters!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.